66. «Durer» Aus «Staatsmann im Sturm»

Am 4. September hat Hitler in der Berliner Stadthalle über den Verlauf des jetzt ein Jahr dauernden Kriegs gesprochen. Die riesige Zuhörermenge lachte, wenn der Führer sich über Churchill lustig machte. Sie tobte, wenn er drohte. Hitler spottete über die wirkungslosen englischen Nachtluftangriffe:

Während die deutschen Flieger und die deutschen Flugzeuge Tag für Tag über englischem Boden sind, kommt ein Engländer bei Tageslicht überhaupt nicht über die Nordsee herüber. So kommen sie in der Nacht und werfen nun, wie Sie wissen, wahllos und planlos auf zivile bürgerliche Wohnviertel ihre Bomben, auf Bauerngehöfte und Dörfer. Wo sie irgendein Licht erblicken, wird eine Bombe darauf geworfen. Drei Monate habe er geschwiegen, sagt der Führer, man habe ihm dies als Schwäche ausgelegt. Jetzt werde Deutschland seine Antwort geben: Und wenn die britische Luftwaffe 2.000 oder 3.000 oder 4.000 Kilogramm Bomben wirft, dann werfen wir jetzt in einer Nacht 150.000, 180.000, 230.000, 300.000 und 400.000. Und wenn sie erklären, sie werden bei uns Städte in grossem Ausmass angreifen – wir werden ihre Städte ausradieren! Wir werden diesen Nachtpiraten das Handwerk legen, so wahr uns Gott helfe. Es wird die Stunde kommen, da einer von uns beiden bricht, und das wird nicht das nationalsozialistische Deutschland sein!

Nach der anfänglichen Bombardierung von Hafenanlagen und Flugzeugwerken in Südengland greifen am Morgen des 7. September 300, von Begleitjägern assistierte Bomber die Londoner Docks und das East End an. In der Nacht folgt ein zweiter Angriff durch 180 Bomber. Die britische Fliegerabwehr und britische Jäger können keine Gegenwehr leisten. Über 400 Tote und viele Verletzte. Der amerikanische CBS-Korrespondent Edward R. Murrow, der den ersten Bombenangriff zufällig von einem Rübenfeld oberhalb der Themsemündung aus beobachtet hat, berichtet seinen amerikanischen Hörern aus einem Kellerstudio des Broadcasting House:

Es gibt keine Worte um das Ding zu beschreiben, das geschehen ist. Eine Reihe von Automobilen, mit auf den Dächern wie Skis aufgestockten Tragbahren, steht vor den zerbombten Gebäuden. Ein Mann, eingeklemmt unter den Trümmern, wo eine zerbrochene Gasleitung seine Arme und Gesicht versengt. Der Mut der Leute, das Blitzen und Röhren der Kanonen, welche die Strassen herunterrollen, der Gestank der Luftschutzräume in den Armenvierteln.

Am selben Dienstag wird auch Buckingham Palace zum zweiten Mal von Bomben getroffen. King George VI notiert in sein Tagebuch:

Der Tag war sehr bewölkt, und es regnete stark. Wir waren beide oben in meiner kleinen Wohnstube, die auf den Innenhof hinunterschaut, (ich kann meine gewöhnlichen Zimmer wegen der zerbrochenen Fensterscheiben nicht benutzen.) Plötzlich hörten wir ein Flugzeug über uns, das einen surrenden Lärm machte, und sahen zwei Bomben die auf der gegenüberliegenden Seite des Schlosses nieder fielen. Und dann hörten wir dröhnendes Krachen, als zwei Bomben 30 Yards weg in den Innenhof fielen. Wir schauten einander an, und dann waren wir draussen im Gang, so schnell als wir dort hinkonnten. Das Ganze war eine Sache von wenigen Minuten. Wir fragten uns alle, wieso wir nicht tot waren.

Am Mittwoch, 11. September. beschreibt Goebbels die Wirkung der deutschen Bombenangriffe:

Die Berichte aus London sind grauenhaft. Ein Inferno von unvorstellbaren Ausmassen. Die Stadt gleicht einer Hölle. Man kann schon leichte Anzeichen einer sinkenden Moral feststellen. Wie lange wird diese 8 Millionenstadt das noch aushalten? … Frage: ist London auf diese Weise in die Knie zu zwingen? Ich möchte annehmen ja. Aber wir müssen abwarten, und angreifen, angreifen! 

