Die gebrochene Majestät Queen Victoria, Königin von Grossbritannien

Aus dem Buchband «Blaues Blut. Royale Geschichten aus der Schweiz» von Michael van Orsouw. Erschienen im Verlag Hier und Jetzt.

Vorwort von Beat Gugger und Bruno Meier 

Was wurde nicht alles schon über sie geschrieben. In Filmen gezeigt. Recherchiert und erforscht. 

63 Jahre war Victoria, Königin von England und Irland, im Amt, so lange wie keine Monarchin je zuvor – das ergibt Stoff zuhauf. Ihr Reich umfasste 1 Milliarde Menschen, sie hatte 9 Kinder, war in 229 Kriege und Aufstände verwickelt, überlebte 7 Attentate und 21 Kabinette, sie galt als «Grossmutter Europas», hatte 40 Enkel und 88 Urenkel, eine ganze Epoche wurde nach ihr benannt: das Viktorianische Zeitalter. Sie war die mächtigste Frau der Welt.

Und dennoch: Die Episode, von der hier zu erzählen ist, berichtet auch von einer gebrochenen Frau, einer verletzten, verunsicherten, menschenscheuen Königin. Es geht um ihre Reise in die Schweiz im Jahr 1868, die eine Art Flucht war vor der grossen Verantwortung und den unzähligen Pflichten, die eine Herrscherin über das British Empire zu erfüllen hat. 

Queen Victoria befindet sich nach dem Tod ihrer Mutter und vor allem nach dem Tod ihres Gatten Prinz Albert in den 1860er-Jahren in einem tiefen seelischen Loch. Sie verharrt während Jahren in einem depressionsähnlichen Zustand, sie leidet – so würde man es heute wohl diagnostizieren – an einem akuten Burnout. 

«I’ll be good!», lautete ihr optimistisches Motto seit der Kindheit. Nun aber ist sie nur noch traurig, sie kleidet sich ausschliesslich in Schwarz, lässt für ihren verstorbenen Albert jeden Abend das Bett machen, jeden Morgen frische Kleider bereitlegen. Zudem meidet sie jede Öffentlichkeit. Das schadet dem Ansehen der englischen Krone massiv. Ausnahmen von ihrem Rückzug macht sie nur, wenn sie eines der vielen Denkmäler für Albert einweiht. 

Die Königin scheint aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden zu sein. Die Monarchie steht wegen der Eskapaden ihrer Vorgänger und der Mitglieder des englischen Hochadels auf wackligen Füssen, zudem erschüttern die Revolutionen von 1848 in Deutschland und Frankreich die Herrschaftshäuser. Angesichts solcher Umstände wirkt sich die Unsichtbarkeit von Queen Victoria besonders fatal aus.

Hinzu kommt, dass ihr die Herzen des Volkes nicht einfach so zugeflogen waren. In ihren ersten Jahren als Königin agierte sie politisch unbedarft, war an kleinen Skandalen und Affären beteiligt und verlor rasch das Wohlwollen, das die britische Öffentlichkeit einer jungen Königin gegenüber grundsätzlich aufzubringen gewillt war. Sie zeigte sich arrogant und starrköpfig, herrisch und egozentrisch, sie bezeichnete sich selbst als «unzulänglich» und «überempfindlich», «reizbar» und «unbeherrscht» – keine guten Eigenschaften für das erfolgreiche und umsichtige Führen eines Königreichs, das strenge Formen, duldsames Ertragen aller Umstände und hohe Erwartungen voraussetzte. 

Gut zu wissen

  • Wer: Queen Victoria. Geboren als Princess Alexandrina Victoria of Kent.
    Wann: Geboren am 24. Mai 1809 in London, gestorben am 22. Januar 1901 in Osborne.
  • Was: Sie war 63 Jahre Königin von Grossbritannien und Irland sowie von 1876 bis 1901 Kaiserin von Indien.
  • Wie: Während ihrer Regierungszeit erreicht das British Empire den Höhepunkt seiner politischen und ökonomischen Macht. Im persönlichen Umgang galt sie als aufrichtig, direkt, aber auch als taktlos.
  • Bezug zur Schweiz: Königin Victoria bereiste im August und September 1868 von Luzern aus die Schweiz.

