Wie ich zu meinen Flügeln kam

Regelmässig erreichen uns Geschichten, Texte und Zuschriften unserer Leserinnen und Leser. Diese wollen wir Ihnen nicht vorenthalten. Heute: Ruth Schär Asomah verarbeitet ihre Tätigkeit in der Pflege mit einer Geschichte.

Liebes Zeitlupe-Team

Ich habe den Text 2014 geschrieben. Kurz nach meiner Pensionierung. Ich arbeitete über 20 Jahre als Pflegefachfrau. Für mich ist diese Geschichte wie eine Verarbeitung meiner Tätigkeit in der Pflege.

Danke für die Möglichkeit, es anderen zugänglich zu machen und freundliche Grüsse,

Ruth Schär Asomah


Im Moment sitze ich gemütlich in Ruths Stube, mit Aussicht auf den Rhein und die Wolken am Himmel. Als Ruth mich vom Seidenpapier befreite und ich sie anschaute, wusste ich sofort, dass ich ihr meine Geschichte erzählen möchte.

Seit ich mich erinnern kann, lebe ich ganz weit hinten im Himmel. Die kleine Stadt heisst Himmelbärenstadt. Da wohnen hunderte von Bären – grosse, kleine, dicke, dünne. Alle haben sie etwas gemeinsam: Sie haben ein Handicap. Entweder fehlt ihnen ein Auge oder ein Bein, ein Arm, oder beides. Manche haben lichte Stellen, wo kein weiches Fell ihre Blösse bedeckt, haben ausgefranste Ohren oder ein sonstiges Leiden. Nun denkt man, sie alle seien traurig oder frustriert. Aber nein, sie strahlen eine innere Freude und Zufriedenheit aus. Denn auf Erden wurden sie von Menschenkindern viele Jahre lang innig geliebt. Diesen Frieden haben sie mitgenommen in die Himmelbärenstadt.

Ich selber wurde ohne Fell geboren und diente vor allem zu Dekorationszwecken. Als ich in die Himmelbärenstadt eintauchte, wusste ich schnell, dass diese Dekozeit vorbei ist. Ich bekam alle Hände voll zu tun, um meinen Kollegen in allen Lebenslagen zu helfen. Es mussten Verbände angelegt werden, Wunden genäht, Bäuche gestopft, die Zeichensprache und Blindenschrift erlernt werden, um allen helfen zu können. Aber die schönste Aufgabe war es, zuzuhören und einfach da zu sein, wenn sie von der Welt und den Menschenkindern erzählten.

Die Bären vermissten sie schrecklich, denn sie erfüllten eine grosse Aufgabe in der Welt der Kinder. Es gibt sogar welche, die immer noch feucht sind, weil die Tränen eines Kindes sie nass gemacht haben. Sie haben deren Leben lebenswert gemacht, und das gibt den Bären nun auch den Mut, in dieser Himmelbärenstadt zu leben, keiner hadert mit dem Schicksal.

Die Häuser der Stadt stehen auf Wolken. Manchmal haben zwei Häuser Platz auf einer Wolke, oft aber nur eines. Wenn es stark windet, treibt es diese Wolken auseinander und ich erreiche oft die Häuser nicht. Immer bin ich am Springen, ich hüpfe oder fliege fat, um meine Aufgaben zu erledigen. Das alles ist sehr anstrengend und auch gefährlich. Ich darf mir nicht vorstellen, was passieren würde, wenn ich einen Misstritt machen würde. Fallen, fallen, fallen …

Ich war bereits etwas verzweifelt, da kam mir die Idee, an Gott, tausende von Kilometern entfernt, einen Hilfeschrei-Brief zu senden. Er muss doch eine Lösung haben für unser Problem? Ich übergab also einen Brief der Postwolke, die zartrosa und winzig, aber unheimlich schnell ist. Nun galt es, zu warten.

Ich war schon richtig traurig und sehr ungeduldig, als ich plötzlich eine riesige schwarze Wolke auf mich zukommen sah. Ängstlich guckte ich mir das Ungetüm näher an und siehe da: Es war die Postwolke. Sie brachte ein gigantisches Paket mit – deshalb war sie so verändert, dass ich sie nicht mehr erkannt hatte. Im Paket befanden sich zwei wunderbare, silberfarbene Engelsflügel. Diese megatolle Idee konnte nur von Gott kommen. Nun bin ich stolzer Träger zweier Flügel und kann mich lautlos im Himmel und vor allem in der Himmelbärenstadt bewegen.

Die Zeit bei Ruth ist also eher ein Urlaub, ein gegenseitiges beschnuppern. Denn wenn ich in den Himmel schaue, auf die Wolkenhäuser dort oben, dann bekomme ich Sehnsucht nach der Himmelbärenstadt.

Es grüsst in Dankbarkeit,
der Himmelbärenstadtengel Turi

Liebe Leserinnen, liebe Leser

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Beitrag vom 13.05.2021
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