Wie ein Schweizer Volksheld Wilhelm II., Kaiser Deutschlands und König von Preussen

Aus dem Buchband «Blaues Blut. Royale Geschichten aus der Schweiz» von Michael van Orsouw. Erschienen im Verlag Hier und Jetzt.

Vorwort von Beat Gugger und Bruno Meier

Während Wochen hat sich die Stadt Zürich herausgeputzt. An der Bahnhofstrasse steht ein hölzerner Ehren- und Triumphbogen, ebenso am Alpenquai, dazu eine Allee mit weissroten und schwarzweissroten Masten beim Bahnhof, zudem tragen die Häuser zwischen Hauptbahnhof und der Villa Rietberg im Enge-Quartier festlichen Schmuck, etwa geflochtene Kränze, farbige Schleifen oder Fahnen. «Um halb 4 Uhr wogte es wie ein Menschenmeer die Strassen auf und ab. Eine halbe Stunde später schon mochte man sich kaum durchzuwinden», berichtet ein Reporter: «Wer seiner eigenen Grösse nicht traute, der nahm einen Sessel, eine kleine Treppe, Bockleiter, eine Bank oder eine wirkliche und regelrechte Kiste mit sich.» 

Es sind nicht nur Tausende oder Zehntausende, sondern sogar Hunderttausende, die dem Monarchen auf Zürichs Strassen zujubeln – ihm, dem deutschen Kaiser Wilhelm II. Es ist kaum zu glauben, was sich in Zürich angesichts des kaiserlichen Besuchs abspielt. Hören wir nochmals dem Augenzeugen zu: «Die Fenster und Balkone an den Häusern die ‹Kaiserstrassen› entlang waren zum Erdrücken voll gepfropft, selbst bis in die Mansarden und Zinnen hinauf waren die Leute gestiegen, alle in festlicher Erwartung.»

Wilhelm II.
Wilhelm II. © wikimedia commons

Der Aufwand hat sich gelohnt, es wird ein publikumswirksames Spektakel geboten. Punkt 17.29 Uhr fährt der blaugelb bemalte Kaiserzug an diesem 3. September 1912 in den Hauptbahnhof Zürich ein, die Stadtmusik Zürich spielt die deutsche Nationalhymne «Rufst Du mein Vaterland», das Militär feuert Böllerschüsse ab, das Schützenbataillon schmettert Trompetenklänge in den Himmel. Schon auf dem Bahnsteig, der mit Perserteppichen ausgelegt ist, schüttelt der deutsche Kaiser dem Schweizer Bundespräsidenten Ludwig Forrer die Hand, überaus kräftig und herzlich, wie es Kaiser Wilhelm mit seiner Rechten zu tun pflegt (unbewusst überdeckt er damit wohl die Behinderung seiner Linken). Die unbeschreiblich grosse Menge auf dem Bahnhofplatz gerät ausser sich, als Wilhelm II. Minuten später zu sehen ist; sie jubelt «Bravo!», schreit «Hurra!», winkt, schwenkt Taschentücher, Hüte und kleine Flaggen, «Hoch lebe der Kaiser!» wird tausendfach skandiert.

Es ist ein ungleiches Paar, das daraufhin die strammstehende Ehrenkompanie abschreitet: auf der einen Seite der Kaiser mit seinem kunstvoll nach oben gezwirbelten Schnurrbart, gekleidet in eine schneidige Gardeuniform mit farbigen Kordeln, glitzernden Medaillen und Abzeichen; auf der anderen der Schweizer Bundespräsident Forrer mit seinem weissen Vollbart, langem, schwarzen Mantel und Zylinder. Das Bild der beiden Männer spricht Bände: hier der herbe, militärische Glamour der Monarchie, dort die fade, behäbige Biederkeit der Demokratie