Sinkende Moral? Nicht, dass Ed Murrow in «This is London» – den oft vom Trafalgar Square oder vom Dach des Broadcasting House gesendeten Direktreportagen – dies feststellen könnte:

Heute bin ich einen Hut kaufen gegangen — mein Lieblingsladen war weg, zu Stücken zerblasen. Die Fenster meines Schuhladens waren herausgeblasen. Ich beschloss, einen Haarschnitt zu haben. Die Fenster des Barbierladens waren weg, aber der italienische Coiffeur machte seine Arbeit weiter. Eines Tages, sagte er, werden wir wieder lächeln, aber seit wir zerbombt worden sind, schmeckt das Essen nicht gut. Ich ging zu einem anderen Laden, um Taschenlampen-Batterien zu kaufen. Der Angestellte sagte: «Sie brauchen nicht so viele zu kaufen. Wir haben genug für den Winter.» Ich sagte dann: «Und wenn ihr nicht mehr hier seid?» In seiner Strasse waren Häuser eingestürzt, er antworte: «Natürlich werden wir hier sein. Wir sind hier seit 150 Jahren im Geschäft.»

Hitler bleibt laut Goebbels «bester Dinge»:

Er wird London angreifen, bis es in die Knie sinkt. Pardon gibt es jetzt nicht mehr. Diese feige Plutokratie wollte uns vernichten. Nun soll ihr die Waffe aus den Hand geschlagen und sie selbst geprügelt werden, bis sie um Gnade winselt. Eher gibt es keinen Frieden in Europa.

Am selben Mittwoch, 11. September, an dem Goebbels berichtet, «Buckinghampalast brennt an vielen Stellen» und Churchill als «Narr» beschimpft, tagt im Bundeshaus die Vollmachtenkommission des Nationalrats. Der von Etter und Stampfli begleitete Pilet gibt gleich zu Beginn eine Beurteilung der internationalen Lage, die sich nicht verbessert habe:

Im Gegenteil sie hat Tendenz sich zu verschlechtern. Die Konflikte verallgemeinern sich. Es scheint, dass wir auf eine Ausweitung, wenn nicht des Kriegs so wenigstens der internationalen Komplikationen zugehen. 

Der Bundespräsident bittet die Kommission «inständig» die Mitteilungen, die er ihr machen wird, «strikte vertraulich» zu behandeln. Es folgt ein Tour d’Horizon durch die akuten geografischen Gefahrenherde:

Im Norden, wo man glaubte, dass dank der Einstellung der Feindseligkeit zwischen Finnland und Russland der Friede wiederhergestellt sei, scheinen neue Schwierigkeiten aufzutreten. Auf Finnland wird erneut ein starker russischer Druck ausgeübt. Finnland ist beunruhigt, da England ihm gegenüber ein eigenartiges Spiel zu spielen scheint. Allerdings hofft Finnland – ob zu Unrecht oder zu Recht – auf Deutschland. In Schweden sind die politischen Strömungen sehr unterschiedlich. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es Finnland, wenn dieses angegriffen wird, diesmal zu Hilfe eilen könnte. Die baltischen Staaten sind verschwunden, was jeden Kommentar zu diesem Thema erübrigt. Diese Tatsache riskiert eine Rückwirkung auf die künftige Existenz Polens zu haben. Eine Zeit lang tendierte die Politik Deutschlands und Russlands dahin, einen Gürtel von Pufferstaaten zwischen ihren beiden Staaten zu schaffen. Dies scheint heute nicht mehr der Fall zu sein. Der von Deutschland besetzte Teil Polens, der jetzt den Namen «Generalgouvernement» trägt, soll auf die eine oder andere Weise vom Reich geschluckt werden – wie dies für Böhmen und Mähren der Fall war, die bekanntlich durch die Aufhebung der Grenzen in den Raum des Deutschen Reichs eingefügt worden sind.

