Das Ende

Regelmässig erreichen uns Geschichten, Texte und Zuschriften unserer Leserinnen und Leser. Diese wollen wir Ihnen nicht vorenthalten. Heute: Eine Reflexion über den Krieg von Charlotte Knöpfli.

Sehr geehrte Redaktion

Erst jetzt, mit 90 Jahren komme ich dazu, meine nach meiner Verlagstätigkeit in den letzten drei Jahrzehnten entstandenen Geschichten, Märchen, Reflexionen zu ordnen. Ausgerechnet gestern, inmitten dieses Ukrainekrieges fiel mir die beigelegte Reflexion «The Day After» in die Hände, geschrieben 1991! Diese Worte haben mich selbst wieder zutiefst erschüttert. Am liebsten würde ich sie Putin unters Kopfkissen schieben… 

Vielleicht können Sie dieses hoffentlich nie eintretende Ereignis irgendwo veröffentlichen?

Freundlichen Grüsse,
Charlotte Knöpfli 


Das Ende

Es könnte morgen gewesen sein. Oder gestern.

Zwei Staatsmänner beschuldigen sich gegenseitig der Besitzgier, des Grössenwahns und der Verblendung. Vernünftige Verhandlungen bleiben erfolglos. Sie verschanzen sich hinter ihren Schaltpulten und ordnen einen Krieg an, um die Macht neu zu bestimmen. Eine Feuerschlacht ordnen sie an für alle: Fanatiker und Wehrlose. Eine Feuerschlacht und plötzlich brennt die Welt, tagelang, wochenlang. Die Menschen rennen in Panik kreuz und quer, von einem Trümmerhaufen in den anderen. Die giftigen Flammen verschlingen Mensch, Tier, Haus und Baum. Ein Aschenregen deckt voller Scham die verkohlten Leichen zu.

Mitten in diesem Sterben atmet noch eine Frau. Weggebrannt ihre Haare, ihr schönes junges Gesicht und ihre Beine voll ätzender Wunden. Sie sitzt auf einem Stein und löst zaghaft ein Bündel auf. Das Kind lebt noch. Es zittert. Es entdeckt das Antlitz der Mutter und lächelt, ahnt ein verborgenes Glück. Die Mutter öffnet ihr zerfetztes Kleid und führt den kleinen Mund an ihre Brust. Aber die Milch fliesst nicht mehr. Das Kind in ihren Armen wimmert, ringt nach Luft, flackert auf und wird still, sehr still. Die Mutter streichelt den feuchten Haarflaum und haucht ihren Atem in den langsam erkaltenden Mund. Es dauert Stunden, bis sie begriffen hat. Sie legt den kleinen Leichnam in die Asche, Sie richtet sich auf: wo sie hinschaut, kein Weg, kein grünes Blatt. Sie wehklagt, weint, schreit zum Himmel. Laut zuerst, dann leiser, bis ihre Stimme im Boden versickert.

Einen Tag später treffen sich die beiden Staatsmänner. Sie wollen über den Frieden reden, aber es ist kein streitbarer Besitz mehr da.
Sie wollen über Abenteuer reden, aber die Abenteuer sind ausgebrannt.
Sie wollen über ihre Angst reden, aber die Angst ist sinnlos geworden. 
Die Sonne wirft ihr letztes rotes Licht durch die graue Luft. Die beiden Staatsmänner schreiten über das endlose Elend. Sie erblicken die tote Frau mit ihrem Kind. Sie wehklagen, weinen, schreien zum Himmel. 
Das ist meine Schwester! Das ist meine Geliebte! Das ist meine Frau! Das ist mein Kind!
Dann legen sie sich neben die Frau und das Kind. Der Tod tritt auf die beiden, langsam und vorsichtig. 
Die Sonne verfinstert sich. Die Erde spaltet sich auf und die Wasser fliessen zu anderen Meeren zusammen. 

Januar 1991 / März 2022 
Charlotte Knöpfli 

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Beitrag vom 26.03.2022

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