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Wanderer auf dem Heimweg (Kapitel 8.4) Aus «Schneesturm im Sommer»

«Und jetzt, wohin, rechts oder links?», fragte Ruedi, fuhr langsam auf eine Strassenkreuzung zu und hielt beim Wegweiser an.

«Wie du willst», sagte der Grossvater, der ihm auf der Hirzenegg den Sitz am Lenkrad überlassen hatte. «Ich möchte mich hier nur ein wenig umsehen. Aber stell den Wagen dort an den Strassenrand und studiere die Karte!»

Am Strassenrand stiegen sie aus und sahen sich um. Die leicht abfallende Hauptstrasse verlor sich in einem Talgrund mit träge rauchenden Kaminen und dunstig verschleierten Fabriken; eine weniger breite, aber noch gute Strasse bog nach links ab und führte mässig ansteigend einem Waldrand entlang.

«Papa würde mir auch in diesem Fall befehlen, wohin ich fahren müsse», sagte Ruedi, der während der Fahrt über seine Eltern zu klagen begonnen hatte. «Er hat mir nie etwas freigestellt.»

«Hättest du in jedem Fall immer selber den rechten Wegeingeschlagen? Väterliche Ratschläge sind manchmal notwendig.»

«Es waren meistens nicht nur Ratschläge. Und nach meiner eigenen Meinung hat er mich nie gefragt. Neben seinem Standpunkt kommt ein anderer nicht in Frage; was er anordnet, ist allein richtig; er weiss immer genau, was man in diesem und jenem Fall tut, wie man sich kleidet und nicht kleidet, was man sagen und nicht sagen darf, was sich schickt und nicht schickt, und so weiter. Ich ertrage diese Musterhaftigkeit einfach nicht mehr.»

«Das merkt man. Für einen Vater eine bittere Erfahrung.»

Ruedi stand da, die geöffnete Karte in der gesenkten Rechten, und schwieg. Er war ein hoch aufgeschossener Junge mit einem mageren, bleichen Gesicht, das noch nicht viel mehr ausdrückte als den etwas ratlosen und verlegenen Trotz, den er seinen Eltern gegenüber empfand.

«Dein Papa ist in mancher Beziehung ein vorbildlicher Mann …»

«Ich nicht, ich will nicht vorbildlich werden.»

«Gut. Aber dein Verhältnis oder Missverhältnis zu Papa belastet dich, es bestimmt dich mehr, als du weisst. Das ist keine rechte Ausgangslage für dich. Ruedi, vergiss nicht, was ich dir jetzt sage: Aus dir wird etwas, du hast die Anlagen dazu.»

«So? Ist mir ganz neu. Papa scheint vom Gegenteil überzeugt.»

«Dein Papa hat in der letzten Zeit vor allem gesehen, dass du Auto fährst, Liebschaften hast, Geld ausgibst …»

«Und das alles verbietet er mir jetzt.»

«Es ist auch nicht wichtig. Das allein kann einen erwachsenen Mann, der etwas wert ist, nicht lang befriedigen. Für dich handelt es sich übrigens nicht zuerst darum, ob du deinen Papa zufriedenstellst oder enttäuschest, sondern …»

«Sondern?»

«Ob du merkst, was in dir steckt, und ihm heraushilfst. Es ist wunderbar schön, jung zu sein, aber man muss es auf die rechte Art sein und nicht im blossen Widerspruch zu den Alten. Auf dem Widerspruch allein kann man nichts aufbauen, auch wenn die Alten noch so dumm und vernagelt wären; man sollte daran denken, es einmal besser zu machen, und sich rechtzeitig darauf vorbereiten, sonst gehört man unverhofft selber zu den Schafsköpfen. Aber Schluss für heute! Wir fahren weiter. Rechts oder links?»

Ruedi las am Wegweiser die nächsten Ortschaften ab, studierte die Karte und erklärte: «Die kürzere Strecke wäre rechts, aber links führt die Strasse durch eine ländliche Gegend und wäre wohl weniger belebt. Du würdest in dieser Richtung fahren, nehme ich an, und also ich auch.»

