Der Vertriebene und die Ewiggestrige Kaiser Karl I. und Kaiserin Zita
Aus dem Buchband «Blaues Blut. Royale Geschichten aus der Schweiz» von Michael van Orsouw. Erschienen im Verlag Hier und Jetzt.
Vorwort von Beat Gugger und Bruno Meier
Es ist der 24. März 1919, die wilde Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Im Grenzbahnhof Buchs sind die österreichischen Eisenbahnwaggons allesamt von Wetter und Krieg lädiert, nur ein einziger Passagierwaggon scheint von der Zeit unberührt. Dieser schwarz polierte Salonwagen fällt sofort auf. Darin sitzen Karl I., Kaiser von Österreich und König von Ungarn, und seine Gattin Kaiserin Zita, Herzogin von Bourbon-Parma. Sie reisen unfreiwillig, denn sie müssen ihr Land zwangsweise verlassen.
Aus dem Zugsfenster sehen sie heimreisende Österreicher, die ihnen «Es lebe der Kaiser!» zurufen oder «Auf Wiedersehen in der Heimat!». Einer der nach Hause reisenden Österreicher ist der Schriftsteller Stefan Zweig, der diesen Moment im Buch «Die Welt von Gestern» festhält: «Da erkannte ich hinter der Spiegelscheibe des Waggons hoch aufgerichtet Kaiser Karl und seine schwarz gekleidete Gemahlin Zita. Ich schrak zusammen. Es war ein historischer Augenblick, den ich erlebte – und doppelt erschütternd für einen, der in der Tradition des Kaiserreichs aufgewachsen war.»
Tatsächlich ist es ein besonderer Moment: Der letzte habsburgische Kaiser muss sein Reich verlassen. Und dies nach 650 Jahren österreichischer Herrschaft des Hauses Habsburg! Kaiser Karl I. hat nach dem verlorenen Krieg alle Regierungsgeschäfte abgegeben, nicht aber den Thron. Weil er nicht offiziell abdankt, muss er ins Exil. Damit widerfährt ihm dasselbe wie dem deutschen Kaiser Wilhelm II.; dank der Deutschfreundlichkeit von Königin Wilhelmina der Niederlande findet dieser auf Schloss Doorn bei Utrecht sicheren Unterschlupf.
Mitverantwortlich für Kaiser Karls Gang ins Exil ist seine Gattin Zita, die «Matriarchin», wie die Kaiserin aufgrund ihres starken Einflusses auf ihren Mann genannt wird. Sie hat ihrem Gatten eingebläut: «Niemals kannst Du abdanken. Niemals kann ein Herrscher abdanken.» Sie war es auch gewesen, die während des Krieges über ihren Bruder den Kontakt zum Kriegsgegner Frankreich geknüpft hatte. Das bescherte dem Hause Österreich eine handfeste Politaffäre. Seither gilt Zita im Habsburger Reich als «die Französin» oder als «die Italienerin» – was in diesen Kriegs- und Nachkriegsjahren Schimpf und Schande bedeutet.
Als das illustre Paar wenige Minuten zuvor durch Feldkirch fuhr, unterschrieb Kaiser Karl eiligst das «Feldkircher Manifest» – den Widerruf seines Verzichts auf die Regierungsbefugnis. Ebenfalls unter dem Druck seiner Frau. Allerdings ging das «Feldkircher Manifest» nicht an die österreichische Öffentlichkeit, sondern nur an den Papst und an ausgewählte Staatsoberhäupter in Europa. Es war quasi ein Verzicht auf den Verzicht für die Akten.
Er denkt wie ein Zehnjähriger
Die etwas merkwürdige Episode zeigt: Kaiser Karl ist beeinflussbar und wankelmütig. Gerade mal zwei Jahre ist Karl Kaiser von Österreich gewesen, er hat mitten im Ersten Weltkrieg und eher überraschend den 1916 verstorbenen Franz Joseph beerbt. Sein ehemaliger Ministerpräsident Ernest von Koerber fällt ein vernichtendes Urteil über ihn: «Kaiser Karl ist 30 Jahre alt, sieht aus wie ein 20-Jähriger und denkt wie ein 10-Jähriger!»
