63. Dr. Grawitz besucht die Schweiz Aus «Staatsmann im Sturm»

C. J. Burckhardt sieht sich immer noch als möglicher Friedensstifter zwischen Deutschland und England. Ein totaler Weltkrieg, der in den Augen Burckhardts mit einer Bolschewisierung Europas enden würde, könnte vielleicht abgewendet werden. Burckhardt würde eine deutsche Hegemonie in Europa einer Fortdauer des Gemetzels vorziehen. Noch im Juni 1941, kurz vor Hitlers Einmarsch in Russland, wird er der Weltwoche-Redaktorin Mabel Zuppinger alias «Claudine» schreiben:

Vielleicht haben Sie recht, dass Friede jetzt eine Festlegung auf Unleidlichem bedeutet.

Die andere Eventualität, das «Darauf-ankommen-Lassen», birgt für Burckhardt die Gefahr einer erhöhten Wiederholung des «Darauf-ankommen-Lassens» vom Herbst 1939, das zu den Kriegserklärungen Englands und Frankreichs an Hitler führte. Der Diplomat Burckhardt zieht das «Sichbesinnen» vor, den «Stillstand», der «alle Möglichkeiten frei werden lässt»:

Friede ist bekanntlich nie eine endgültige Investitur des Sieges. Und die Erkenntnis meines alten Richelieu schien mir immer tief und wahr; er sagte, Gewalt ist das Mittel der geistig Schwachen – Verhandeln der Weg des Verstandes.

IKRK-Chef Burckhardt wähnte sich offensichtlich auf dem «Weg des Verstandes», als er Anfang Juli dem Ruf Weizsäckers nach Berlin folgte. Er konnte damals den anderweitig beschäftigten Führer nicht besuchen. Nach seiner Rückkehr traf er in Bern Pilet und Kelly. Am 15. Juli folgte ein Gespräch mit Köcher, den er zusammen mit Frau nach Genf zum Essen eingeladen hatte. Darüber berichtete er dem EPD: «Der Besuch nahm einen sehr angenehmen Verlauf und am Tisch tauschte man in einer freimütigen und herzlichen Atmosphäre Meinungen aus.» Aus seinen Gesprächen mit dem englischen und dem deutschen Gesandten schloss Burckhardt, dass eine neuerliche eigene Mission nach Berlin nützlich sein könnte. Er hielt einen Frieden zwischen Deutschland und England immer noch für wünschbar und möglich.

Dies war einer der Gründe, wieso er den geschäftsführenden Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes, Dr. med. Ernst Robert Grawitz, den er eben in Berlin kennen gelernt hatte, in die Schweiz einlud. Am 31. Juli führte er Grawitz im Auto auf den Bauernhof von Bundesrat Minger im seeländischen Schüpfen. Wie es sich gehört, dankte Burckhardt nachher Minger brieflich: 

Voll von dem Gefühl bodenständiger herzlicher Gastfreundschaft sind wir zurückgefahren. So ein Tag hilft mehr für die deutsch-schweizerischen Beziehungen als alle die gewundenen Zeitungsartikel, in denen unsere Skribenten jetzt nachträglich Vorzüge des Nationalsozialismus erkennen.

Er, Burckhardt, hat diese Vorzüge schon früh erkannt. An einer einwöchigen Reise im Mai 1936 – kurz nach dem deutschen Einmarsch ins Rheinland — durfte er als IKRK-Vizepräsident auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin deutsche Konzentrationslager besuchen. Bei allen Vorbehalten über die Behandlung der in diesen Arbeits- und Umerziehungslagern Gefangenen zeigte der Professor Verständnis für die Errungenschaften des nationalsozialistischen Regimes. Der zu seiner Begleitung abgestellte Reichsarbeitsführer zitierte damals in einer dienstlichen Mitteilung an die Reichskanzlei wörtlich eine von Burckhardt gemachte Bemerkung:

«Spanien und Frankreich sind in vollem Abmarsch in den Bolschewismus. England im Schlepptau. Man fühlt deutlich, hier liegt die grosse Internationale Verschwörung vor. Die Rettung kann, wenn es so weitergeht, nur durch die beiden grossen Männer Hitler und Mussolini erfolgen. Sind sie und ihre Länder stark genug gegenüber der internationalen Verschwörung, vor der wir stehen, durchzuhalten? Gelingt das, ist Europa gerettet, gelingt das nicht, sind alle europäischen Völker erledigt.»

