Nimmermüde Von Dmitrij Gawrisch

Stell dir eine Frau vor, die den Hahn weckt – und nicht umgekehrt. Schau, wie sie in den Morgenrock steigt oder, wenn die Welt unter zwei Metern Schnee begraben liegt, auch in den gänsefedergefütterten Wintermantel, wie sie auf dem Weg zum Plumpsklo den Hof überquert und dabei, vielleicht, mit ihrem Körper eine Schneise in den Schnee schlägt. Wie sie, wieder zurück im Haus, sich mit Eiswasser die Nacht vom Körper wäscht, Rock, Bluse und Schürze anzieht und zuletzt das Kopftuch umbindet, damit das schwarze, von ersten grauen Strähnen durchzogene Haar weder Schmutz noch Flammen fängt. Wenn sie Frühstück und Mittagessen für ihren noch schnarchenden Mann bereitet zum Beispiel, Eier im Hühnerstall einsammelt oder, wenn die Jahreszeit passt, im Garten pflückt, was gerade reif ist, Erdbeeren, Birnen oder auch einen Kürbis.

Jetzt bricht sie auf, schau; und siehst du auch die Tasche in ihrer Linken, die fast aus den Nähten platzt und mindestens das Dreifache ihres Körpergewichts auf die Waage bringt? Auch mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen, da ist bestimmt eine Schüssel mit Sülze drin, in der eine ganze Henne schwimmt, mehrere eingelegte Heringe, eine dicke Speckschwarte, vielleicht auch ein paar Äpfel. So saust sie zum Bahnhof, quetscht sich in den Vorstadtzug, steigt um in die U-Bahn, bis die Rolltreppe sie zurück an die Oberfläche spuckt. Du erkennst die Gegend, nicht wahr, auch wenn du erst in dreissig Jahren geboren werden wirst? Jetzt muss deine Urgrossmutter nur noch die Schnellstrasse unterqueren, rechts in den Hof einbiegen, in den vierten Stock steigen und klingeln. «Baba!», schreie ich freudig und tapse auf sie zu, so gut wie du heute kann dein Vater damals noch nicht sprechen.

Die Eltern, dir besser als Grosseltern bekannt, du musst sie dir noch schmal und flink vorstellen, binden sich schon die Schuhe, helfen sich gegenseitig in die Mäntel. Sie rufen noch eilige Anweisungen zu, dann greifen sie zu Aktenkoffer und Handtasche, streichen – sei brav! – dem Kind über den Kopf und schlagen die Tür hinter sich zu. Damit beginnt die schönste Zeit des Tages, mit Büchern und allen meinen Fingerlein, mit Sandburgen und Dampflokomotive, mit Elefanten und der Rakete zum Mond – was die Sowjetunion nicht geschafft hat, das schafft deine Urgrossmutter mit links. Irgendwann legt sie den Zeigefinger auf die Lippen: Hörst du das? Das ist der Specht. Nein, er tut den Bäumen nicht weh, im Gegenteil, der Specht ist der Doktor des Parks.

Als der Nachmittag in den Abend übergeht, fährt deine Urgrossmutter nach Hause. Aber wenn du jetzt denkst, dass sie vom langen Tag ausruhen kann, irrst du gewaltig. Das Unkraut im Garten steht schliesslich kniehoch, sieht du das? Die Hühner gackern hungrig, und auch das Abendessen ist noch nicht gekocht. Ja, mein Sohn, deine Urgrossmutter stammt noch aus der Zeit, als dein Urgrossvater sich um sein Auto und die Bienen kümmern darf, Harmonika spielen, kommunistische Banner und Plakate malen, Gedichte in der Zeitung veröffentlichen und höchstens mal den Hühnermist vom Weg fegen, während deine Urgrossmutter kocht und brät, aufträgt, Geschirr spült, Spinnweben von der Decke wischt und sicher nicht täglich, aber ab und zu die Fenster putzt.