Weggenossen beschreiben Karl I. als persönlich freundlich, mild, höflich und zugänglich, aber auch als chronisch unpünktlich, unaufrichtig, wankelmütig und unüberlegt. Er ist naiv und völlig unvorbereitet Kaiser und Herrscher über ein Reich mit fünfzig Millionen Menschen geworden.
Schauen wir etwas genauer hin, wie es Karl und Zita nun in der Schweiz ergeht. Am Grenzbahnhof in Buchs nehmen ein Legationsrat und ein Oberst als offizielle Vertreter der Schweiz die österreichischen Blaublüter in Empfang. Dabei untersagen die Schweizer Delegierten dem Ex-Kaiser und der Ex-Kaiserin jegliche politische Tätigkeit im Schweizer Exil. Zudem richten sie die besten Wünsche des Bundespräsidenten aus – dass dieser keine Zeit findet, um Karl und Zita zu empfangen, zeigt den steilen gesellschaftlichen Abstieg, auf dem sich das Kaiserpaar ohne Kaiserreich befindet. Die Berner Woche kommentiert: Es sei «eine Ironie der Geschichte», «dass der Abkömmling der Habsburger Zuflucht findet in dem Lande, aus dem seine Vorväter der demokratischen Kraft haben weichen müssen».
- Wer: Karl I., Kaiser von Österreich und König von Ungarn, geboren als Carl Franz Joseph Ludwig Hubert Georg Otto Maria von Österreich. Zita, letzte Kaiserin (Kaisergattin) von Österreich und Königin (Königsgattin) von Ungarn, geboren als Zita Maria delle Grazie Adelgonda Micaela Raffaela Gabriella Giuseppina Antonia Luisa Agnese von Bourbon-Parma.
- Wann: Er wurde geboren am 17. August 1887, sie am 9. Mai 1892. Er stirbt am 1. April 1922 auf Madeira, sie am 14. März 1989 in Zizers (GR).
- Was: Karl I. regierte zwei Jahre das Kaiserreich Österreich-Ungarn. Weil er aber nie abdankte, trug auch sie ihren Titel bis an ihr Lebensende.
- Wie: Kaiser Karl I. von Habsburg war politisch eine eher schwache Figur, sodass Zita zeitweise politikprägend war.
- Bezug zur Schweiz: Das Ehepaar kam 1919 ins Schweizer Exil, wohnte bis Oktober 1921 in Rorschacherberg, Prangins und Hertenstein. Schliesslich lebte Zita von 1962 bis zu ihrem Tod 1989 in Zizers.
Das Ziel der kaiserlichen Reisegruppe ist das Schloss Wartegg auf dem Rorschacherberg, das Zitas Familie gehört. Schon 1907 war Zita hier zu Gast gewesen. Der Sonderzug fährt ohne Halt von Buchs nach Staad am Bodensee. Als neutrale Begleiter sind englische und schweizerische Offiziere mit dabei. Auf dem letzten, offenen Bahnwagen fährt das Automobil des Kaisers mit.
Um 17.20 Uhr trifft der Zug in Staad ein, der Bahnhofplatz ist «militärisch abgesperrt», wie die Rorschacher Zeitung rapportiert. Zitas Mutter Herzogin Maria Antonia von Bourbon-Parma (1862–1959) nimmt die geflohenen Herrschaften am kleinen Bahnhof in Empfang. Doch das Gefolge der Habsburger ist so zahlreich, dass nicht alle im Schloss Platz finden und deshalb Wohnungen in Rorschach und Staad bevölkern. Eine dauerhafte Lösung ist das allerdings nicht. Auch der Schweizer Bundesrat sähe aus politischen Gründen lieber einen weniger grenznahen Aufenthaltsort.
Trotz beengter Platzverhältnisse erholt sich der Kaiser am Bodensee vorerst von den Strapazen der letzten Kriegsmonate und den politischen Wirren danach, er geht spazieren und wird in Rorschach von Passanten mit «Grüezi, Herr Kaiser!» angesprochen. Die Kaiserfamilie versucht tapfer, sich im neuen Leben im Exil zurechtzufinden, sie macht Ausflüge in die Umgebung und empfängt Besuch vom Disentiser Benediktinerpater Maurus Carnot (1865–1935), einem Freund der Familie.