Überhaupt waren die Bedingungen für eine gloriose Monarchie nicht sehr vorteilhaft: Victoria war die Tochter einer gescheiterten Existenz; ihr zwar adeliger, aber verarmter Vater starb, als sie acht Monate alt war. Ihre Mutter war eine Deutsche; bis zu ihrem dritten Altersjahr sprach die kleine Victoria ausschliesslich deutsch, wurde von ihrer deutschen Mutter und einer deutschen Erzieherin gross gezogen, die beide einen wichtigen Einfluss auf die heranwachsende Frau ausübten. Man könnte also sagen, dass ihr das Dirndl näherlag als der englische Tweed, die Weisswurst mehr mundete als das Roastbeef. Zur Seite stand ihr als Vertrauter ausserdem ihr Leibarzt und Berater Christian von Stockmar, ebenfalls ein Deutscher.

Wenig überraschend heiratete sie mit Albert, dem Prinzen von Sachsen-Coburg und Gotha, einen Deutschen, der überdies ihr Vetter ersten Grades war. Für sie war es eine Liebesheirat, was zu dieser Zeit in adeligen Kreisen die grosse Ausnahme war. Der deutsche Prinz aus dem bedeutungslosen Herzogtum Coburg galt als der britischen Queen nicht ebenbürtig. Darüber kursierten Spottverse, ebenso über die zunehmend rundlichen Körperformen Victorias. Es hiess, Albert habe die dicke Königin nur ihres noch dickeren Geldbeutels wegen gewählt.

Doch die beiden kümmerten sich nicht um den Spott und schienen sich gut zu verstehen. Albert litt zwar anfänglich darunter, dass er der «Mann, nicht aber der Herr im Hause» sei, wie er selbst sagte. Doch mit der Zeit entwickelte er sich neben der politisch wenig interessierten Queen zum heimlichen König, quasi zum Herrscher ohne Krone. Immerhin war die Königin innerhalb von 17 Jahren neun Mal schwanger und wurde neun Mal Mutter. Victoria fand ihre Babies ausgesprochen hässlich und nannte sie «froschartige Wesen». Sie sagte, sie wolle sie weder ansehen noch im Arm halten, ehe sie ein halbes Jahr alt seien. Sie hatte auch einen «unüberwindbaren Ekel» vor dem Stillen und verzichtete darauf, obwohl das Stillen zu jener Zeit auch in der Oberschicht gerade in Mode kam. 

Aufgrund dieser Umstände kann man sich gut vorstellen, dass Victoria ihrem Mann Albert dankbar war, dass er sie im politischen Tagesgeschäft und bei der Organisation des Hofes entlastete. Damit er überhaupt Kompetenzen hatte, bekam er den Titel «Prince Consort» («Prinzgemahl»). Die Queen bilanzierte etwas ernüchtert: «Ich liebe Ruhe und Frieden, ich hasse Politik und Getümmel. Frauen sind nicht fürs Regieren geschaffen.» Dennoch machte Victoria wiederholt deutlich, dass trotz allem sie die Monarchin war und sich von ihrem Mann keine Rechte wegnehmen lassen wollte – Ehegatte hin oder her. Doch Albert, um einiges gebildeter als seine Frau, liess sich nicht abwimmeln. Das gab Streit.

Das Traumpaar war nicht immer ein Traum

Victoria und Albert inszenierten sich als das royale Traumpaar, das dank einer Liebesheirat zueinander gefunden hatte – das sich allerdings nicht immer traumhaft benahm: Victoria und Albert konnten sich streiten, dass die Fetzen flogen. Sie brüllten sich an, knallten die Türen zu oder schlossen sich im Zimmer ein. Albert schrieb Victoria hinterher pathetische Briefe mit untertänigen Entschuldigungen, aber auch mit Vorwürfen, und manchmal kommunizierte das Paar tagelang nur schriftlich. Victorias Wutausbrüche führten wiederholt zu Streit, und bald kam ein böser Verdacht auf: Hatte die Königin den Wahnsinn ihres Grossvaters George III. geerbt? Der Hofarzt riet, die Königin zu schonen und nicht zu reizen, da sonst Gefahr für ihren Geisteszustand drohe.