Aber so ist es nicht immer gewesen. Stell dir jetzt ein Bauernhaus vor, gross und prächtig. Füge Ställe, Scheunen und Schuppen hinzu, Kirschbäume, Zwetschgen und Pflaumen, Acker, Wiese, einen kleinen Teich mit Karpfen. Gerade kannst du all das schlecht sehen, ich weiss, weil dichter Nebel über dem Land liegt, aber vielleicht erkennst du wenigstens den winzigen Schatten, der zwischen Haus und Stall hin und her huscht. Hab keine Angst, komm näher, das ist immer noch deine Urgrossmutter, nur ist sie jetzt noch jünger, so jung, wie ich sie selbst nie erlebt habe. In der Hand schleppt sie einen vollen Eimer Milch, die sie gerade aus dem Euter der Kuh gepresst hat. Gleich wird sie die warme Milch in Tassen füllen und auf den Tisch stellen, zu den Tellern, die sie mit Spiegeleiern und Schinken füllen wird. Während die Männer kauen, drei Generationen deiner Vorfahren, unter ihnen, schau, auch dein Grossvater, selbst noch ein kleiner Junge, wird sie, zurück im Stall, die Schweine füttern, die Gänse, die Kaninchen, die Hühner, den Hund, nur die jaulenden Katzen und deren Jungen wird sie mit dem Besen verscheuchen, damit sie nicht auf der faulen Haut liegen, sondern gefälligst Mäuse jagen.

Alles wie gehabt, wirst du dir jetzt denken, nur ein Vierteljahrhundert früher und auf dem Dorf statt vor den Toren der Grossstadt. Doch dann lichtet sich der Nebel und deine Urgrossmutter macht sich auf den Weg, fünf Kilometer Fussmarsch oder auch sieben, zur Schule im Nachbardorf. Sie stellt sich an die Tafel, nimmt Kreide und beginnt, Zahlen und Formeln darauf zu schreiben, erst Plus und Minus, dann Mal und Durch, wenn die sitzen, kommen Dezimalstellen dazu, Prozente, Dreisätze, Gleichungen, Sinusse, Cosinusse, Logarithmen, Differenziale, Integrale. Davon rauchen den Schülern bald die Köpfe, deine Urgrossmutter aber kommt erst richtig in Fahrt, greift in der Mittagspause zum Rotstift und benotet, ein Speckbrot kauend, die Prüfungen, erteilt Verweise und erzählt, wenn noch Zeit bleibt, im Lehrerzimmer einen Witz. Nach der letzten Klingel wartet wieder der Fussmarsch, fünf Kilometer oder deren sieben, bei Glut oder Schnee, den Rest kannst du dir denken. Weil deine Urgrossmutter keine Tochter hat, müssen die Söhne im grossen Bauernhaushalt helfen. So lernen sie, Hausarbeit nicht zu scheuen, was sich als erblich erweist.

Sie hätte auch ein ganz anderes Leben haben können, wird sich deine Urgrossmutter im Laufe der Jahre immer wieder gedacht haben. Zum ersten Mal denkt sie das, als sie Liebesbriefe ihrer eigenen Schülerin an deinen Urgrossvater, ebenfalls ihr Lehrer, entdeckt und ihn fortan mit der Minderjährigen teilt – was wird sonst aus den Jungs, ohne Vater? Wieder denkt sie das, wenn er einmal mehr über den Durst trinkt und erst lacht und singt und dann, sobald die Gäste gegangen sind, schreit und tobt und sich am Morgen nicht einmal entschuldigt. Da hätte sie vielleicht noch die Arme in die Hüften stemmen, mit dem Fuss stampfen oder auch eine Tür hinter sich zuknallen können, aber als er sich in ein störrisches Kind zurückverwandelt und vergisst, wie man auf die Toilette geht und dass man sich danach abputzt, ist es für jeden Protest zu spät.

Während sein Gedächtnis zerbröselt, sie ihn füttert, wäscht und anzieht, erinnert sie sich umso klarer an den durchreisenden Major, der nach ihrer Adresse fragt und ihr fortan Briefe schreibt; telefonieren kann man auf dem ukrainischen Dorf damals, so kurz nach dem Krieg, noch nicht. Ja, was wäre gewesen, wenn deine Urgrossmutter dem Major in die Stadt gefolgt wäre, statt beim Urgrossvater im Dorf zu bleiben? Welches Grossmutterleben würden die Enkelinnen und Enkel, die an meiner statt geboren worden wären, ihren Kindern erzählen, würden ihre Geschichten von derselben Person handeln oder einer Fremden?