Das sehr fromme Kaiserpaar stattet auch dem katholischen Kollegium St. Antonius in Appenzell einen Besuch ab. Obwohl diese Visite geheim bleiben soll, finden sich viele Zaungäste ein, die endlich mal eine Kaiserin und einen Kaiser in natura bestaunen wollen, selbst wenn sie gar keine richtigen Kaiser mehr sind. Die Studenten des Kollegiums singen unter anderem das «Alpeliedli» von Pater Franz Huber. Überliefert ist, dass der Kaiser den Dialekttext nicht versteht und sich erkundigt, was ein «Tüpfi» und ein «Chrömli» seien, womit er für grosse Heiterkeit sorgt.
Wieder auf dem Schloss Wartegg, erscheint hoher Besuch: Es sind Abgeordnete von Österreich, der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Polen. Sie bieten dem Ex-Kaiser eine horrend hohe Ablösesumme von 184 Millionen Franken für sämtliche zurückgelassene habsburgische Vermögenswerte an. Dafür verlangen sie als Gegenleistung seine endgültige Abdankung. Karl, von seiner Frau beraten, lehnt schroff ab: Er sieht sich als von Gott eingesetzten Kaiser, und als solcher könne er gar nicht abdanken. Er unterschreibt deshalb nichts und erhält keinen einzigen Rappen oder Schilling seines konfiszierten Vermögens.
Vom Boden- an den Genfersee
Das Schloss Wartegg ist für die Kaiserfamilie mit Entourage zu klein. Deshalb sucht der kaiserliche Hofstaat weiter und findet schliesslich eine neue passende Bleibe: Am 20. Mai zieht die Kaiserfamilie mit ihrem grossen Gefolge an den Genfersee in eine Villa des Schlosses Prangins bei Nyon. Hier wohnt nicht nur die kaiserliche Familie, sondern auch die Mutter des Kaisers, Maria Josepha, ausserdem ein Oberst, verschiedene Gräfinnen, ein Baron, ein Fregattenkapitän und unzählige Bedienstete. Zita und Karl leben noch immer wie am Hof. Die Tagesabläufe sind zeitlich genau festgelegt: Morgens um 7 Uhr werden der Kaiser und die Kaiserin geweckt, um 12 Uhr steht das Mittagessen auf dem Tisch, um 16 Uhr ist der Tee bereit, nur das Abendessen ist nicht genau terminiert und wird auf allenfalls erscheinende Gäste abgestimmt.
In Prangins findet das kaiserliche Ehepaar wieder Zeit für Zweisamkeit. Zwei Kinder kommen in der Schweiz zur Welt, am 5. September 1919 Rudolf, am 1. März 1921 Charlotte. Die Familie besucht Ausflugsorte in der ganzen Schweiz, reist unter anderem zu ihrem ursprünglichen Stammsitz, der Habsburg im Aargau, zudem auch ins Kloster Heiligkreuz in Cham im Kanton Zug, nach Fribourg, aber auch nach Disentis.
Das Leben in der Schweiz mit dem Hofstaat und den Reisen kostet Geld, das der gestürzte Kaiser nicht hat, zumal er auf die angebotene Ablösesumme verzichtet hat. Er ist bloss mit 7000 Franken Bargeld eingereist. Allerdings hat sein Oberstkämmerer Leopold Graf Berchtold in weiser Voraussicht im November 1918 in vier grossen Koffern die privaten Bestände der kaiserlichen Schatzkammer sowie kaiserliche Kronjuwelen von Wien zur Schweizerischen Nationalbank gebracht. So lässt die Kaiserfamilie über abenteuerliche Kanäle immer wieder eines ihrer Schmuckstücke verkaufen, damit genügend Bargeld zur Verfügung steht.
Auch wenn das Leben des abgehalfterten Kaisers nach aussen sehr geruhsam wirkt, ist Karl doch politisch tätig, was ihm eigentlich nicht erlaubt wäre. Seine Frau ermuntert ihn dazu. Der Ex-Kaiser korrespondiert mit dem Papst und vor allem mit Monarchen und Ministern in ganz Europa. Dabei bemüht er sich wortreich darum, dass Österreich nicht komplett zerstückelt wird. Er sondiert ständig nach Möglichkeiten, sich als König und Kaiser wieder ins Spiel zu bringen. Auch setzt er sich wiederholt für die Heimkehr von österreichischen Kriegsflüchtlingen ein.