Prinz Albert und Queen Victoria mit ihren Kindern
Prinz Albert und Queen Victoria mit ihren Kindern (fotografiert vonJohn Jabez Edwin Mayall) © wikimedia commons

Ihr ältester Sohn, Thronerbe Edward, erwies sich bald als grosse Enttäuschung für die ehrgeizigen Eltern. Er schien die Wutausbrüche seiner Mutter geerbt zu haben, war undiszipliniert und wenig lernbereit. Ein Facharzt untersuchte die Beschaffenheit seines Gehirns und bescheinigte dem Prinzen ausgeprägten Starrsinn und mittelmässige Intelligenz. Albert mutmasste sogleich, dass der Prinz dieses «angelsächsische Gehirn» nur von der englischen Seite der Familie geerbt haben konnte und keinesfalls von seiner deutschen … 

Spurten die Kinder nicht, zogen Victoria und Albert andere Saiten auf: Tochter Vicky wurde für ihr Fehlverhalten bestraft, indem ihre Hände auf den Rücken gefesselt und sie mit einer Peitsche geschlagen wurde. Sogar ihren Sohn Leopold, der an der Bluterkrankheit litt, verprügelte Victoria derart, dass ihre eigene Mutter dazwischenging. Prinz Albert nahm, ungewöhnlich für jene Zeit und Schicht, grossen Anteil am Leben seiner Kinder und tollte mit ihnen herum. Victoria hingegen schien nur wenig an ihren Kindern interessiert zu sein – höchstens daran, sie zu Ebenbildern von ihr und Albert zu formen.

Der Schock war gross, als 1861 kurz nacheinander Victorias engste Vertraute starben: zuerst ihre Mutter, dann ihr Mann. Am Tod Alberts gab sie ihrem ältesten Sohn Edward die Schuld: «Bertie», wie man in der Familie nannte, war ein verwöhnter Dandy mit einer Schwäche für das Glücksspiel, Sauftouren, Kettenrauchen, Ausschweifungen und Abenteuer mit jungen Schauspielerinnen. Prinzgemahl Albert, bereits angeblich von Typhus mitgenommen, reiste kurz vor seinem Tod 1861 zu Bertie nach Cambridge, um ihn wegen einer neuen, ruchbar gewordenen Affäre mit einer Schauspielerin zu rügen und zu ermahnen.

Doch Albert kehrte von der Reise noch kränker zurück und starb kurz darauf. Victoria beschuldigte daraufhin ihren Sohn, er habe einen schlechten Charakter. Der Tod ihres geliebten Gatten warf sie komplett aus der Bahn, sie zog sich aus der Öffentlichkeit zurück, lebte kaum mehr im Buckingham Palace, sondern lieber in der schottischen Provinz von Balmoral. Und sie, der man zuvor durchaus Humor attestiert hatte, soll nachher kein einziges Mal mehr gelacht haben.

Die Alpenrose wird dreissig Jahre aufbewahrt

Victoria vergötterte alles, was mit Albert zu tun hatte, was einen fast grotesken Kult annahm. Albert hatte schon vor der Hochzeit von seiner früheren Reise in die Schweiz geschwärmt, also war auch für die Queen die Schweiz seit Langem ein Sehnsuchtsort. Eine getrocknete, gepresste Alpenrose, die er ihr einst aus der Schweiz geschickt hatte, bewahrte Victoria mehr als dreissig Jahre wie eine edle Kostbarkeit auf. Jetzt, da sie sich schwach und niedergeschlagen fühlte, sollte eine vierwöchige Reise in die Schweiz Gesundung und Erholung bringen. Doch zwischen der ersten Idee und der Realisierung der Reise lagen drei Jahre. Vor Ort trafen ihre Hofbediensteten, Offiziere, Botschaftsangestellte und Diplomaten, die alle zu Geheimhaltung verpflichtet waren, Abklärungen.

Queen Victoria, 1867
Queen Victoria, 1867, Gemälde von Franz Xaver Winterhalter © wikimedia commons

Jetzt, im August 1868, ist es endlich so weit. Die Reise in die Schweiz steht auf dem königlichen Programm. Die angeschlagene Gesundheit der Monarchin gilt als offizieller Grund für die Reise – gemessen an der sonstigen Heimlichtuerei über royale Krankheiten ist das englische Königshaus hier bemerkenswert offen. 

Luftveränderung und Ruhe sollen der Queen guttun. Um die gesuchte Stille und Musse zu erreichen, reist Victoria unter falschem Namen. Sie nennt sich «Gräfin von Kent» und gibt damit zu verstehen, dass sie nicht als Königin begrüsst werden will und von fremden Regierungen keine Sonderbehandlung erwartet. Verschifft werden nebst Königin und Hofstaat drei Kutschen, ihr Bett, zwei Ponys, Küchengerätschaften und weitere Utensilien.