Gut zu wissen

  • Wer: Wilhelm II. Deutscher Kaiser und König von Preussen. Geboren als Friedrich Wilhelm Viktor Albert von Preussen.
  • Wann: Geboren am 27. Januar 1859 in Berlin, gestorben am 4. Juni 1941 im Exil im niederländischen Doorn.
  • Was: Er war 1888–1918 der letzte Kaiser Deutschlands.
  • Wie: Er war dreissig Jahre deutscher Kaiser, seine Regierungszeit wird nach ihm benannt und heisst Wilhelminische Epoche. Er versuchte mit militärischer Aufrüstung und Forcierung der Kolonialpolitik, Deutschlands Position in der Weltpolitik zu sichern – allerdings mit mässigem Erfolg.
  • Bezug zur Schweiz: Kaiser Wilhelm II. bereiste zwei Mal die Schweiz, 1893 sowie – sehr öffentlichkeitswirksam – im September 1912.

Dass die offenkundige Verschiedenartigkeit der beiden in die Welt hinausgetragen wird, dafür sorgen Dutzende von Fotografen mit ihren grossen Kameras und auch filmende Kameraleute, die um die Hauptpersonen herumwieseln. Über hundert Journalisten haben sich akkreditiert. Hier zeigt sich konkret, dass der Kaiser ein ausgebuffter Medienprofi ist. Er kennt viele Presseleute und deren Ansprüche, posiert mediengewohnt für ein bis zwei Minuten neben dem Bundespräsidenten, dem das viele Klicken und das Schnurren der Kameras offensichtlich unangenehm ist. Der Kommandant der Ehrenkompanie ist Hauptmann Friedrich Moser-Guhl – er wird fortan sein Lebtag lang «Kaiser Moser» heissen. 

Neun Automobile stehen bereit, der Kaiser steigt in das zweitvorderste und lässt sich feierlich durch die Stadt Zürich chauffieren. Aus Sicherheitsgründen fährt der Konvoi einen anderen Weg als angekündigt, zur grossen Enttäuschung des dadurch fehlgeleiteten Publikums. Einzelne haben Fensterplätze in ihrem Haus für teure fünfzig Franken vermietet, andere ihre Balkone feilgeboten, einer soll sogar tausend Franken dafür verlangt haben. Wo der Kaiser durchfährt, grüsst er winkend die jubelnde Menge, über die sich der linke Arbeiterführer Karl Liebknecht nur noch wundert: Zürich hätte den Kaiser «wie einen Messias» begrüsst! 

Dazu muss man wissen: Zürich ist zu dieser Zeit auch eine Stadt der Deutschen. 42 000 Deutsche leben 1912 in Zürich, das sind 21,2 Prozent der Stadtzürcher Bevölkerung. Doch sind es beileibe nicht nur deutsche Landsleute, die ihrem Kaiser mit Begeisterung huldigen, wie sich auch in den folgenden Tagen zeigen wird.

Zickzack fahrender Schwächling

Doch bevor wir von den nächsten Stationen der wilhelminischen Reise durch die Schweiz berichten, werfen wir einen genaueren Blick auf den so frenetisch bejubelten Monarchen. Kaiser Wilhelm II. hat 1912 den Zenit seiner Kaiserzeit bereits überschritten. Er ist seit 24 Jahren Kaiser, sein Charakter wird selbst von Wohlgesinnten als sehr schwierig beschrieben. Wilhelm II. sei egozentrisch, launisch und unberechenbar, er zieht sich bis zu fünf Mal pro Tag um, redet ohne Punkt und Komma und ohne zuzuhören, seine Aussagen sind ebenso wechselhaft wie seine Garderobe. Sein Übername lautet «Wilhelm der Plötzliche», weil er plötzlich seine Meinung zu ändern pflegt.