Um innerhalb des Habsburger Familienclans klare Verhältnisse zu schaffen, beruft Karl für den 27. Oktober 1919 ein Treffen der Vertreter der Familie Habsburg ein: Die Erzherzöge Max, Friedrich, Albrecht und Eugen kommen nach Olten und fällen den Beschluss, Karl als ihr Oberhaupt des Hauses Österreich anzuerkennen. Sie distanzieren sich damit von Familienmitgliedern, die eine Verzichtserklärung auf habsburgische Ansprüche geleistet haben.
In der Folge läuft die Geheimdiplomatie des Ex-Kaisers auf Hochtouren, denn dieser heckt waghalsige Pläne aus. Am Morgen des Gründonnerstags am 24. März 1921 besucht er brav den Gottesdienst. Anschliessend gibt er vor, es sei ihm nicht wohl, und zieht sich zurück – eine Finte! Statt sich auszuruhen, reist Karl von Prangins in Richtung Jura, wo er zu Fuss die grüne Grenze überquert.
Bei Gex wartet ein Auto, das ihn nach Strassburg bringt. Er trägt zwei gefälschte Pässe auf sich, einen spanischen, lautend auf Sanchez, und einen des amerikanischen Roten Kreuzes auf den Namen Wiliam Codo. In Strassburg besteigt er den Nachtzug nach Wien. Dort übernachtet er bei einem befreundeten Grafen und reist dann weiter nach Ungarn, getarnt mit Autobrille und Schminke wie an einem Faschingsball. Endlich trifft er an seinem Reiseziel Budapest ein.
Hastig beruft er ein Gipfeltreffen mit führenden Politikern Ungarns ein. Dabei zeigt sich rasch, dass Karl seine Position völlig verkannte. Er hatte an eine friedliche Machtübergabe der ungarischen Regierung an ihn geglaubt – und steht nun mit dieser Einschätzung fast alleine da. Sein Putsch scheitert kläglich.
Karl kehrt daraufhin reumütig an den Genfersee zurück. Der missratene Putschversuch hat unterdessen auch in der Schweiz für Schlagzeilen und Irritationen gesorgt. So reicht etwa der links politisierende Robert Grimm eine Interpellation im Nationalrat ein. Darin stellt er sich offen gegen ein weiteres Asyl des Kaisers in der Schweiz, dieser habe sein Gastrecht für politische Händel missbraucht. Das trifft ja auch zu. Doch der Bundesrat bekräftigt das Asylangebot. Der Waadtländer Staatsrat hingegen entscheidet anders und erklärt den Kaiser in seinem Kantonsgebiet zur unerwünschten Person.
Aus Naivität Millionen verloren
Deshalb muss die kaiserliche Familie im April 1921 wieder einen neuen Aufenthaltsort suchen. Dazu reist sie in die katholische Innerschweiz, die weit genug von der Grenze entfernt ist. Zita, Karl und ihr Gefolge treffen zuerst in Luzern ein, im Grandhotel National, für die Reisenden nur eine Durchgangsstation. Von dort geht es weiter ins Schlosshotel Hertenstein bei Weggis, dem markanten Gebäude mit Treppengiebel und Türmchen direkt am See. Es ist gross genug, um die Familie mit ihrem rund hundertköpfigen Hofstaat zu beherbergen. Karl teilt dem Bundesrat mit, dass er beabsichtige, nur noch drei bis vier Monate im Land zu bleiben – doch schliesslich werden es sechs Monate am Vierwaldstättersee. Die Rechnung für das Schlosshotel allein beläuft sich auf mehr als 100 000 Franken.
In den Medien sind die Meinungen geteilt: Ist das Exil des Kaisers, wie es heisst, ein «wichtiger Beitrag zur Erhaltung des Friedens in Europa»? Oder eher das Gegenteil? Dem eilig aus Bern angereisten Staatssekretär versichert der ehemalige Monarch, sich «jedwelcher politischen Tätigkeit» zu enthalten. Das ist zwar eine schamlose Lüge, welche die Schweizer Regierung jedoch akzeptiert, so lange mögliche Unternehmungen seinerseits nicht nach aussen dringen.
