Horror vor dem Himmelstor
Regelmässig erreichen uns Geschichten, Texte und Zuschriften unserer Leserinnen und Leser. Diese wollen wir Ihnen nicht vorenthalten. Heute: Ein Albtraum von Susan Kunz.
Guten sonnigen Tag der (dem) Lesenden
Ihre neue Rubrik interessiert mich (81, weiblich). Nachdem ich mit 72 Jahren das Heimstudium «Hohe Schule des Schreibens» an der Akademie Hamburg absolvierte – Malen und Schreiben begleiten mich schon seit Jahrzehnten –, summierten sich die vielen Texte. Nun platzt mein dicker Ordner mit «Lebenserfahrung» bald aus allen Nähten. Mir schwebte immer vor, in einem Heft eine Ecke zu bekommen, um mit meinen Texten Leserinnen und Lesern den Alltag zu versüssen. Oder sie nachdenklich zu stimmen. So wie mit der Geschichte im Anhang.
Freundliche Grüsse,
Susan Kunz
Ich altes Weib sitze nachts um ein Uhr in meinem Auto und kurve durch die stockdunkle Winternacht. Spät ist es geworden bei der Geburtstagsfeier meiner 80-jährigen Freundin. Alles nervt, der prasselnde Schneeregen, die beissende Kälte, Waschküchenfeeling im Auto, die Heizung voll aufgedreht. Das Scheibenputzen ist erfolglos, macht nur noch müder. Radau hält wach, Musik aufdrehen, in einer halben Stunde krieche ich in mein Bett. Der Scheinwerfer frisst sich durch die neblige Dunkelheit und bleibt an einer riesigen Wand hängen. Mein Gott, die Wand kommt immer näher und näher – dann Leere!
Wo bin ich? Mein Kopf ist benebelt, mein Bein schmerzt!
Da, da ist sie wieder, die schwarze Wand. Ein Monstergefährt mit vier Rädern, dass sich langsam, begleitet von heulender Musik, durch eine triste Einöde schiebt, ich meine sogar, die verfaulten Pflanzen riechen zu können. Ich muss die Wand wegschaffen, will sehen, wer das Gefährt in Bewegung setzt. Aus Leibeskräften schiebe ich beidhändig, während ein Wesen ächzend daran zerrt. So verfrachten wir das Ungetüm Meter um Meter einem unbekannten Ziel entgegen. Trotz Eiseskälte rinnt mir der Schweiss über die Wangen. Ich kann mich seitlich an den Rädern vorbei nach vorne zwängen. Ein herzergreifendes Schluchzen kommt näher …
Ich friere entsetzlich, will meinen Mantel auf dem Beifahrersitz ergreifen, tappe in etwas Nasses, Kaltes. Aua! Mein Bein schmerzt, alles ist verschwommen.
Wo bin ich?
Leise schleiche ich zum schlotternden Wesen, will schreien, bringe aber keinen Ton heraus. Sachte klopfe ich dieser Jammergestalt auf die Schulter. Sie zuckt zusammen, mir bleibt der Atem weg. Leise hauche ich:
«Wer bist du? Was machst du da?»
Die aus der Kapuze herausgewürgten Worte bringen mich ganz aus der Fassung:
«Madele, mein Madele, bist du gekommen?»
Ich schlucke. Was hat diese Stimme gesagt? Madele! Nur ein Mensch in meinem Leben hat mich so genannt: mein heissgeliebtes Mutti, das vor 22 Jahren gestorben ist.
«Mutti, Mutti bist du es? Was ums Himmels Willen tust du da?»
«Mein Madele, ich muss hier büssen. Ich habe dir schon als siebenjähriges Mädchen zu viele Lasten aufgebürdet, derweil ich Tag- und Nachtschichten in der Fabrik übernahm, um unsere Familie über die Runden zu bringen. Dann gebar ich noch deinen Bruder Leo, den fuhrst du auf deinem Velo, Sommer und Winter, von der Schule zu einer Pflegemutter. Zusammen habt ihr schon auf dem Weg dahin geschluchzt. Sein erbarmungswürdiges Schreien bei der Übergabe «Susi, Susi nimm mich wieder mit!», hat deine Seele zerschunden.
Im Winter bist du einmal mit ihm gestürzt. Zerkratzt an Armen und Beinen, mit aufgeschwollenem Gesicht, kamst du zu spät zur Schule. Der Lehrer wollte die Wahrheit wissen. Madele, es war schrecklich! Zwei Tage später stand dein Lehrer vor unserer Türe und wollte dich mir wegnehmen, die Gemeinde hätte dies verordnet. «Mutti, Mutti, bitte lass mich bei dir, es macht mir nichts aus, arbeiten zu müssen! Nie wieder erzähle ich jemandem etwas», hast du geschrien. Der Lehrer hatte ein Einsehen.
Madele, es tut so weh, deinen älteren Bruder hast du sehr vermisst, den musste ich, als Neunjährigen, bei einem Bauern verdingen. Mit harter Arbeit verdiente er das Gemüse für unsere Familie. Wegen dem langen Schulweg zum Hof, der abendlichen Schufterei, konnte er nur einmal im Monat nach Hause kommen. Euer Vater ging selten einer Arbeit nach, er war als Tagelöhner beschäftigt – oder als erfolgloser Erfinder. Selten verdiente er etwas, er hatte nie Geld. Oft steckte ich, seine Frau, ihm ein paar Franken zu, damit er sich mit seinen Kumpels vergnügen konnte.
Madele, was hab ich getan? Ich liess dafür meine Kinder schuften! Niemals liess es mein Stolz zu, bei der Gemeinde um Hilfe zu bitten. Das Schlimmste war, dass du, mein Madele, noch über Jahre das Schreien deines kleinen Bruders, Nacht für Nacht, ertragen musstest. Dies, mein Madele, hat dich sehr geprägt. Ahnungslos nahm ich deinen inneren Kampf wahr, bis du mir davon erzählt hast. Erst, als du deinen eigenen kleinen Sohn im Arm hieltest, kam die Sonne wieder in dein Gesicht zurück.
Meine grosse Schuld muss ich hier abbüssen! Mir wurde versprochen, wenn du, Madele, mir irgendwann helfen würdest, meine auf Herz und Seele liegende Last mitzutragen, würde mir das Himmelstor geöffnet …»
Spricht da jemand? Im Nebel, erkenne ich eine über mich gebeugte Gestalt, die mein Augenlid hebt und ruft:
«Hallo, hallo! Sind Sie wach?»
«Wo bin ich und wo ist mein Mutti?»
«Sie sind im Spital! Sie hatten einen Autounfall, zusammengestossen mit einem Lastwagen. Ein wunderbarer Schutzengel muss sie begleitet haben, wenn man bedenkt, dass ihr Auto schrottreif ist. Haben sie Schmerzen?»
«Nein.»
«Eigentlich sehen sie sehr glücklich aus.»
«Augen zu.»
Ich bin glücklich! Wenn man bedenkt, dass mein geliebtes Mutti in diesem Moment durch das Himmelstor schlüpft …
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