Er umgibt sich mit Speichelleckern und Einflüsterern, er regiert und reagiert fahrig, wankelmütig und aggressiv. Im einen Moment ist er charmanter Causeur, im nächsten wütender Berserker. Er gilt als ungeschickter, naiver Provokateur. In der nichtdeutschen Welt gilt er als Inbegriff des hässlichen Deutschen. Alles an ihm wirkt gross und laut, er ist so diskret wie ein Kanonenschuss. Ein einst befreundeter Graf charakterisiert Wilhelm II. so: Er gebe «das Bild eines Schwächlings, Feiglings, brutalen Strebers» ab, «eines Hohlkopfs und Aufschneiders». 

Das mag alles übertrieben sein, doch 1912 – im Jahr des Kaiserbesuchs in der Schweiz – hat Wilhelm in seinem Kaiserreich unzählige Affären und Skandale überstanden, etwa die Eulenburg-Affäre in den Jahren 1907 bis 1909, bei der ein homoerotischer Zirkel im Kaiserviertel ausgehoben wurde. Auch aussenpolitisch hat er mit seiner undiplomatischen Art viel Goodwill zerstört, zum Beispiel 1908 mit einem Interview im Daily Telegraph, als er die Engländer pauschal beleidigte und damit eine Staatskrise heraufbeschwor – ausgerechnet er, der einer der vielen Enkel der englischen Queen Victoria ist. 1911 provozierte er die Franzosen mit einem deutschen Kanonenboot vor der marokkanischen Küste. Und 1912 versuchte Wilhelm England aus dem Bündnis mit Frankreich herauszulotsen, indem er erpresserisch mit seiner aufgerüsteten Flotte drohte. 

Die Folge dieses Handelns: Wilhelm II. ist, als er die Schweiz besucht, international isoliert und wirkt unglaubwürdig, sein Zickzackkurs führt in der internationalen Politik zu Unverständnis und mitleidigem Kopfschütteln, die Autorität der deutschen Monarchie erodiert mehr und mehr. Das erinnert an den Schwedenkönig Gustav IV. Adolf vor seinem Sturz. Doch der deutsche Kaiser kann sich an der Macht halten, obwohl er 1912 politisch gesehen ein eigenartiger Aussenseiter ist. Aber er ist ein Aussenseiter mit viel Macht und einer grossen Portion Verrücktheit.

«Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist.»

Matthäus-Evangelium

Umso erstaunlicher ist, in diesem Licht betrachtet, der uneingeschränkte Jubel, der ihm in Zürich und auf allen weiteren Stationen in der Schweiz entgegenbrandet. Nach dem Empfangstag in Zürich folgt das Kernstück seiner Schweizer Reise: das grosse, zweitägige Militärmanöver in der Ostschweiz, ein Art Schaulaufen der Schweizer Armee für den hohen Besuch. Die «Blauen» kämpfen im Gebiet um Kirchberg bei Wil im Kanton St. Gallen gegen die «Roten». Die Divisionen fünf und sechs sind im Einsatz, insgesamt 1309 Offiziere, 22 645 Unteroffiziere und Soldaten sowie 5755 Pferde beteiligen sich am grossen Manöver. Schüsse fallen, Gewehre knattern, Geschütze böllern, Offiziere brüllen, Wehrleute rennen. Die Divisionen pirschen sich heran, eröffnen den Kampf, ziehen sich zeitweilig zurück, stossen wieder vor, sie schleichen umeinander wie die Katze um ihre Beute. 

Endlich trifft ein Automobil auf der Hügelkuppe Hüsligs südlich von Kirchberg am äussersten Zipfel des Toggenburgs ein: «Dort oben stieg ein wohlgewachsener uniformierter Mann aus dem Wagen», schreibt später der bekannte Schriftsteller Meinrad Inglin in seinem Monumentalwerk «Der Schweizerspiegel», «wandte sich auf dem Trittbrett auffällig lachend noch einmal den übrigen Insassen zu, mit einer witzigen Bemerkung vielleicht, betrat dann den Erdboden und ging festen Schrittes zur Böschung, wo er stehenblieb. Während dieser wenigen Schritte erstarb sein Lachen, der letzte Rest von Heiterkeit wich aus seiner Miene.» Natürlich – es handelt sich um Kaiser Wilhelm II. höchstpersönlich. Seither heisst die Anhöhe Hüsligs bei Kirchberg «Kaiserhügel».

