65. Landammann Etter? Aus «Staatsmann im Sturm»

Als Pilet nach seiner Rückkehr aus Baden am Montag, 26. August, die eingegangene Korrespondenz sichtet, findet ein Brieflein von Charles Gorgerat, Präsident der Waadtländer Liberalen, seine Aufmerksamkeit:

Mon cher ami, Unser Freund L. Chamorel [Ständerat, genannt «le colonel», Weinbauer in Aigle und alter Vertrauter Pilets] sagt mir, dass Du Interesse daran hättest, von einem Dokument Kenntnis zur nehmen, das ich ihm gezeigt habe und das gewisse Aktivitäten der Ligue vaudoise und Gruppen «eiusdem farinae» [«vom gleichen Mehl», «vom gleichen Schlag»] betrifft (in Zusammenarbeit mit der Armee, vertreten durch den Obersten Masson). All dies ist ziemlich seltsam …

Das «ziemlich seltsame» Dokument fasst die Beschlüsse zusammen, die an einer gemeinsamen Sitzung der Ligue vaudoise, der jungen Konservativen und des Redressement national, einer rechtsbürgerlichen Vereinigung, die Abstimmungskämpfe koordiniert, gefasst worden sind. Die im Entstehen begriffene, rechtsbürgerliche Erneuerungsbewegung hat zum Ziel, «der Eidgenossenschaft eine standfeste Leitung zu geben, welche einmütiges Vertrauen geniesst und imstande ist, im Namen der Schweiz mit dem Ausland zu reden».

Marcel Regamey, Gründer, Präsident und Vordenker der ultraföderalistischen Ligue vaudoise, befürwortet eine autoritäre Staatsauffassung nach dem Vorbild des Vordenkers der französischen Rechtsextremisten Charles Maurras. Regamey und seine Ligue bekämpfen Pilet wegen seines Eintretens für «antiföderalistische» Vorlagen wie die AHV und wegen seines fehlenden Widerstands gegen die bundesrätliche Weinsteuer. Unter den Waadtländer vignerons hat Regameys Ligue viele Anhänger (darunter auch den späteren freisinnigen Bundesrat Paul Chaudet).

Die rechtskonservative Sammelbewegung ist mit dem gleichzeitig gegründeten Gotthard-Bund vergleichbar. Sie will eine «einheitliche Machtausübung in der Zivilbehörde so wie in der Armee». Einzelne Punkte in dem aus dem Monat Juli stammenden Manifest zeigen, wie man sich dies vorstellt:

3. Im gegenwärtigen Bundesrat besitzt einzig Bundesrat Etter die nötige Autorität und das nötige Prestige.

4. Die erste zu verwirklichende Etappe besteht darin, Bundesrat Etter persönlich die Vollmachten zu übertragen, die dem Gesamtbundesrat übertragen worden sind.

5. Die zweite besteht darin, Herrn Etter mit neuen Männern zu umgeben, die imstande sind, die neue Lage der Schweiz zu verstehen und folgegemäss zu handeln.

6. Eine Kampagne muss lanciert werden, um M. Etter als Landammann zu feiern, sobald die unternommenen Sondierungen zeigen, dass die Idee in den handelnden Kreisen der diversen schweizerischen Parteien günstig aufgenommen wird.

Pilet schickt das kuriose Dokument «zur Orientierung» an Minger weiter und unterstreicht dabei den Punkt 5, der den prospektiven «Landammann Etter» mit neuen Männern umgeben will. Allerdings ist das Programm im Hinblick auf die Bundesratswahl vom 17. Juli ausgearbeitet worden und kaum mehr aktuell. Pilet streicht auch noch Punkt 21 an:

Das Liaisonkomitee wird sich alle vierzehn Tage mit einem Delegierten, mit einem Vertreter des Redressement national, einem der Jungkonservativen und einem der Ligue vaudoise im Beisein von M. le colonel Masson treffen.

Im Beisein des Nachrichtenchefs Masson? Pilet weiss, dass Regamey ein Anwaltsbüro mit Victor Perrier, dem Chef der Abteilung Presse und Funkspruch, teilt und dass er gute Beziehungen zu Perriers dienstlichem Vorgesetzten, Oberst Masson, hat. Pilet wird sich gefragt haben, was der Geheimdienstchef an einer Sitzung rechtsgerichteter Kreise zu suchen hat. Schwebt auch Masson ein nach pétainschem Muster eingerichteter Staat vor, der von einem persönlich mit Vollmachten ausgestatteten Landammann Etter regiert wird? Sind dies nicht Staatsstreichgelüste?