Sie fuhren dem Waldrand entlang, über ein Tobel und in offenes grünes Land hinaus. Auf den Äckern stand das Korn regungslos in der brütenden Stille, aber wo liegendes Heu auf den Wiesen dörrte, flimmerte die Luft wie über Feuern. Obstbäume tauchten auf, dahinter halb verborgen Gehöfte, ein Nussbaum barg in seinem Schatten Miststock, Stall und Brunnen, Hühner rannten über die Strasse, und Kälber hoben misstrauisch glotzend die tropfenden Mäuler aus dem Brunnentrog. Aus bunt blühenden Bauerngärten, wo sich die Strasse zu verlieren schien, kam ihnen ein Leichenzug entgegen, sie hielten an und liessen ihn vorbeiziehen. Das langsam gehende Pferd mit seiner schwarzen Decke sah alt und müde aus, auf dem Sarg im Leichenwagen lagen Kränze, dem Wagen folgten einfache, dunkel gekleidete Leute.

Schweigend fuhren sie weiter. Sie kamen in betriebsamere Gegenden, vorbei an Kiesgruben, Kehrichtablagerungen, Gemüsegärten, durch eine rasch gewachsene grosse Ortschaft, weder Dorf noch Stadt, eine Ortschaft ohne Gesicht, und am späten Nachmittag auf eine breitere Hauptstrasse. Die grelle Sonne stach ihnen durch die Scheibe scharf entgegen, verschwand aber plötzlich hinter einem Wolkenungetüm. Sie verliessen die Hauptstrasse wieder, fuhren in einer neuen Richtung zwischen waldigen Höhen talauf, über eine weitgespannte leichte Betonbrücke, unter der sich mit schmierig grünlichen Wassertümpeln ein Flussbett ohne Fluss hinzog, bogen in ein geräumiges Seitental ab und erreichten Seewilen.

Zum Autor

Meinrad Inglin (1893–1971) Sohn eines Goldschmieds, Uhrmachers und Jägers, wurde mit siebzehn Jahren Vollwaise. Uhrmacher- und Kellnerausbildung, trotz fehlender Matura Studium der Literaturgeschichte und Psychologie in Bern, Genf und Neuenburg. Tätigkeit als Zeitungsredaktor, während des Ersten und Zweiten Weltkriegs Offizier im Grenzdienst. 1922 als Journalist in Berlin, danach als freier Schriftsteller in Schwyz. Für sein Werk (vor allem Romane und Erzählungen, einzelne Aufsätze, Notizen und eine Komödie) wurde Inglin vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grossen Schillerpreis und dem Gottfried-Keller-Preis.

Hier erschien ihnen alles wie durch eine graue Brille, aber es war noch früher Abend, lang vor Sonnenuntergang, und sie wunderten sich. Sie bezogen zwei Zimmer im «Bären», holten ihr Gepäck und stellten den Wagen in die Garage, dann gingen sie auf einem leicht ansteigenden Weg zum Dorf hinaus. Es war schwül und beängstigend dunkel. Sie erkannten den Leuenberger’schen Bauernhof, um seine Giebel zuckte es wie Scheinwerferlicht, ein Donnern rollte über ihn her talaus und liess ihn zurück wie ein ausgestorbenes einsames Gehöft. Hinten auf der Wiese aber waren Leute beim Heuen, alle in grosser Hast, und Jakob wusste, wer sie waren. 

Zwei Frauen warfen den Rechen aus und zogen das Heu zu Schwaden ein, ein Mann trug Heu auf der erhobenen Gabel zum hochbeladenen Wagen und schob es hinauf, zwei Mädchenergriffenes oben und stampften es watend fest, ein zweiter Mann warf die Gabel hin und sprang auf den vorgespannten Traktor. Die Mädchen kletterten herab und zupften das hangende Heu vom Fuder, damit es auf der Fahrt nicht verlorenginge. Das Heufuder kam schwankend dahergefahren, hinter ihm zuckte wie ein geschwungener goldener Peitschenstrang ein Blitzstrahl aus der düsteren Wolkenwand und löste einen mächtig geballten Donnerschlag aus.

Es war Peter, der Sohn des Bauern, der das Heufuder zur Scheune fuhr. Er liess es unter dem breiten östlichen Vordachstehen, begrüsste seine städtischen Verwandten, braun, schwitzend,hastig, zeigte ihnen zwei alte Rechen, die am Scheunentor lehnten, und fuhr mit dem Traktor in die Wiese zurück.

Jakob zog rasch den Rock aus und ergriff einen der Rechen.

«Grosspapa, bitte schone dich!», bat Ruedi. «Grosspapa!»

«Mit deinem geölten ‹Grosspapa›! Ruedi, sag mir Grossvater! Und komm, du wirst doch ein bisschen Heu zusammenrechen können, sonst schau zu, wie die Frauen es machen. Los!»