Die Heiterkeit weicht bald, weil der Kaiser in ernster Mission unterwegs ist. Er will mit seinem preussischen Generalstab prüfen, wie leistungsfähig die Schweizer Armee ist. Denn in Berlin bereitet man nichts weniger als einen neuen Krieg gegen Frankreich vor. Dabei ist es wichtig zu wissen, wie kriegstüchtig die Schweiz ist. Wilhelms Generäle beabsichtigen, via Belgien in Frankreich einzufallen; dieser Plan funktioniert aber nur, wenn die Schweiz standhält, sofern die Franzosen über die Schweiz in Süddeutschland eindringen wollen.

Kaiser Wilhelm II in Bern
Wilhelm II. in Bern © ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Schlagfertiger Appenzeller

Von diesen Hintergedanken wissen die Schweizer nichts. Die deutschfreundlich gesinnte Armeespitze um Oberstkorpskommandant Ulrich Wille versucht, dem Kaiser die Schweizer Armee von der besten Seite zu zeigen. Um die Neutralität zu wahren, will die Armeespitze den Eindruck vermeiden, die Manöver würden nur für den deutschen Kaiser und seine Entourage veranstaltet. Deshalb lädt man auch hohe Offiziere anderer Staaten ein – sie werden in ihren farbigen Uniformen einen bleibenden Eindruck in der Ostschweiz hinterlassen. 

Der Held des Feldmanövers ist und bleibt dennoch der Kaiser. Er spricht ungezwungen mit Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren, die ihm mit schweizerischer Freundlichkeit jede gewünschte Auskunft erteilen. Er lässt sich das Gewehr der Schweizer demonstrieren, fragt die Soldaten nach den Reichweiten der Geschütze und will wissen, in welcher Zeit sie den Schützengraben ausgehoben hätten. 

Einen Appenzeller Soldaten im Schützengraben fragt Wilhelm: «Wie viele Soldaten hat Eure Armee?»
«Rund 300’000 Mann.»


Der Kaiser antwortet: «Was würden Sie tun, wenn ich mit 300’000 Mann käme?»
«Wir würden schiessen.»


Darauf der Kaiser: «Was würden Sie tun, wenn wir mit 600 000 Mann anrückten?»
«Nachladen und nochmals schiessen.»

Weniger schlagfertig ist ein Schweizer Feldprediger. Er nippt gerade an seiner Schnapsflasche, als er vom Kaiser überrascht wird. «Aha», ruft Wilhelm guter Laune, «Ihr seid auch einer von denen, die Wasser predigen und Wein trinken!» Der Geistliche wehrt sich, nachdem die Episode ihren Weg in die Presse gefunden hat: Er habe gar nicht getrunken, denn die Flasche sei leer gewesen und zudem gar nicht von ihm.

Die ganzen Militärmanöver kranken an einem zentralen Punkt: an der Popularität des Kaisers. In der Ostschweiz grassiert wie schon in Zürich ein regelrechtes Kaiserfieber. Um einen Blick auf Wilhelm II. zu ergattern, kommen allein am ersten Manövertag 35 Extrazüge in Wil an. Rund 100 000 Besucher verteilen sich im Manövergelände als Schlachtenbummler – für einmal stimmt dieses Wort buchstäblich. Sogar Ferdinand Graf von Zeppelin kommt mit seinem Luftschiff zu Besuch.