Weiter berichtet Pilet, er habe in der Sache der von den Achsenmächten beanstandeten Rütlirede den italienischen und deutschen Ministern die vom Bundesrat in seiner Abwesenheit genehmigte mündliche Antwort gegeben. Pilet hält den Fall damit für erledigt – «Considère incident clos», wie Bovet notiert. Schliesslich geht es auch noch um die bevorstehende Reise von Alt-Bundesrat Musy nach Deutschland. Musy bemühte sich bereits mehrere Male um eine Unterredung mit Etter, der ihn abwimmeln konnte. Der Bundesrat will vermeiden, dass der unberechenbare und den faschistischen Regimes zugetane Musy sich in Berlin als schweizerischer Emissär aufspielt. Pilet wird dem Alt-Bundesrat klarmachen, dass er als Privatperson und nicht im Auftrag des Bundesrats reise, auch wenn er einen Diplomatenpass habe. Pilet fügt hinzu, dass er immerhin Musys Bericht nach dessen Rückkehr in die Schweiz «gerne anhören» werde.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

An seiner Sitzung vom Dienstag, 10. September, diskutiert der Bundesrat die «Richtlinien», einen Massnahmenkatalog, den Etter in seinen Ferien ausgearbeitet hat. Das Kollegium bringt ein paar Retouchen an und beschliesst, die provisorischen «Richtlinien» vorläufig zurückzuhalten. Eine endgültige Fassung soll später erstellt werden. Dann wird man entscheiden, ob dieser neue Text der im Werden begriffenen Arbeitsgemeinschaft der Parteien, dem «Kronrat», auszuhändigen sei. Vermutlich wäre es nützlich gewesen, wenn Parlament und Volk «Punkt 2» der Richtlinien gekannt hätten. Darin schreibt der Bundesrat, dass die «tief gehenden politischen und geistigen Veränderungen» in Europa auch in der Schweiz «eine Reihe von Erneuerungsbewegungen auf den Plan gerufen» haben. Auffassungen seien nicht von ewiger Dauer und stetem Wechsel ausgesetzt. Sie dürften nicht erstarren und müssten sich den ändernden Verhältnissen anpassen:

Es wäre deshalb verfehlt, Bewegungen, die auf eine Erneuerung unseres staatlichen Lebens hinzielen, durch politische und polizeiliche Zwangsmassnahmen unterbinden zu wollen, sofern und solange solche Bewegungen nicht mit illegalen Mitteln arbeiten, die bestehenden Verhältnisse auf illegale Weise zu ändern suchen oder Ziele verfolgen, die mit der öffentlichen Ordnung oder mit der Unabhängigkeit des Landes in Widerspruch ständen. Wo solche illegale Mittel oder Ziele in Erscheinung treten, werden die Behörden des Bundes und der Kantone einschreiten. Im übrigen aber soll die Auseinandersetzung mit den Erneuerungsbewegungen sich auf dem Boden des freien geistigen Kampfes abspielen.

Die Bundesanwaltschaft hat in einem dem Bundesrat vorgelegten Bericht zwischen zwei Typen von Erneuerungsbewegungen unterschieden: Bewegungen, die illegale Mittel anwenden, sind polizeilich und gerichtlich zu verfolgen. Diejenigen, die sich bisher an die Gesetze gehalten haben, sind nicht zu verbieten, sondern bloss «sorgfältig zu beobachten». Zur ersten Kategorie wird Ernst Leonhardts «Schweiz. Gesellschaft der Freunde einer autoritären Demokratie» (SGAD) gezählt, deren Verbingung zu Nazi-Deutschland klar erwiesen ist.

Die NBS, Nationale Bewegung der Schweiz, ist in die zweite Kategorie von der Bundesanwaltschaft eingereiht worden. Sie gehört zu denen, die man bloss sorgfältig beobachtet. Man hört ihre Mitglieder telefonisch ab, besucht ihre Veranstaltungen, studiert ihre Proklamationen und Schriften. Aber man redet mit ihnen. Ihr Mitgründer Ernst Hofmann ist vom Bundesanwalt und am 30. Mai auch von Bundesrat Baumann empfangen worden.

Am Dienstag, 10. September, an dem der Bunderat Etters «Richtlinien» diskutiert, empfängt nun Pilet eine Delegation der Nationalen Bewegung der Schweiz. Er tut dies vor der ungewöhnlichen, von ihm auf 17 Uhr 30 anberaumten Fortsetzung der morgendlichen Bundesratssitzung. Als er die Vertreter der fröntlerischen, deutschfreundlichen NBS begrüsst, hat er keine Ahnung, dass er sich auf Glatteis begibt. Für Pilet ist es eine Routinesitzung wie viele andere.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne, 12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 14.04.2024

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