Es ist ausserordentlich schwierig zu sagen, was sich auf dem Balkan ereignen wird, der in Bewegung geraten ist. Es ist nicht ausgeschlossen, aber unwahrscheinlich, dass man dort einer Revolution entgegensteuert. Ein Krieg würde unverzüglich eine ausländische Intervention provozieren, denn Deutschland und Italien können in diesem Teil Europas keine Unruhen zulassen.

Im Zusammenhang mit den jüngsten Ereignissen auf dem Balkan gibt Pilet eine beruhigende Erklärung über die Bedingungen, unter denen Carol von Rumänien in die Schweiz eingelassen wurde. Der König hat auf deutschen Druck zugunsten seines 17-jährigen Sohns Michael abgedankt und geht nun ins Exil. Pilet kann die Nationalräte beruhigen: Carol hat letzte Nacht unser Land wieder Richtung Spanien verlassen. Hätte man Carol Exil in der Schweiz gewährt, wäre dies von den Achsenmächten als Neutralitätsverletzung ausgelegt worden. Pilet fährt mit seiner Weltchronik fort:

Griechenland hat sich in den Augen der Achsenmächte verdächtig gemacht, da es eine britische Garantie besitzt. Die Operationen der beiden Grossmächte, die sich im Mittelmeer bekriegen, scheinen auf die Insel Kreta abzuzielen, dessen strategische Bedeutung offensichtlich ist.

Aber es ist Afrika, das im Moment das hauptsächliche Streitobjekt im Kampf zwischen Grossbritannien und Italien darstellt. Es stimmt, dass Italien einige Erfolge erzielt hat; aber es sind vorbereitende, nicht definitive Erfolge. Seine Anstrengung richtet sich auf Ägypten und den Suezkanal. Ägypten, das bekanntlich ein unklares internationales Statut hat [formell unabhängiges Königreich, allerdings mit dort stationierten britischen Truppen], beherrscht den Seeweg nach Indien.

Die Erwähnung Indiens bringt Pilet nach Asien:

In Indien herrscht ebenfalls eine gewisse Unrast (effervescence). Da ist auch noch die Frage von Niederländisch-Indien und Französisch-Indochina, zwei Kolonien, die Mächten gehören, die im Krieg besiegt worden sind. Japan hat das grösste Interesse, diese Territorien seinem Einfluss zu unterwerfen. Aber wenn es seine Hand auf Niederländisch- Indien oder Französisch-Indochina legen wollte, steht ausser Zweifel, dass die Vereinigten Staaten nicht passiv bleiben würden und dass ein solches Unternehmen Gefahr liefe, zu einer Generalisierung des Konflikts zu führen.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Es ist fraglich, wie aufmerksam die Deutschschweizer Nationalräte den aus hoher Warte verkündeten weltpolitischen Erläuterungen des Bundespräsidenten und Aussenministers gelauscht haben. Was kümmert die Schweizer Afrika und Asien, die weit weg sind? Soll Pilet nicht lieber von den englischen Flugzeugen reden, die in der Nacht unser Gebiet überfliegen, oder, vor allem, von den deutschen Gebirgs- und Panzerdivisionen, die im Jura und Schwarzwald bedrohlich an unseren Grenzen stehen? Endlich, werden einige Nationalräte gedacht haben, kommt Pilet zur «Lage der Schweiz in der in Bewegung geratenen Welt»:

Sie ist vor allem gekennzeichnet durch das Verschwinden von Elementen des Gleichgewichts, auf das wir uns stützten. Tatsächlich war dieses Gleichgewicht schon am Ende des letzten Kriegs durch die Auflösung des Kaiserreichs Österreich-Ungarn zerbrochen worden. Mit der gegenwärtigen Machtlosigkeit Frankreichs ist das Gleichgewicht völlig verloren gegangen.

Frankreich befindet sich in einer grauenhaften Situation. Die Rapporte und Berichte unseres Ministers in Vichy [Stucki] sind äusserst düster. Man steht nicht bloss vor einer einfachen militärischen Niederlage, sondern vor einer Desorganisation, einer absoluten Zersetzung. Das in drei Zonen aufgeteilte Land [das besetzte Frankreich, das unbesetzte Frankreich und die bereits unter deutsche Verwaltung gestellten, zur Eingliederung in Grossdeutschland bestimmten Provinzen Elsass und Lothringen], scheint unfähig sich aufzurichten. Die Regierung von Marschall Pétain machte mit allem, was bisher existierte, tabula rasa, konnte aber an den Platz der beseitigten Institutionen bloss Papier und Dekrete stellen.