Die Zuschauer behindern die Soldaten bei ihrem Manövereinsatz, indem sie sich ihnen in den Weg stellen, mitten auf den Gefechtsfeldern picknicken oder die Durchgänge versperren, Kinder spielen Krieg und laufen im Takt der Trommelschläge den Soldaten hinterher. Oder wie es der Beobachter Meinrad Inglin beschrieb: «Sie zerstörten die Illusion eines wirklichen Kampfes, die notwendig ist, wenn die Übung nicht zum Gefechtexerzieren oder gar zu Spielerei werden soll, sie verleideten der Truppe das kriegsgemässe Verhalten und ironisierten durch ihre blosse Gegenwart die eben dargelegte Lage.» Manche Zaungäste packt angesichts des gespielten Kriegs sogar der heilige Eifer, und sie stürzen sich wie übermütige Knaben in den Kampf, gemeinsam mit den anstürmenden Truppen.

Am Ende des ersten Manövertags steht für den Kaiser noch eine Stippvisite in der Kartause Ittingen auf dem Programm. Wieder stellt sich «eine ungeheure Menge Schlachtenbummler» in den Weg. Der damalige Gastgeber und Besitzer der Kartause ist Oberst Victor Fehr. Dieser lässt sich nicht lumpen und installiert speziell für den hohen Gast ein schönes Wasserklosett mit Holzumrandung und Spülvorrichtung, was damals eine Seltenheit ist. Nach einem Imbiss im Refektorium bewegt sich die kaiserliche Gesellschaft zurück nach Zürich, wo sie erneut von «einer vieltausendköpfigen jubelnden Volksmenge» empfangen wird. Wilhelm II. wohnt wie schon in der Nacht zuvor und in der darauffolgenden Nacht in der Villa Wesendonck (heute Museum Rietberg) bei Berta Rieter-Bodmer, der Witwe von Fritz Rieter, dem reichen Bankier und Handelsherrn. Auf dem Anwesen wohnt damals übrigens auch Ulrich Wille junior, der Sohn des Schweizer Armeechefs und Gatte von Rieters Enkelin.

Volksmassen und 3000 Raketen

Der Tag ist noch immer nicht zu Ende. Später am Abend geht der Kaiser nämlich an Bord der «Stadt Zürich» und lässt sich über den Zürichsee schiffen. Wiederum sind Hunderttausende auf den Beinen. Ebenfalls auf dem Schiff befinden sich Vertretungen von Bundesrat, Stadtrat und Regierungsrat, viele eidgenössische Räte und andere wichtige Leute. Aber auch die Kriminalpolizei ist vor Ort, weil man seit der Ermordung von Sisi auf Schweizer Boden vor Attentaten auf der Hut ist.

Zu Ehren des Kaisers erleuchtet um 20.40 Uhr ein fulminantes Feuerwerk den Nachthimmel – nicht weniger als 3000 Raketen zischen hoch, knallen und verbreiten gute Laune. Die Neue Zürcher Zeitung bilanziert: «Zürich wird auch an bewegtesten Tagen noch nie so etwas gesehen haben. Der Wucht der Massen waren die Beamten und Angestellten nicht mehr gewachsen. Perrons und Schienen wurden im Sturme genommen und überflutet und die Eisenbahnwagen noch im Laufen besetzt.»

Auch am nächsten Tag steht ein militärisches Manöver auf dem Programm. Kaiser Wilhelm II. wird nach einem grossen Empfang in Wil ein «Manöver-Frühstück» auf dem Ölberg bei Wil serviert, in einem Pavillonzelt für 150 Personen. Um 9.15 Uhr lässt Gefechtschef Wille zum Zapfenstreich blasen, also zum Abbruch der Übung. Die bevorstehende Abreise des Kaisers veranlasst den Oberstkorpskommandanten zu diesem Schritt. 

Das Manöver scheint seinen Zweck erfüllt zu haben. Kaiser Wilhelm zeigt sich in seinen offiziellen Äusserungen beeindruckt von der Leistungsfähigkeit der Schweizer Armee – oder ist es nur höfliche Diplomatie? 103 Pressevertreter aus der Schweiz, 54 aus dem Ausland, 44 Fotografen und 6 Maler berichten ausführlich über die «Kaisermanöver». 