Für äussere Aufregung sorgt am 1. August eine Entlebucher Gesangsgruppe, die einen «spontanen Einfall» hat: Sie singt am Schweizer Nationalfeiertag vor dem Schlosshotel ein paar Lieder als Hommage an die Kaiserfamilie, unter anderem die alte, österreichische Nationalhymne von Joseph Haydn. Der Ex-Kaiser und die Ex-Kaiserin erscheinen mit dem Gefolge auf dem Balkon und an den Fenstern und winken den Sängerinnen und Sängern freundlich zu. Als sich in der Öffentlichkeit darüber Ärger breitmacht, ausgerechnet am Schweizer Nationalfeiertag einem ausländischen Monarchen zu huldigen, erklärt ein Musikexperte, es habe sich nicht um «Gott erhalte Franz den Kaiser» gehandelt, sondern um ein anderes Lied, das diesem zum Verwechseln ähnlich klinge …
In die Hertensteiner Zeit fällt eine weitere Episode, die den Ex-Kaiser wieder von seiner eher naiven Seite zeigt. Karl lässt Wertpapiere aus Österreich in die Schweiz schmuggeln und von einer Zürcher Finanzgesellschaft verhökern. Dummerweise geht der beauftragte Finanzjongleur Oswald A. Schlegel plötzlich in Konkurs – Karl verliert 16 Millionen Kronen, sein Bruder Max 4 Millionen. Die Blaublüter schreiben die Millionen stillschweigend ab, um kein Aufsehen zu erregen und nicht dumm dazustehen.
Die kaiserlichen Kinder kümmert das väterliche Finanzgebaren nicht, sie leben sich am Vierwaldstättersee gut ein. Die Söhne Otto und Robert ministrieren in der Hauskapelle des nahen Instituts Stella Matutina. Auch der Rest der Familie und der Hofstaat richten sich auf einen längeren Aufenthalt ein, im Schlosshotel wird sogar eine elektrische Heizung für den kommenden Winter eingebaut.
Und wieder hält sich Karl nicht an die ihm auferlegte politische Abstinenz. Die Drähte der Schattendiplomatie laufen erneut heiss. Der gestürzte Kaiser bereitet von Hertenstein aus den nächsten Putschversuch in Ungarn vor, obwohl er permanent bewacht wird. Aber der Luzerner Wachtmeister Fritz Huwiler drückt am 20. Oktober 1921 beide Augen zu, als Zita und Karl ihre Koffer packen und mühelos von Hertenstein nach Dübendorf reisen, wo sie eine Junkers F13 der Fluggesellschaft Ad Astra Aero besteigen und nach Ungarn fliegen.
Auch dieser Umsturzversuch misslingt kläglich; das kaiserliche Ehepaar hat seine Position schon wieder massiv überschätzt. Zita und Karl werden in Budapest verhaftet und in Arrest genommen.
Doch Detektiv Huwiler, der faktisch als Fluchthelfer fungierte, erhält eine wertvolle, goldene Taschenuhr mit einer Zifferblattabdeckung geschenkt, die mit der Kaiserkrone und einem Brillanten besetzten «K» verziert ist. Sie ist heute im Kloster Muri ausgestellt.
Zita und Karl dürfen nach dieser Episode nicht mehr zurück in die Schweiz, sie haben ihr Bleiberecht nun endgültig verscherzt. Ihre sieben Kinder sind noch immer im Schlosshotel Hertenstein; man bringt sie nun vom Vierwaldstättersee ins Schloss Wartegg an den Bodensee.
Zita und Karl werden von den ungarischen Polizeibehörden auf ein Schiff gebracht, das die Donau hinab bis in die Türkei fährt. Von dort geht es weiter durchs Mittelmeer auf die Atlantikinsel Madeira. Der Gedanke, der dieser Reise zugrunde liegt: DasExil soll so weit von Österreich entfernt liegen, dass der gewesene Kaiser nicht nochmals einen Putschversuch lancieren kann. Am 19. November treffen Zita und Karl in Funchal auf Madeira ein. Die Kinder müssen noch immer in der Schweiz bleiben und reisen erst im Februar 1922 nach.