England ist «englisch» geblieben, ce qui signifie «elle», toujours «elle». Es verteidigt seine Interessen und gedenkt nicht, sich um etwas anderes zu kümmern. Beweis ist die Ungeniertheit, mit welcher seine Fliegerei unsere Neutralität verletzt hat. England hat es wissentlich und absichtlich getan. Nicht dass es uns in das Kriegsgerangel hineinschleudern will, aber als es zwischen seinen Eigeninteressen und unserem guten Recht wählte, hat unser Recht es sicherlich nicht gekümmert. Das ewige historische Spiel der grossen Nationen gegenüber den kleinen.

Pilet meldet den Nationalräten, dass der Bundesrat wegen des Überflugs englischer Maschinen sofort in London protestierte. Etter habe ernsthaft mit Minister Kelly gesprochen und er, Pilet, habe dies nach seiner Rückkehr ins Bundeshaus erneut getan, und dies noch energischer. Man habe aber keine «völlige Genugtuung» erhalten. Deshalb seien die Communiqués, die veröffentlicht wurden, «nicht sehr klar» gewesen. Man habe vermeiden wollen, dass Deutschland und Italien durch diese Communiqués Kenntnis von Englands Haltung kriegten:

Die öffentliche Diplomatie, so wie sie im Völkerbund praktiziert wird, wäre unter solchen Umständen die schlimmste. Diese mehrfachen Verletzungen unserer Neutralität erzeugen bei unseren Achsen-Nachbarn eine extreme Nervosität, die sich von allem in ihrer Presse und ihrem Radio ausdrückt. Sie erwarten von uns eine sehr heftige Reaktion. Auf militärischem Gebiet haben wir alles getan, was wir tun können. Aber die Fliegerabwehr, die in erster Linie dazu dient, bestimmte Örtlichkeiten zu schützen, ist wenig wirksam, wenn es um die Überfliegung eines weiten Teils des Landes auf sehr grosser Höhe geht. Die Ausschickung von Jagdstaffeln und Luftnachtgefechte sind sehr schwierig, um nicht zu sagen unmöglich.

Vielleicht wünschten die Achsenmächte, mutmasst Pilet, dass die Schweiz angesichts ihres militärischen Ungenügens politisch reagiere. Man möchte, dass die Schweiz mit England breche. Der Bundesrat will einen derart drastischen Schritt vermeiden:

Il va de soi que le Conseil fédéral hésite. Dies wäre ein schwerwiegender Entscheid. Ein Abbruch der diplomatischen Beziehung mit England würde uns notgedrungen dem einen Lager näherbringen und auf diese Weise riskieren, dass wir aus unserer Neutralität aussteigen. Wenn andererseits die Verletzungen sich wiederholen, exponieren wir uns der Gefahr militärischer Reaktionen unserer Nachbarn auf unserem Gebiet. Unsere Beziehungen zu Deutschland und vor allem zu Italien würden darunter leiden. In Italien, das sich uns gegenüber immer wohlwollend gezeigt hat, konstatiert man eine wachsende Nervosität. Deutschland hingegen betrachtet die Lage mit stählernem Blick. Es hat überhaupt keine Sympathie für uns. Es erinnert sich an den Pressekonflikt und ganz besonders an die kürzliche Affäre mit seinen eigenen Fliegern. Es ist wenig wahrscheinlich, dass Deutschland beabsichtigt, militärische Massnahmen zu ergreifen. Es hat dies nicht nötig. Da wir zwischen Deutschland und Italien liegen, können wir jeden Augenblick von der Welt abgeschnitten werden. Unsere Lage ist deshalb sehr heikel. Wir müssen um jeden Preis erreichen, dass die Engländer mit ihren Verletzungen aufhören. Andernfalls laufen wir Gefahr, das gleiche Schicksal zu erleben wie andere neutrale Länder.

Pilet nimmt die Sache sehr ernst. Was tun?