Doch hinter den Kulissen sind bei den Militärprofis auch kritische Stimmen zu hören: Die Menge der Schlachtenbummler wird ebenso gebrandmarkt wie die Anwesenheit von «Damen» im Manövergelände, militärisch hinterfragt wird die kurze Ausbildungszeit der Schweizer Soldaten sowie gewisse Unsicherheiten in der Führung, sodass eine Berufsarmee die Schweizer Milizarmee locker überflügeln dürfte. Das Berner Intelligenzblatt meint: Die Truppenübung trage «unverkennbar die Signatur eines für den Besuchszweck vorbereiteten Schauspiels, und in der Durchführung fehlte es auch nicht an Momenten, denen man die Orientierung nach dem Standort des hohen Gastes deutlich anmerkte». 

Dennoch fällt das Fazit insgesamt positiv aus, stellvertretend dafür sei die Frankfurter Zeitung zum Zustand der Schweizer Truppen zitiert: «Zierlich sind sie nicht, aber man erkennt in ihnen mit Leichtigkeit die kampfstarken Nachkommen der für ihre Freiheit ringenden und siegenden Vorfahren. Gewiss sieht man wenig Strammheit in der Haltung, wie sie der Paradedrill erzeugt, aber die lose Haltung ist meiner Ansicht nach weniger die Folge unmilitärischen Fühlens, sondern mehr diejenige der Schwere des Knochenbaus und der Glieder.» 

Und in der St. Galler Zeitung Die Ostschweiz reimt der «Gadesepp»:

«Jedi Zitig, jedes Land
Redt jetz vo de Schwiz.
Rüehmt und hebt zum Himmel fast
Üseri Miliz.
Wemmr au a Platz und Volk
Bloss en chline Staat,
Simmr glich für Land und Lüt
Zue me Krieg parat.
[…] Und die alte Schwizerfüüst
Sind no härt wie Stei:
Jedem, won üs z’noch cho will,
Zündid’s g’hörig hei.
Au em dütsche Kaiser gär
Hemmr imponiert –
Schwizer, sorgid, dann men üs
All so respektiert.»

Auf dem Bahnhof Wil geht es bis um Mitternacht zu und her wie in einem Bienenstock, bis endlich auch die letzten Schaulustigen ihre Heimreise antreten. Am nächsten Morgen setzt die grosse Truppeninspektion in Aadorf (TG) den Abschluss der «Kaisermanöver» – allerdings ohne den Kaiser, der wegen Zeitmangels bereits weitergereist ist, dafür wiederum mit rund 100’000 Schaulustigen.

Eigentlich hätte die Schweizreise des Kaisers viel länger dauern sollen. Nicht nur die Inspektion in Aadorf lässt er aus, sondern auch den Besuch in Luzern und im Berner Oberland. Die Tourismusorte sind masslos enttäuscht, doch der Grund für die Abkürzung der Reise ist, dass der Kaiser noch kurz vor der Ankunft in der Schweiz an Schüttelfrost, Rheumaattacken sowie an einer Schwellung des Halses litt. Das Berner Oberland hat als marketinggewiefte Destination viel bieten wollen: Trachtengruppen und Viehherden sind ebenso bestellt wie Pfeifer und Trommler aus Basel, Armbrustschützen aus Thun sowie ein allegorischer Wagen mit einer «Jungfrau», begleitet von zwölf Töchtern. Das Berner Intelligenzblatt spricht von einem «Ramschbazar» und zeigt sich nicht unglücklich darüber, dass dieser nicht zustande kam.