Nach dem verlorenen Weltkrieg und nach den zwei gescheiterten Putschversuchen geht es dem Kaiser auf der portugiesischen Atlantikinsel Madeira nicht gut. Er, der schon zuvor eine schwache Gesundheit hatte, ist immer wieder krank und erleidet nun sogar eine Lungenentzündung, die ihn ernsthaft schwächt. Am 1. April stirbt Karl I. in seinem 35. Lebensjahr. Zita ist nun sehr früh Witwe geworden, hat sieben Kinder und erwartet das achte. In den kommenden 67 Lebensjahren wird sie nur noch schwarze Kleider tragen.
Die eiserne Lady
«Kaiserin Zita», wie sie sich nach wie vor nennt, lebt danach in Spanien, Belgien, Kanada und Luxemburg, sie zieht ihre acht Kinder gross, reist viel umher, hält Vorträge über das Haus Habsburg und sammelt in Krisenzeiten Geld für Hilfswerke.
Machen wir einen Zeitsprung in die 1960er-Jahre, Zita ist mittlerweile siebzigjährig. Immer mal wieder versucht sie, ihren Sohn und Rechtsnachfolger Otto von Habsburg als Monarchen oder wenigstens als Kanzler vorzuschlagen. Sie selbst beharrt all die Jahre und Jahrzehnte darauf, «Kaiserin Zita» zu sein und will mit «Ihre Majestät« angesprochen werden. Sie verzichtet nie auf ihren Thronanspruch und dankt formell nicht ab.
Deshalb ist es ein grosser Bruch mit der Familiengeschichte, als ihr erstgeborener Sohn Otto von Habsburg 1961 formell auf alle Thronansprüche verzichtet – ausdrücklich gegen den Willen seiner Mutter. Otto nennt sie in Interviews «eine eiserne Dame» und vergleicht sie mit «Iron Lady» Margaret Thatcher: «Meine Mutter war aus dem gleichen Holz geschnitzt.»
Nach Ottos Verzichtserklärung wirkt Zita vom vergeblichen Kampf um das Haus Habsburg müde. Der konservative Bischof von Chur, zu dem sie gute Beziehungen pflegt, rät ihr 1962, sich im bündnerischen Zizers in der Schweiz niederzulassen. Konkret schlägt er das St. Johannes-Stift im ehemaligen Schloss der Bündner Adelsfamilie von Salis vor, das mit dem runden Kuppelturm von Weitem zu sehen ist. Zita weilt damals gerade mit Enkel Lorenz in Davos, der sich dort von seinem Asthma erholen soll. Zizers liegt nahe der österreichischen Heimat und ist gut erreichbar für ihre Kinder, die in Oberbayern, München, in der Steiermark, in Paris und Brüssel wohnen.
Deshalb stimmt Zita dem Vorschlag des Bischofs zu. Ab 1962 bewohnt sie nun mit ihrer Schwester Isabella Prinzessin von Bourbon-Parma und mit Gräfin Kerssenbrock drei schlichte Zimmer mit Veranda im zweiten Stock. Das St. Johannes-Stift ist eine Art Altenheim. Zita hat hier keine Privilegien ausser einem eigenen Speiseraum.
Jeden Morgen besucht sie mit den anderen Hausbewohnern die Messfeiern in der grossen Hauskapelle. Beim Spazieren geht sie – schwarz gekleidet und mit Hut – zuweilen in die Dorfbäckerei, wo sie einen «Striezel», einen Hefezopf verlangt. Offenbar kann sie von Zizers aus die Berge Österreichs sehen und lässt sich zuweilen in Richtung der österreichischen Grenze fahren, wo sie noch mehr von ihrer alten Heimat zu sehen bekommt. Gelegentlich wird sie von einem Auto für ein Mittagessen auf Schloss Vaduz abgeholt und jeweils am Ostertag für ein Treffen mit Bischof Johannes Vonderach in Chur.
Zita von Bourbon-Parma feiert in Zizers ihren 80. Geburtstag zusammen mit Kardinal Josef Mindszenty. Ihren 90. begeht sie mit Bischof Bruno Wechner von Feldkirch und den 95. feiert sie mit Bischof Vonderach von Chur, umgeben von 86 Familienangehörigen. Weil die Habsburger Nachkommen so zahlreich sind, findet dieses Fest nicht im Schloss von Zizers statt, sondern in der gewöhnlichen Turnhalle der Gemeinde.
