© Bludgeon Riffola / Foto Fabian Rottmeier

Mein erster Knutschfleck

Welches digitale Gerät hat Ihr Leben am meisten beeinflusst? Für Zeitlupe-Redaktor Fabian Rottmeier ist klar: Es war sein erster CD-Player, den er als Achtjähriger erhielt – und damit auch die erste CD.

Text: Fabian Rottmeier

Plötzlich war die Erde eben doch eine Scheibe. Respektive eine Scheibe war meine Welt: die CD! Die Compact Disc ist untrennbar verknüpft mit der Antwort auf die Frage, welches das erste prägende digitale Gerät war, das ich besass. Ich war gerade mal acht Jahre alt, als ich meinen ersten CD-Player erhielt. Damit ist nicht etwa ein portabler Discman gemeint, nein, sondern einer dieser breitformatigen CD-Spieler, die man mit einem Verstärker und von dort aus mit zwei Stereo-Lautsprecherboxen verbindet. Die Zeiten des mühsamen Vor- und Zurückspulens bei den Kasettli waren damit vorbei, und die Fachleute waren sich einig, dass man Musik dank der niederländischen Neuheit von Philips so klar wie noch nie hören konnte. 

Weshalb, um Himmels Willen, ich als Achtjähriger bereits eine komplette Stereoanlage hatte?! Ganz einfach: Mein Vater war Verkäufer in einem Hifi- und Fernsehfachgeschäft im Shopping-Center Spreitenbach (davon war im Artikel über Videokassetten schon einmal die Rede). Und weil in der dortigen Werkstatt manchmal auch Geräte abgegeben wurden, die eigentlich noch liefen, aber einen kleinen Defekt hatten (wenn überhaupt), profitierte ich von diesen abgestossenen Geräten – kostenlos.

Die Krux mit der Eject-Taste

Mein CD-Spieler hatte einen Tick. Die Eject-Taste, mit der die Disc-Schublade aus dem Gerät fuhr, funktionierte nur, wenn man sie ganz ganz ganz kurz betätigte (der Defekt wäre die perfekte Lösung für eine innovative Kindersicherung gewesen!). Mein Verstärker war weit gefährlicher: Die Lautstärke der Musik verdoppelte sich, sobald man den Volume-Regler um einen Millimeter drehte. Präzisionsarbeit – oder Reaktionsvermögen – war gefragt.

Ein SRF-Beitrag zu den ersten CD-Playern anno 1982.

An den Markennamen des CD-Players erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiss aber noch, dass die Schrift auf der digitalen Anzeige orange war, und dass er einen Knopf besass, mit dem sich die sieben zuletzt gerade abgespielten Sekunden wiederholen liessen. Eine Funktion, von der ich mich bis heute frage, wofür sie gut war.

Ein CD-Player allein brachte natürlich noch nichts – und war ein Problem, wenn man achtjährig war. Wie soll man sich denn eine CD für 30 Franken leisten können? Da kommt mein Grossvater ins Spiel. Bekannt dafür, mich bestens einschüchtern und belehren zu können und eher schlecht als gut gelaunt zu sein, bin ich noch heute verblüfft, dass ausgerechnet er mir spontan meine erste CD – eine CD-Single – ermöglicht hat. 

Alles begann … beim Ikea-Zmorge

Es war ein Schulferientag im Sommer 1988, als uns mein Grossvater mütterlicherseits zum Zmorge in die Ikea Spreitenbach einlud, weil es dort schon damals unschlagbar günstig war. Alleine schon dieses Frühstück, zusammen mit den Grosseltern, war ein Ereignis, dass es so vorher und nachher nie mehr geben sollte. Karl, so sein Name, liebte nicht nur das Lottospiel, sondern auch Wettbewerbe. Und so wurde er mit etwas Losglück Gewinner eines nigelnagelneuen CD-Players. Er war gut gelaunt an diesem Tag, an dem er den Preis abholte (wo, kann ich nicht mehr sagen). Weil auch mein Grossvater noch keine CD besass, musste etwas Futter für das neue digitale Gerät her. Der damals grösste CD-Laden im Shopping-Center hiess selbsterklärend «Compact Disc», ein schmaler Schlauch von einem Geschäft. Ich konnte es kaum fassen, als er mir sagte, ich dürfe mir eine Single aussuchen. Lange überlegen musste ich nicht, hatte ich doch in den Wochen davor vor allem einen aufgezeichneten Song aus dem Radio rauf- und runtergespielt: «Love Bites» von der britischen Hard-Rock-Band Def Leppard.

Das Stück war nach «Cheri Cheri Lady» von Modern Talking mein zweites Lieblingslied. Die CD-Single, in einer viereckigen Kartonhülle, habe ich noch heute (im Gegensatz zu meinem Grossvater, der drei Jahre später beim Lottospielen verstarb). Auch 35 Jahre später hört man, dass «Love Bites» nicht umsonst ein Nummer-1-Hit war in den USA. Eine eingängige Rockballade, die nicht schmusig, sondern mit dem nötigen Biss daherkommt. Ein «Love Bite» ist übersetzt schliesslich nichts anderes als ein Knutschfleck.

Bereits 80 Millionen Mal aufgerufen: das Video zu «Love Bites» auf Youtube.

Die Compact Disc ist mir bis heute wie ein Knutschfleck geblieben. Noch immer besitze ich einen CD-Player, der nichts anderes tut, als CDs abzuspielen (zwischenzeitlich besass ich über 20 Jahre lang auch einen 200-CD-Wechsler, für den ich lange gespart hatte). Noch immer kaufe ich CDs, obwohl ich mir praktisch alles auf Spotify anhören kann. Einerseits möchte ich die Bands mit dem Kauf unterstützen, andererseits will ich CDs bewusst als Teil meiner Biografie weiterpflegen (ganz nach dem Vorbild von Nick Hornbys Romanfigur aus «High Fidelity»). Aber zugegeben: Auch ich musste schmunzeln, als mir mein Vater kürzlich erzählte, dass er in den Anfangszeiten der Ära – Mitte der Achtziger – einige Kunden hatte, die für eine CD gerne mal von Zürich nach Spreitenbach fuhren, weil das Klassik-Sortiment seines Arbeitgebers weit herum das umfangreichste war.

Ich bezweifle, dass ein heutiger Teenager in 20 Jahren sagen kann, welche Alben oder welche Interpreten er früher hörte. Zu flüchtig scheint der Musikkonsum per Streaming. Deshalb kaufe ich so lange CDs, bis es sie nicht mehr gibt – auch als musikalisches Lesezeichen für meine Vergangenheit. Sie halten bestens.

Total digital

Bereit für eine Reise in die digitale Welt? Im Themenschwerpunkt «total digital» schauen wir nach vorn – aber auch zurück: Wir zeigen, dass Künstliche Intelligenz nicht nur jüngeren Generationen vorbehalten ist, erinnern uns an unsere ersten Erfahrungen mit der digitalen Technologie, zeigen eine innovative Community-Wohnform und kommen mit virtueller Realität hoch hinaus: zeitlupe.ch/total-digital

Beitrag vom 24.07.2023
  • Zeno sagt:

    Ein 200-CD-Wechsler! Fantastisch! Da braucht man kein Spotify, aber ein gutes Gedächnis, um zu wissen, welche CD an welcher Position steht 😄

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