«Il ragazzo della Via Gluck» von Adriano Celentano Songs und ihre Geschichten
Ob als Sänger, Schauspieler, Fernsehmoderator, Entertainer oder Regisseur: Adriano Celentano feierte in seiner Karriere viele Erfolge. Das 85-jährige Multitalent brachte den Rock’n’Roll nach Italien und wurde bekannt durch Hits wie «24 000 baci», «Azzuro» oder «Il ragazzo della Via Gluck».
Text: Urs Musfeld
In seiner Heimat ist der Mann mit dem schelmischen Grinsen ein Volksheld, eine künstlerische Ikone. Charme und Komik zeichnen ihn ebenso aus wie sein Talent zur Selbstironie.
Geboren 1938 in Mailand als Sohn apulischer Zuwanderer mischt Celentano in den 1950er-Jahren das brave Idyll des italienischen Schlagers auf. Inspiriert von Bill Haley gründet er seine erste Rock’n’Roll-Band, covert Songs wie «Rip it up» oder«Tutti frutti», bevor er in seiner Muttersprache Platten aufnimmt.
Bei seinem ersten Auftritt am Festival di Sanremo belegt er 1961 mit «24 000 baci» den zweiten Platz und landet nach «Impazzivo per te» (1960) einen weiteren Nummer-eins-Hit in den italienischen Charts.
Er bringt Italien nicht nur einem neuen Rhythmus, sondern auch einen neuen, coolen, provozierenden Stil: Taillierte Hemden, Riesenkrawatten, Tanzverrenkungen, Hüftschwünge und einen Gang, der ihm den Beinamen «il molleggiato» – der Federnde – einbringt.
Celentano sagt später: «Der Rock war für mich ein gleissender Lichtstrahl im Nebel der Langeweile. Er war Freiheit, Rebellion.»
Gemeinsam mit seinen Weggefährten Miki Del Prete und Luciano Beretta schreibt er 1966 die autobiographisch inspirierte Ballade «Il ragazzo della Via Gluck».
Das Lied erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der an der Peripherie Mailands aufwächst und von der ländlichen Idylle seines Elternhauses in die unwirtliche Grossstadt ziehen muss. Acht Jahre später kehrt er als reicher Mann zurück. Aber das Paradies der Kindheit ist verschwunden. Wo einst grüne Wiesen waren, erstreckt sich jetzt eine Wüste aus Beton.
Kritik und ökologische Sensibilität
Es ist nicht nur eine anmutende und wehmütige Erzählung über das Erwachsenwerden des Protagonisten, sondern auch die der Urbanisierung und des wirtschaftlichen Aufschwungs des Nachkriegsitaliens. Themen wie Bausünden und Umweltschutz werden angesprochen. Adriano Celentano ist der Erste, der solch kritische Töne anschlägt.
Bei seiner Darbietung am Sanremo-Festival verwirft die Jury den Song, zu wenig Liebe, zu viel Kritik. Trotzdem schlägt er ein und hält sich wochenlang in den italienischen Hitparaden.
Questa è la storia
Di uno di noi
Anche lui nato per caso in via Gluck
In una casa, fuori città
Gente tranquilla, che lavorava
Là dove c’era l’erba ora c’è
Una città
E quella casa in mezzo al verde ormai
Dove sarà
Dies ist die Geschichte von einem von uns
Der zufälligerweise auch in der Via Gluck geboren wurde
In einem Haus am Stadtrand
Mit ruhigen, werktätigen Menschen
Da wo einst Gras war, ist heute Stadt
Und dieses Haus im Grünen
Wo ist es geblieben?
Questo ragazzo della via Gluck
Si divertiva a giocare con me
Ma un giorno disse
Vado in città
E lo diceva mentre piangeva
Io gli domando amico
Non sei contento
Vai finalmente a stare in città
Là troverai le cose che non hai avuto qui
Potrai lavarti in casa senza andar
Giù nel cortile
Dieser Junge aus der Gluckstrasse
Der hatte Spass, mir mir zu spielen
Aber eines Tages sagte er: «Wir ziehen in die Stadt»
Und er weinte dabei
Ich fragte ihn: «Freust du dich denn nicht?
Endlich kommst du in die Stadt
Da hast du all das, was es hier nicht gibt
Du kannst dich in der Wohnung waschen
Und brauchst dazu nicht auf den Hof zu gehen»
Mio caro amico, disse
Qui sono nato
In questa strada
Ora lascio il mio cuore
Ma come fai a non capire
È una fortuna, per voi che restate
A piedi nudi a giocare nei prati
Mentre là in centro io respiro il cemento
Ma verrà un giorno che ritornerò
Ancora qui
E sentirò l’amico treno
Che fischia così
«Mein lieber Freund» sagte er, «ich bin hier geboren
Und in dieser Strasse bleibt mein Herz
Warum verstehst du das denn nicht?