Weiter heisst es in dem Bericht des deutschen Begleiters an die Reichskanzlei:

Bei anderer Gelegenheit machte Prof. Burckhardt die Bemerkung: «Wir alle stehen hier vor dem Kampf aller Internationalen gegen das Natürliche, das nach Eurem Begriff in die Worte ‹Blut und Boden› gefasst ist. Wenn dieses Wort als das natürliche Gesetz richtig verstanden wird, dann muss letzten Endes Euer Kampf der siegreiche sein.» Ich führe diese Dinge an, um zu zeigen, wie Prof. Burckhardt durch die ganze Führung und das Erleben in Deutschland – auch die Strassen des Führers machten einen ungeheuren Eindruck auf ihn, was ja ganz natürlich ist, denn es gibt ja kaum etwas Gewaltigeres und Eindrücklicheres als diese Strassenbauten – gepackt worden ist. Ich glaube, dass diese Fahrt den Zweck, den der Führer und Reichskanzler damit erreichen wollte, unbedingt erfüllt hat.

War Burckhardt bei seiner Deutschlandreise 1937 von Hitlers Werk derart beeindruckt, wie dies der Reichsarbeitsführer in seinem Bericht darstellt, oder wollte der IKRK-Delegierte bloss seinen Gastgebern schmeicheln? Nur Burckhardt selber konnte es wissen.

Beim Besuch auf dem Hof von Bundesrat Minger am letzten Julitag 1940 stellt Burckhardt den Rotkreuzdirektor Grawitz Minger «als unter anderem ein Freund Himmlers» vor: «Er hat das Herz am rechten Fleck, er spürt, was echt ist.» Wohlweislich verschwieg er dessen Stellung als «Reichsarzt SS» und SS-Obergruppenführer, der dem Rang eines Generaloberst im Heer entspricht. Burckhardt konnte nicht wissen, dass der sympathisch wirkende Grawitz auch in Hitlers geheimem Unternehmen zur «Vernichtung lebensunwerten Lebens» – der Ermordung körperlich und geistig Behinderter – eine führende Rolle spielt.

Der Mann mit dem «Herz am rechten Fleck» sucht Ärzte aus, die bereit sind, die Tötungen vorzunehmen. Einem potenziellen Rekruten sagte er, man müsse auch bereit sein, unangenehme Arbeiten zu übernehmen. Er werde persönlich die Tötung des ersten Geisteskranken durchführen. Der gute Doktor ist ein pflichtbewusster Mensch. Er wird während des Kriegs führend bei grausamen medizinischen Versuchen an KZ-Häftlingen beteiligt sein. Im April 1945 wird Grawitz sich durch Selbstmord einem Kriegsverbrechensverfahren entziehen.