Ruedi zog den Rock auch aus, nahm den anderen Rechen und folgte dem Grossvater zu den Heuenden auf die Wiese. 

Sie wurden durch Zurufe begrüsst, niemand hatte eine Hand frei, alle waren damit beschäftigt, den bereitstehendenzweiten Wagen zu beladen. Der Bauer wies auf braun gedörrtes, noch ausgebreitetes Heu hin, wo sie neben den hastig rechenden Frauen, der Bäuerin und der Grossmutter Vrene, mit ihren Rechen eingreifen konnten. «Es geht nicht mehr lang», rief er, mit einer Kopfbewegung zur Gewitterwand hin. Er kämpfte um sein Heu, und die Seinen halfen ihm; er hatte die Wiese gedüngt, den Graswuchs beobachtet, die Schnittreife abgewartet und das Gras gemäht, er hatte es ausgebreitet und an der Sonne dörren lassen, jetzt musste es trocken herein unter Dach, es war das Futter, von dem sein Vieh im nächsten Winter leben musste. 

Er stach mit seiner gekrümmten grossen Gabel ruckweise einen der langgezogenen Schwaden an, stemmte so viel Heu hoch, wie die Gabelfassen konnte, und trug es zum Wagen. Am anderen Ende des Schwadens gabelte sein Sohn Peter Heu auf und schlug damit Laufschritt an. Die beiden Mädchen rafften Heu mit ausgebreiteten Armen zusammen, pressten es an sich und schoben es auf den Wagen, dann kletterten sie wieder hinauf und traten das rasch wachsende Fuder watend fest.

Die Leute achteten nicht darauf, was ausser ihnen geschah, aber es begann überall zu wimmern und zu heulen, ein Windstoss packte sie an, liess nicht mehr nach und zauste die auf der Gabel zum Wagen hinstürzenden Heubündel; vom letzten Schwaden, an dem mit fliegenden Rechen noch gearbeitet wurde, stob Heu wie im Föhnsturm Schaum von Wellenkämmen. Der Regendunst wehte mit einer riesigen grauen Schwinge über den höher gelegenen Wald hin, dann stürmte er über das Seeflüeli herein. Peter sprang auf den vorgespannten Traktor und fuhr mit dem nun hoch beladenen Wagen samt den beiden Mädchen weg, die übrigen Leute folgten, und der Gewittersturm fiel mit schrägen Regensträhnenü ber sie her. Grell und krachend blitzte es ihnen zu Häupten, aber im Dunste, der sie umhüllte, sahen sie keinen Strahl, sie hörten es nur wie ein über ihnen feurig platzendes Geschoss. Keuchend, schwitzend und vom Regen durchnässt, erreichten sie mit dem Fuder das schützende Dach.


«Schneesturm im Sommer»

Meinrad Inglin ist einer der bekanntesten Unbekannten, seinen Namen kennen fast alle, seine Werke die wenigsten. Dabei ist er ein grosser Könner in einem grossen Spektrum unterschiedlicher literarischer Genres, stilistisch abwechslungsreich und sprachlich wohlkomponiert. «Schneesturm im Hochsommer» versucht, sein vielfältiges Schaffen abzubilden und damit einen literarisch hochinteressanten und oft überraschend aktuellen Schweizer Klassiker wieder breiter bekanntzumachen.

«Inglin ist seit Jahren genau der, von dem viele sagen, man hätte ihn ‹nicht auf dem Schirm› und der deshalb allen so präsent ist. Die Frage ist doch vielmehr: Was macht den Kerl so interessant, dass er nicht verschwindet? Er hat nie auf Effekt geschrieben. Er hat versucht, Verhältnisse zu beschreiben, wie sie sind. Eine Haltung, die nach dem ganzen postmodernen Klimbim auf eine neue Art interessant ist.»
Peter von Matt

Meinrad Inglin, «Schneesturm im Hochsommer».
Herausgegeben von Ulrich Niederer, Nachwort von Usama Al Shahmani, 256 Seiten, Leinenband, CHF 28.– (UVP), Limmat Verlag, Zürich

Umschlagfotografie: Dino Reichmuth, Unsplash
Typografie und Umschlaggestaltung: Trix Krebs
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN 978‑3‑03926‑021-8
© 2021 by Limmat Verlag, Zürich www.limmatverlag.ch

Beitrag vom 06.11.2022

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