Am 5. August 1868 reist die Gesellschaft der «Gräfin von Kent» von Osborne in Richtung Kontinentaleuropa. Nach der Schifffahrt über den Kanal steigt sie in den eleganten Salonzug um, den der französische Kaiser Napoleon III. (wir kennen ihn als Prinz aus dem Thurgau) für die Reise zur Verfügung gestellt hat – und mit dem der Kaiser drei Jahre zuvor in die Schweiz gereist ist. In Paris trifft Victoria Eugénie, die Kaiserin Frankreichs, allerdings nur gerade mal für zehn Minuten. 

Pension Wallis auf dem Gütsch in Luzern
In der Pension Wallis auf dem Gütsch in Luzern logierte die englische Königin während fünf Wochen. © Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern

Daraufhin folgt ein schwerwiegender Fauxpas. Victoria, schwächelnd und ausserdem von der Reise ermüdet, weigert sich, den Besuch der Kaiserin zu erwidern, wie es üblich wäre. Dies gilt als unhöflicher Akt, mehr noch: als diplomatischer Affront. Als dann Victoria später in Luzern die preussische Königinmutter Elisabeth trifft, gilt das nochmals als offenkundige Beleidigung der Franzosen, die mit den Preussen verfeindet sind. Daraufhin müssen die Diplomaten im Hintergrund die Umstände erklären und die Wogen glätten.

Davon merkt in der Schweiz niemand etwas. Neugierig versammelt sich beim Bahnhof Luzern eine grosse Menge Schaulustiger, welche die englische Königin begrüsst. Auch hier jubeln die Schweizer Demokraten der fremdländischen Monarchin freudig zu, wie schon bei Kaiser Joseph II. oder bei Kaiser Napoleon III. Die Luzerner Stadtpolizei muss die Zuschauerinnen und Zuschauer im Zaum halten, damit sie der Queen nicht zu nahe kommen.

Victoria hat für sich und ihre Begleitung die ganze Pension Wallis gemietet. Der Pensionsname hat nichts mit dem gleichnamigen Kanton zu tun, sondern bezieht sich auf den Besitzer mit dem Namen Robert Wallis (1815–1870), einen Engländer mit Schweizer Mutter. Mister Wallis ist Hotelier, Lithograf und eine eher zwielichtige Figur, der als Waffenhändler zu Wohlstand gekommen und schon mehrmals verhaftet worden ist. Er hat 1866 auf dem Aussichtspunkt Gütsch (als es dort noch kein Hotel gibt) das Pensionshaus «im englischen Schlossstyle» gebaut, wie es in einem zeitgenössischen Fremdenführer heisst. Obwohl die Einrichtung sehr neu ist, wendet Victorias erster Obersthofmeister eine erkleckliche Summe auf für zusätzliche Möbel, Teppiche, Bilder, Porzellan, Putzmittel und einen telegrafischen Apparat. Man will der erschöpften Queen den Aufenthalt möglichst angenehm machen.

«Die Männer sind nicht immer,  was sie scheinen,  allerdings selten etwas Besseres.»

Queen Victoria

Die Aussicht auf den Vierwaldstättersee und die Berge ist phänomenal und begeistert die Königin, die in ihr Tagebuch schreibt: «Die Aussicht von Haus aus & vor allem von meinem Wohnzimmerfenster aus, mit Blick über den See und davor die Stadt, umrandet von den prächtigsten Bergen & leuchtendem Grün im Vordergrund, ist ideal. Es war wirklich das, was ich erträumt hatte, von dem ich aber kaum glauben konnte, es jetzt in Wirklichkeit zu sehen!» Selbstverständlich denkt sie beim Anblick der idealen Landschaft an ihren verstorbenen Ehegatten Albert, der ihr von der Aussicht erzählt hatte und den sie gerne an ihrer Seite hätte.

In den folgenden Tagen und Wochen bereist sie, für eine angeschlagene Monarchin erstaunlich unternehmungslustig, die ganze Innerschweiz: Sie sieht sich die Tellskapelle an, steigt in Brunnen und Küssnacht an Land, reist auf die Rigi, zu den Mythen, nach Goldau, an den Zugersee, auf den Pilatus, zur Wallfahrtskirche Hergiswald, auf den Brünigpass und nach Engelberg. Das Dampfschiff Winkelried steht ihr während des ganzen Aufenthalts exklusiv zur Verfügung.