Am Abend nach dem Besuch in Schüpfen nahmen Burckhardt und Grawitz an einem Diner teil, das Köcher in der deutschen Gesandtschaft zu Ehren des hohen Gastes gab. Am 1. August fuhren sie gemeinsam nach Genf. Zuvor, an einem der letzten Julitage, hatte der SS-Reichsarzt auf seiner Schweizer Reise auch einen Abstecher ins Berner Oberland gemacht. Grawitz stattete seinem Berufskollegen und Gesinnungsgenossen, Dr. Fritz Thönen, Spitalarzt in Zweisimmen, einen kurzen Besuch ab. Nachdem er Thönen Grüsse vom «gemeinsamen Freund», Reichsführer Heinrich Himmler, überbracht hatte, kam er zum Zweck seines Besuchs. Er erzählte Thönen, dass in den sogenannten La-Charité-Akten Briefe gefunden worden waren, die das schweizerische Armeekommando belasten.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Was es mit den sogenannten La-Charité-Akten auf sich hatte, wurde nun allmählich auch in der Schweiz bekannt. Am 19. Juni hatte eine deutsche Vorausabteilung auf dem Bahnhof von La-Charité-sur-Loire einen Zug gestoppt und durchsucht. Sie stiess auf geheime Akten des Alliierten Obersten Kriegsrats, welche die flüchtende französische Regierung in Sicherheit hatte bringen wollen. Die deutsche Presse berichtete am 4. Juli in grosser Aufmachung von dem Fund. In seiner Rede vom 19. Juli erwähnte Hitler die Dokumente als Beweis für die Pläne der Alliierten zur Kriegsausweitung:

Sie [die Dokumente] werden vor allem zeigen, wie für diese eiskalten Politiker und Militärs die kleinen Völker nur Mittel zum Zweck waren, wie sie versuchten, Finnland für ihre Interessen zu verwenden, wie sie sich entschlossen hatten, Norwegen und Schweden zum Kriegsschauplatz zu machen, wie sie beabsichtigten, den Balkan in Brand zu setzen … wie sie die Niederlande und Belgien immer tiefer in ihre Schlinge zogen und endlich in bindende Generalstabsabmachungen verstrickten und so vieles andere mehr.

Nun befanden sich unter den La-Charité-Akten angeblich Briefe, die die Schweiz belasteten. Die indirekt von Himmler stammende Nachricht alarmierte Thönen. Der im Berner Oberland populäre, für seine Nazifreundlichkeit bekannte Arzt glaubte, Grawitz sei zu ihm geschickt worden, um die Schweiz zu warnen. Bewunderung für die Nazis schloss Schweizer Patriotismus nicht aus. Thönen erzählte seinem Schulfreund Oberstbrigadier Rudolf von Erlach von der Mitteilung über die gefundenen Dokumente, die er von einem deutschen Gewährsmann erhalten hatte. Von Erlach, zur fraglichen Zeit Chef der Operationssektion im Generalstab, spitzte die Ohren: Wieso wusste er in seiner hohen Stellung nichts von schweizerisch-französischen Generalstabsabkommen? Was für eine Rolle spielten Guisan und seine persönliche Entourage hinter dem Rücken des Generalstabs?

Wenn Grawitz mit Thönen über «La Charité» gesprochen hat, wird er erst recht Burckhardt Näheres über den Fund erzählt haben. Sein Vorgesetzter Himmler besitzt seinen eigenen Geheimdienst und weiss mindestens so viel wie Weizsäcker. Es ist deshalb denkbar, dass der Brief Guisans an Minger vom 14. August eine direkte Folge der Gespräche ist, die Burckhardt zuvor mit Weizsäcker und Grawitz geführt hat. Beim Besuch auf Mingers Bauernhof in Schüpfen wird Burckhardt gemerkt haben, dass Minger für die Idee einer Sondermission nach Berlin empfänglich sein würde.

Der IKRK-Vizechef hat schon Anfang Juli bei seinen Gesprächen mit Kelly und Pilet diskret angedeutet, dass er einer neuerlichen eigenen Berlinmission nicht abgeneigt wäre. Im Interesse der Schweiz natürlich, wie er sagt. Im Interesse des Weltfriedens, wie er denkt. Und im Interesse seines eigenen Rufs als diplomatischer Vermittler von Weltrang. Burckhardt weiss, dass ein von Barbey im Namen Guisans formulierter Brief an Minger, der für eine Berliner Mission des IKRK-Chefs plädiert, seinen eigenen ehrgeizigen Plänen nur förderlich sein kann.

«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne, 12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 31.03.2024

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