En attendant, il faut durer. Voilà l’opinion du Conseil fédéral en politique extérieure: Durer.

Das von Pilet ausgegebene Motto «durer» kann auf Deutsch mit «überdauern» oder «fortdauern» übersetzt werden. Pilet erklärt zum Schluss seiner Rede, wie er sich «durer» vorstellt:

Alles tun, um unsere Unabhängigkeit und unsere Freiheiten zu erhalten. Wenn wir ungeschmälert den Frieden erreichen, ist die Partie beinahe gewonnen. Überdauern ist schwierig, wenn wir im Grunde genommen von der Achse abhängig sind. Trotzdem wollen wir unsere Unabhängigkeit ganz bewahren. Wenn wir von Unabhängigkeit sprechen, sprechen wir von Würde. Man muss die Lage mit Realismus und ein wenig Egoismus betrachten. Die Aussenpolitik des Bundesrats kennt weder Sympathien noch Antipathien. Sie sieht nur die Schweiz. Wenn wir der Lage kalt ins Gesicht schauen, ist es möglich, dass wir aus den Schwierigkeiten herauskommen. Aber man muss kalt, ruhig und fest bleiben.

Am Abend des gleichen Mittwochs, 11. September, an dem Pilet den Nationalräten so ins Gewissen redete, macht Winston Churchill in einer Radiorede den schwer geprüften Londonern Mut. Er erklärt, dass die deutsche Bemühung, die Luftherrschaft über «this Island» zu erringen, «natürlich die Crux des ganzen Kriegs» sei. Der Versuch sei bisher deutlich gescheitert. Die deutschen Verluste seien beträchtlich, drei zu eins in Flugzeugen, sechs zu eins in Piloten:

Es gibt keinen Zweifel, dass Herr Hitler seine Kampfflieger in sehr hohem Grade verbraucht, und dass, wenn dies viele weitere Wochen andauert, er diesen unverzichtbaren Teil seiner Luftwaffe ruiniert. Dies wird uns einen grossen Vorteil verschaffen.

Auch ohne Luftherrschaft gingen die Invasionsvorbereitungen in hohem Tempo weiter. Churchill beschreibt, wie Hunderte von deutschen Schiffen jeder Art sich in den nordfranzösischen Häfen ansammeln. Grosse Mengen deutscher Truppen warteten auf den Befehl, an Bord zu gehen und die unsichere Fahrt übers Meer anzutreten:

Wir können nicht wissen, wann sie versuchen werden zu kommen. Wir können nicht sicher sein, dass sie es überhaupt versuchen werden; aber keiner sollte sich der Tatsache verschliessen, dass eine Invasion dieser Insel in grossem Stil vorbereitet wird, mit der üblichen deutschen Gründlichkeit und Methode.

Wenn die Invasion kommen sollte, sagt Churchill, könne sie nicht mehr lange aufgeschoben werden. Das Wetter könne jederzeit brechen und der Feind könne grosse Ansammlungen von Schiffen nicht unbestimmt lang warten lassen:

Deshalb müssen wir die nächste Woche als eine sehr wichtige Periode in unserer Geschichte betrachten. Sie reiht sich ein in die Tage, als die spanische Armada sich dem Kanal näherte und Drake sein Bowlspiel beendete; oder als Nelson in Boulogne zwischen uns und Napoleons grosser Armee stand. Wir haben über all das in den Geschichtsbüchern gelesen; aber was jetzt geschieht, ist von anderer Grössenordnung und für das Leben und die Zukunft der Welt und ihrer Zivilisation von grösserer Bedeutung als diese heldenhaften alten Tage.

Der Zufall will es, dass der britische Regierungschef und der Schweizer Bundespräsident am gleichen Tag in Reden die internationale Lage beurteilen. Churchill rüttelt in kräftigem Englisch sein Volk auf. Pilet beruhigt in elegantem Französisch einen kleinen Kreis von Parlamentariern. Der eine führt einen Krieg auf Leben und Tod, der andere tut sein Mögliches, um den Krieg vom eigenen Land fernzuhalten. Beide, der unbeugsame Premier und der vorsichtige Bundespräsident, verkünden die gleiche Botschaft: Überdauern.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne, 12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 21.04.2024

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