Egal, wo sich die Reisenden befinden: Ihren typisch englischen Gewohnheiten entsprechend wird punkt 17 Uhr der Afternoon Tea serviert, auch unter grössten Strapazen für das Personal, das den Tee schon mal auf eine abgelegene Alpwiese tragen muss. Die Queen spaziert, reitet auf ihren Ponys, schreibt, ruht und isst. Sie nimmt sich immer wieder Zeit, um die Landschaft zu zeichnen und zu aquarellieren. Sie saugt die Landschaftsbilder gleichsam in sich auf. Viele Bilder von der Reise sind erhalten und zeigen eine geduldige, unaufgeregte Handschrift. Unbelastet von Regierungsgeschäften und höfischem Gezänk scheint sie sich tatsächlich zu erholen.

Die Kegler lassen sich nicht kaufen

Nur etwas stört die Königin: Sie ärgert sich über den Lärm der Kegelbahn neben der Pension Wallis. Mit der damals horrend hohen Summe von 2000 Franken will sie die Luzerner Kegler zum Verstummen bringen, was misslingt. Die Schweizer sind wohl noch starrköpfiger als sie selbst – oder die dafür berüchtigten Schotten. John Brown, ihr Lieblingsschotte, begleitet sie übrigens auf der Reise. Dieser Brown ist eigentlich ihr Stallknecht, er sorgt offiziell für die mitgeführten Ponys Sultan und Flora, darüber hinaus aber ist er ihr Vertrauter, er steht der Königin viel näher als alle anderen Hofbediensteten. Deshalb wird die Königin von der klatschhaften Öffentlichkeit schon mal «Mrs. Brown» genannt. 

Haben sie ein Verhältnis miteinander? 

Auf jeden Fall befeuert das Benehmen der beiden die Gerüchte. Brown war schon vor der Reise stets in der Nähe der Queen, sie verbrachten auch mal ein Wochenende zu zweit in einem schottischen Cottage. In einer Zeitung vermutet man, die Königin sei in die Schweiz gefahren, um ein Kind von Brown zur Welt zu bringen. Andernorts heisst es, Victoria halte mit Brown spiritistische Sitzungen ab, während denen dieser als Medium Kontakt mit dem verstorbenen Albert aufnähme. Beweise gibt es weder in die eine noch in die andere Richtung. Doch als sich die Königin vom nicht standesgemässen Brown an eine Militärparade begleiten lassen wollte, konnte die Regierung den Eklat nur noch verhindern, indem sie gleich die ganze Parade absagte. 

In den sonst sehr ausführlichen Tagebüchern der Queen kommt der schottische Stallknecht Brown übrigens mit keinem Wort vor. Das verwundert allerdings wenig, sind doch die Tagebücher von Beatrice, der jüngsten Tochter Victorias, «bereinigt» und passagenweise sogar neu verfasst worden; die Originalbände hat «Baby», wie Beatrice in der Familie genannt wurde, eigenhändig verbrannt. 

Immerhin zeugen die Beschreibungen im Tagebuch, ob original oder nachgeschönt, von einem malerisch geübten Auge: «Der See, ein ganz wunderbares Saphirblau und Smaragdgrün, changiert von der einen Farbe zur anderen. […] Es war prachtvoll & nichts kann die Schönheit des Sees in irgendeiner Richtung übertreffen.»

Aber die zunehmende Hitze in der Innerschweiz führt zur Ermüdung der übergewichtigen Monarchin. Wie schon zuvor in Grossbritannien ermattet sie auch hier. In der Tat ist es der heisseste Sommer seit Menschengedenken. Die Queen schreibt darüber: «Dieses Klima ist entsetzlich … so klamm & klebrig, wenn es nicht gerade kochend heiss ist & ich werde entsetzlich müde & habe ständig Kopfschmerzen & kaum Appetit.» 

Kühle Bergluft tut not! Deshalb reist die Gesellschaft über den Vierwaldstättersee nach Flüelen, von dort durch das Urnerland bis ins Urserental hinauf, um auf den Furkapass zu gelangen, in die «kleine, elende Schenke, mit kleinen, ärmlichen & schlecht möblierten Räumen», wie die Königin kritisch festhält. Weil die Queen das ganze Furkahospiz gleich für drei Tage gemietet hat, werden andere Gäste abgewiesen. Das führt zu einer scharfzüngigen Fehde in der Zeitung Der Bund.