Es ist ein Glück für euch, dass ihr weiter barfuss
Hier auf den Wiesen spielen könnt
Während ich im Zentrum den Staub vom Zement einatmen muss
Aber, der Tag wird kommen, an dem ich hierher zurückkehre
Und wieder unseren Freund, den Zug, pfeifen hören werde»
Passano gli anni
Ma otto son lunghi
Però quel ragazzo ne ha fatta di strada
Ma non si scorda la sua prima casa
Ora coi soldi lui può comperarla
Torna e non trova gli amici che aveva
Solo case su case
Catrame e cemento
Die Jahre vergingen, und acht sind lang
Und dieser Junge machte ganz schön Karriere
Aber er vergass nie sein altes Zuhause
Jetzt hatte er so viel Geld, dass er das Haus kaufen konnte
Er kam zurück, aber er konnte seine Freunde von damals nicht mehr finden
Nur Häuser über Häuser, Teer und Zement.
Là dove c’era l’erba ora c’è
Una città, ah
E quella casa in mezzo al verde ormai
Dove sarà
Da wo einst Gras war
Ist heute Stadt
Und dieses Haus im Grünen
Wo ist es geblieben?
Non so, non so
Perché continuano
A costruire, le case
E non lasciano l’erba
Ich weiss nicht, ich weiss nicht
Warum sie immer weiter Häuser bauen
Und nicht das Gras stehen lassen
Eh no
Se andiamo avanti così,
Chissà, come si farà
Nein
Wenn wir so weiter machen
Wer weiss, wie wir zurechtkommen sollen
Der soziale Wandel, der Fortschritt, der auch entfremdende Aspekte enthält, und eine neue ökologische Sensibilität bleiben bei Celentanos Liedern seither immer wieder präsent.
In «Svalutation» singt er 1976 von der galoppierenden Inflation: «Benzin kostet jeden Tag immer mehr, und die Lira gibt nach und stürzt ab» … «Für ein Monatsgehalt kaufst du nur einen Kaffee».
Zu seinem grössten Erfolg wird der von Paolo Conte komponierte Ohrwurm «Azzuro» aus dem Jahr 1968, das weltweit meistgesungene Lied – noch vor «Volare». Es steht für Sehnsucht nach Sommer, Sonne Strand, mediterrane Leichtigkeit. Dabei geht es um einen, der in den Ferien allein zu Hause geblieben ist und sich melancholisch nach der Geliebten sehnt:
«Sie ist zum Strand gegangen, ich bin alleine hier in der Stadt. Über den Dächern höre ich ein Flugzeug vorbeizischen», lautet ein Vers. Und weiter heisst es: «Blau, der Nachmittag ist zu blau und lang für mich, ich merke, dass ich keine Kraft mehr habe ohne dich».
Im Duett mit seiner Frau Claudia Mori und dem Lied «Chi non lavora non fa l’amore» gewinnt Celentano 1970 bei seiner vierten Teilnahme das Festival di Sanremo.
Als Musiker ist er bei jedem sich abzeichnenden Stil immer ganz vorn, häufig der Popavantgarde näher als dem Schlager. Und er hat Tango, Techno, Rock’n’Roll und Swing mit Volksliedern, Schnulzen und Reggae zu einem grossen, eigenen Eintopf vermischt. Mit dem Sprechgesang im Zungenbrecher und Nonsense-Stück «Prisencolinensinainciusol» nimmt er anfangs 1970er-Jahre sozusagen den Rap vorweg.
Über 50 Alben hat Adriano Celentano veröffentlicht, das letzte 2016 gemeinsam mit der Sängerin Mina: «Le Migliori» wird Nummer eins und steht 56 Wochen in den italienischen Charts.
Im Januar hat er seinen 85. Geburtstag gefeiert.
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Urs Musfeld alias Musi
Urs Musfeld alias MUSI, Jahrgang 1952, war während 39 Jahren Musikredaktor bei Schweizer Radio SRF (DRS 2, DRS 3, DRS Virus und SRF 3) und dabei hauptsächlich für die Sendung «Sounds!» verantwortlich. Seine Neugier für Musik ausserhalb des Mainstreams ist auch nach Beendigung der Radio-Laufbahn nicht nur Beruf, sondern Berufung.
Auf seiner Website «MUSI-C» gibt’s wöchentlich Musik entdecken ohne Scheuklappen zu entdecken: https://www.musi-c.ch/
Eine wahrhaftig tolle Beschreibung dieses fantastischen Künstlers.
Hätte mir so sehr gewünscht diesen
Menschen einmal im Leben kennenzulernen.
Die Reportage über Adriano Celentano ist sehr lesenswert!