Erkenntnisse eines Pensionisten

Regelmässig erreichen uns Geschichten, Texte und Zuschriften unserer Leserinnen und Leser. Diese wollen wir Ihnen nicht vorenthalten. Heute: Über die Freuden der Pensionierung von Peter Lather.

Liebe Zeitlupe Redaktion

In einem Schreibkurs ist der angehängte Text entstanden, den ich Ihnen zur eventuellen Veröffentlichung (oder vielleicht auch zur kritischen Beurteilung) zuschicken möchte. Ich bin kein Journalist und auch sonst kein Schreiber; ich bin ein seit kurzem pensionierter Psychoanalytiker bzw. analytischer Psychologe, was die Berufsbezeichnung von uns Jungianern ist. Schreiben hat mich schon immer fasziniert und ich möchte das jetzt als etwas bisher Liegengelassenes aufgreifen.

Mit freundlichen Grüssen
Peter Lather


Über die «Freuden» der Pensionierung

«Mit Eintritt in den Ruhestand beginnt die Zeit, in der du das machen kannst, worauf du schon immer Lust hattest.» So tönte das, zusammen mit herzlichen Glückwünschen zur Pensionierung und einem Loblied auf die Musse.  

Erkenntnisse überfallen einen manchmal gewalttätig, und haben wenig mit Lust zu tun.

Erste Erkenntnis: Ferien sind nur Ferien, wenn ich sonst arbeite. Ausschlafen ist nur toll, wenn ich sonst früh aufstehen muss. Musse ist erholsam, wenn ich sonst Stress habe. Alles was in beliebiger Menge vorhanden ist verliert seinen Reiz. Kannst du dich an das Prickeln erinnern, als die erste E-Mail auf deinem Computer erschien? Und heute? 

Zweite Erkenntnis: Berufsalltag ist mit dem Leben in einer Blase verbunden. Wenn ich den Berufsalltag verlasse, verlasse ich auch diese Blase. Ich suche nach den Fäden, die in der Vergangenheit liegengeblieben sind und die ich vielleicht wieder aufnehmen könnte. Damit trete ich in neue Blasen ein. Hier herrschen andere Regeln, eine andere Sprache wird gesprochen. Erschreckende Erkenntnis: ich werde nicht mehr richtig verstanden und verstehe meine Mitmenschen nicht mehr. Babylonische Sprachverwirrung also: Gott straft mich für die Überheblichkeit meines satten Berufsegos, das sich in 40-jähriger engagierter Berufspraxis herausgebildet hat. Mein Turm soll nicht bis in den Himmel wachsen. Da helfen wohl nur Sprachkurse.

Daraus folgt die dritte Erkenntnis: Pensionierung ist einer der grossen Übergänge im Leben. Übergang heisst: etwas Altes stirbt, es folgt eine Zwischenphase. Das Neue ist noch nicht geboren, aber unausweichlich wie die Geburt am Ende der Schwangerschaft. Noch ist unklar, wie das Kind, das geboren werden will, aussehen wird. Dieses Dazwischen ist eine kreative Zeit, aber auch eine Zeit der Unsicherheit, des Vortastens, und auch des Irrtums. Ruhestand hat mit Ruhe wenig zu tun. 

Stattdessen drängen sich mir unangenehme Bilder auf: Grauhaarige Wandervögel in den Bergen, Hobbykochzirkel die gerade die Nouvelle Cuisine neu erfunden haben, bierbäuchige Schrebergartenbetreiber. Nichts davon will mir gefallen. Aber die Beantwortung der Frage «was nicht?» ist keine Antwort auf die Frage «was nun?».  Das heisst: Aushalten von Unsicherheit und Aufgreifen von liegengelassenen Fäden im Leben, noch einmal Neustart. 

Also: Herzliche Gratulation Peter Lather zur Pensionierung. Und viel Mut!

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Beitrag vom 30.05.2022

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