Victoria selbst erlebt auf dem Furkapass Nebel und mehr Kühle, als sie sich gewünscht hat. Sie friert! Es graupelt und schneit sogar ein bisschen. Plötzlich bricht wieder die Sonne hervor und bietet den Engländern ein gewaltiges Naturschauspiel. Vollends begeistert zeigt sich die Königin vom Rhonegletscher: «Man kann kaum glauben, dass er echt ist, denn er wirkt fast wie etwas Überirdisches!» Sie setzt sich hin und malt ein Aquarell der gezackten Eisbrocken. Selbstverständlich trinkt man auch hier den üblichen Nachmittagstee.

Das Reisen unter dem Decknamen «Gräfin von Kent» funktioniert gut. Mit ihrem Inkognito hält sie sich ungebetene Gäste vom Leib. Alle wissen, dass es sich bei der Besucherin um die britische Königin handelt. Sie bestaunen sie zwar, lassen sie aber in Ruhe. Nur auf Rigi Kaltbad stehen 200 bis 300 Personen vor dem Hotel, als Victoria dort eintrifft, die Kapelle spielt «God save the Queen», und Salutschüsse durchbrechen die Stille der Berge.

Am 9. September reist die königliche Gesellschaft wieder aus der Schweiz ab, nicht aber, ohne gemeinnützige Vergabungen gemacht zu haben. Die anglikanische Kirchgemeinschaft Luzern bekommt 2000 Franken, die Rettungsanstalt Sonnenberg 1000 Franken, der Irrenfonds erhält 1000 Franken und die Pfarrämter 500 Franken für die Armen. Der Präsident der städtischen Polizeikommission erhält eine mit Brillanten besetzte Tabakdose geschenkt, der Polizeikommissär eine goldene Uhr und der Kapitän des Dampfschiffs sowie der Bahnhofvorsteher je einen Brillantring.

Victoria- und Engländerboom

Die Schweizer Reise hat der englischen Königin gutgetan. Zwar kehrt sie nicht wie neu geboren nach England zurück. Aber «die anhaltende Trostlosigkeit», von der sie selbst berichtet hatte, scheint nun vorbei, ihre schlimmste Trauerzeit hat sie dank der Reise in die Innerschweiz überstanden. An ihre Tochter schreibt sie: «Es tut mir leid, dass unser angenehmer, ruhiger Besuch in diesem prächtigen Land, der Schweiz, vorüber ist. Es war ein voller Erfolg, ohne einen einzigen Zwischenfall und ohne einen einzigen völlig schlechten Tag. Und dennoch bin ich froh, nach Hause zurückzukehren.» Bereits wenige Tage nach der Rückkehr nach London reist die englische Königin weiter nach Balmoral in Schottland, das sie immer wieder an die Schweiz erinnert. Aber ihre schwarzen Kleider, die wird sie ihr Leben lang an behalten.

In der Schweiz selbst zeitigt der Besuch der englischen Königin ebenfalls zahlreiche Folgen. Die englischen Touristen strömen nach Victorias Reise noch zahlreicher in die Schweiz als zuvor. Schon 1868, im Jahr der königlichen Visite, entsteht eine Pension Victoria mit Chalet in Luzern, 1870 folgt die Benennung des Victoriaplatzes (heute Pilatusstrasse 18–20) mit dem Hotel Victoria. Im gleichen Jahr läuft – ebenfalls in Luzern – das Dampfschiff Victoria vom Stapel. Mehr als zwanzig Hotels in der Schweiz tragen in der Folge den Namen Victoria. Obwohl sie unter falschem Namen in die Schweiz gereist war, wird ihr Vorname zum universell einsetzbaren Gütesiegel. Auch edle Gerichte tragen nach der Reise der Queen Victorias Namen, im Luzerner «Schweizerhof» wird zum Beispiel «Rheinsalm à la Victoria» serviert. 

Was der Rhein und der Rheinlachs mit der englischen Monarchin zu tun haben, bleibt rätselhaft – aber das Menü fand bei den damaligen Gästen grossen Anklang. 

Blaues Blut. Royale Geschichten aus der Schweiz», Michael van Orsouw, Verlag Hier und Jetzt, 2019, CHF 39.–. www.hierundjetzt.ch

Beitrag vom 14.06.2020
Michael van Orsouw

ist Schriftsteller und promovierter Historiker aus Zug. Er hat für sein literarisches Schaffen diverse Auszeichnungen und Literaturpreise in Deutschland, Österreich und der Schweiz erhalten. Er schreibt Bücher, für die Bühne und fürs Radio. www.michaelvanorsouw.ch

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