Mit ihrem 90. Geburtstag bekommt Zita endlich die Erlaubnis, erstmals seit 1919 wieder nach Österreich zu reisen. Obwohl sie noch immer nicht auf ihre Ansprüche verzichtet, erlaubt der österreichische Kanzler Bruno Kreisky die Reise in ihre alte Heimat. Zita hat sich, einmal mehr, durchgesetzt und meint: «Kein Mensch kann erahnen, was das für mich bedeutet.»
Nach 63 Jahren Verbannung reist sie 1982 erstmals wieder nach Österreich. Als Zita nach Wien kommt, jubeln ihr Tausende zu. Auch in Mariazell, Innsbruck und Lienz wird sie mit Hurra-Rufen empfangen. Es ist ein später Triumphzug für die alte Monarchin. Schliesslich weilt sie für ein paar Wochen bei der Familie ihrer Tochter Elisabeth Prinzessin von Liechtenstein auf Schloss Waldstein bei Graz.
Nach dieser Genugtuung verbringt die neunzigjährige Frau einen geruhsamen Lebensabend in Zizers. Sie, die so gerne gelesen und unzählige Briefe geschrieben hat, leidet an abnehmendem Sehvermögen und erblindet allmählich ganz. Eine Frau aus dem Dorf besucht Zita regelmässig, um ihr die Zeitung vorzulesen. Zita hat übrigens nirgends so lange gelebt wie in Zizers, nämlich 27 Jahre. Schliesslich stirbt die Monarchin am 14. März 1989 im Alter von 96 Jahren, als Mutter von 8 Kindern, Grossmutter von 32 Enkelkindern und Urgrossmutter von 48 Urenkelkindern.
Eine bemerkenswerte Herzensangelegenheit
Ihr Leichnam wird zuerst nach Chur ins Kantonsspital gebracht. Dort wird er einbalsamiert, indem das Blut durch Formalin ersetzt wird. Zudem entnehmen ihm die Spezialisten das Herz, konservieren es und legen es in einen silbernen Behälter, der speziell dafür angefertigt wurde; das entspricht einer habsburgischen Gepflogenheit, die auf Normalsterbliche etwas merkwürdig wirkt. Danach geht der einbalsamierte Leichnam nach Muri im Freiamt, wo er während zwölf Tagen aufgebahrt wird.
Zitas Herz übrigens bleibt in der Schweiz. Es wird während einer separaten Trauerfeier in der Loretokapelle im aargauischen Muri beigesetzt. Die Beisetzung des Herzens ist quasi eine Herzensangelegenheit, sodass die Klosterkirche auch bei dieser Feier übervoll ist. Deshalb finden die vielen Kinder des Hauses Habsburg keine Sitzplätze. Sie müssen während des ganzen Gottesdienstes auf dem harten Boden knien.
Zitas Leichnam geht auf die nächste Reise. Am 22. März wird in Chur ein Pontifikalrequiem gefeiert, bevor die sterblichen Überreste nach Wien überführt werden. Dort wird die Leiche im Stephansdom aufgebahrt. Über 150 000 Menschen tragen sich in Wien in die Kondolenzbücher ein, eine unglaublich hohe Zahl, wenn man bedenkt, dass Zita nur zwei Jahre Kaiserin war, nämlich von 1916 bis 1918. Zum Requiem im Dom strömen Tausende, und Zehntausende säumen die Strassen, als sechs schwarze Hengste den kaiserlichen Hofleichenwagen durch die Innenstadt Wiens ziehen. Die Fernsehstationen in ganz Europa übertragen die fünfstündige Trauerfeier live.
Die längst tot geglaubte Habsburgermonarchie scheint der Welt aus Zitas Sarg gleichsam ein letztes Mal sanft zuzuwinken.
Blaues Blut. Royale Geschichten aus der Schweiz», Michael van Orsouw, Verlag Hier und Jetzt, 2019, CHF 39.–. www.hierundjetzt.ch
- Königin Astrid von Belgien
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