Trotz des verkürzten Aufenthalts besucht Wilhelm II. vor seiner Abreise nach Bern unerwartet das Schweizer Landesmuseum beim Hauptbahnhof Zürich. Eine Stunde lang wandelt er gemütlich und staunend durch das Museum, besonders die Waffenhalle soll dem kriegsliebenden Kaiser imponiert haben. 

Der Löwe und die Bären

Um 14.30 Uhr kommt der kaiserliche Hofzug in Bern an, der letzten Destination der «Kaisertage». Leichten, elastischen Schrittes geht der Kaiser auf Bundespräsident Forrer zu und reicht ihm «kordial wie einem Dutzbruder die Hand», wie ein Journalist bemerkt. Ludwig Forrer, der Mechanikersohn, Rechtsanwalt und Bundesrat, vertritt radikal-demokratische Positionen. Der 67-jährige Winterthurer ist so etwas wie ein Fels in der bundesrätlichen Brandung; in den letzten zwei Jahren sind fünf von sieben Bundesräten aufgrund von Todesfällen und Rücktritten ausgewechselt worden. Man nennt Forrer auch den «Löwen von Winterthur». Wilhelm II. hingegen, der deutsche Kaiser, 53-jährig, ist ein selbstherrlicher Autokrat. Er ist mit seiner unberechenbaren Art das Gegenteil einer politischen Konstante, im Volksmund «Reisekaiser» genannt, woraus die freche Berliner Schnauze auch mal «Scheissekaiser» macht. 

Jetzt trägt Wilhelm die grüne Uniform mit Marschallsabzeichen und macht «den Eindruck einer natürlichen Gesundheit, einer ungeheuren Straffheit, einer aussergewöhnlichen geistigen und körperlichen Energie, die an unbeugsame Härte grenzen kann», wie ein Journalist vermerkt, doch gleich relativiert: «Heute war freilich die Strenge aus dem tiefbrauen Gesichte gewichen, und es lag nur Sonnenschein auf den ernsten Zügen.»

Auch in Bern stösst der Kaiser auf grosse Sympathie, es ist erneut unglaublich viel Volk auf den Strassen, die Kinder haben schulfrei, die Erwachsenen sind via Zeitungen über den hohen Besuch und dessen Erfolg in Zürich und Wil informiert. Kaiser Wilhelm erlebt einen «wahren Triumphzug», wie die Zeitungen melden. Ihm branden in der ganzen Stadt «Hoch!»-, «Bravo!»- und «Hurra!»-Rufe entgegen. Das demokratische Bern scheint an diesem Nachmittag sehr royalistisch eingestellt. Mehr noch: Auf den Filmaufnahmen von damals wirken die sonst eher bedächtigen Bernerinnen und Berner wie enthusiastische Monarchisten!

Das Programm am letzten Nachmittag des Staatsbesuchs ist dicht gedrängt. Der Kaiser stattet dem Berner Münster einen Besuch ab, ebenso der deutschen Gesandtschaft, trifft den Bundesrat, schenkt der Eidgenossenschaft eine zwei Meter hohe Standuhr aus Porzellan, diniert im «Bernerhof» und lässt sich den Bärengraben zeigen. 

Dort drängt sich trotz aller Absperrungen ein «ganz richtiger Berner Gassenbub mit grauer Kappe» bis zum Kaiser vor. Wilhelm II. zeigt sich keineswegs überrascht, sondern überreicht dem «Büebli» das «Rüebli», das eigentlich für die Bären vorgesehen war. 

Blaues Blut. Royale Geschichten aus der Schweiz», Michael van Orsouw, Verlag Hier und Jetzt, 2019, CHF 39.–. www.hierundjetzt.ch

Beitrag vom 04.07.2020
Michael van Orsouw

ist Schriftsteller und promovierter Historiker aus Zug. Er hat für sein literarisches Schaffen diverse Auszeichnungen und Literaturpreise in Deutschland, Österreich und der Schweiz erhalten. Er schreibt Bücher, für die Bühne und fürs Radio. www.michaelvanorsouw.ch

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