Aber Liebe ist lange nicht das Einzige, was deine Urgrossmutter hätte verwandeln können. Erinnerst du dich noch, warum sie in Wirklichkeit zwei Jahre älter ist, als in ihrem Pass steht? Die Geschichte habe ich dir erzählt, als du deiner Urgrossmutter zum Geburtstag gratulieren wolltest und fragtest, wie alt sie eigentlich geworden sei. Auch Mathematik hätte sie richtig studieren können statt bloss auf Lehramt. Und nicht irgendwo, sondern in Moskau, dem damaligen Nabel der Welt. Sie hat bereits einen Studienplatz an der allerbesten Universität, ihre Begabung ist offensichtlich. Bloss Angst hat sie, die kleingewachsene Frau vom Land, angesichts der ganz grossen Stadt, und auch ihre Eltern, einfache Bauern, fürchten, dass sie allein vor die Hunde geht oder auf zeitgemässe Gedanken kommt.

Kaum sind Stiefmütterchen und Astern auf das Grab deines Urgrossvaters gepflanzt, pachtet deine Urgrossmutter einen grossen Acker, steht gebückt von morgens bis abends in der prallen Glut, nur um ihren Söhnen, die längst selbst Grossväter sind, wie früher Essen mitzubringen. Sie wacht immer noch vor der Sonne auf – einen Hahn hat sie nicht mehr, nur noch vier alte Hennen – und trottet ins Ferienlager, aber nicht um Jugendlichen Rechnen beizubringen, sondern um Kartoffeln für sie zu schälen. Das Geld, das sie verdient, verteilt sie gleich bündelweise, auch du kriegst welches, wenn du sie besuchst.

Willst du dich nicht auf die Bank unter dem Birnbaum setzen und endlich ausruhen, will ich deiner Urgrossmutter immer wieder zurufen, und dabei deine Geschichten aus dem Koffer packen? Deine Männer haben sich die Bühne einfach genommen und sie ganz selbstverständlich bis zur hintersten Ecke besetzt, ganze Fotoalben dokumentieren ihren Alltag, ihre Tagebücher gehen von Nachfahren zu Nachfahren, Zeitungen bewundern noch immer ihr Wirken. Über dich sind nur verstreute Einzelheiten bekannt und selbst die oft aus zweiter oder dritter Hand. Du bist ein Puzzle, Grossmutter, und ich muss immer wieder Teile hinzuerfinden, um meinem Sohn von dir erzählen zu können. Ich will nämlich nicht, dass du für ihn die Alte bleibst, die ihn aus einem zahnlosen Mund angrinst, die immer feuchte Küsse auf die Backe drückt, die ein wenig müffelt, seit sie sich ihrem Neunzigsten nähert. Wenn ich mich hinsetze, kann ich nicht mehr aus eigener Kraft aufstehen, sagt sie und gähnt. Willst du das? Wirklich?

Nur einmal, mein Sohn, erinnerst du dich, hat sich deine Urgrossmutter helfen lassen, das war noch im Krieg gewesen. Ein Beamter hatte ihr, weil sie so kränklich und schmächtig wirkte, eine neue Geburtsurkunde ausgestellt, selber Geburtstag, späteres Geburtsjahr. Als wäre die Uhr zurückgedreht worden, wurde sie von einer Minute auf die nächste um zwei Jahre verjüngt. Wenige Wochen darauf pferchten Soldaten der Wehrmacht ihre grossen Schwestern in Viehwaggons und deportierten sie als Zwangsarbeiterinnen nach Deutschland. Deine Urgrossmutter war zu jung und durfte weiterleben.


Dmitrij Gawrisch, 1982 in Kiew geboren, in Bern aufgewachsen, lebt in Berlin. Er studierte Betriebs- und Volkswirtschaflslehre an der Universität Bern. Neben Prosa schreibt er literarische Reportagen und Theaterstücke, darunter «Brachland», «Mal was Afrika» und «Wird schon werden». Derzeit arbeitet Gawrisch an einem Roman.


«Voll im Wind»

Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps

Grossvater riecht nach Schnaps und Grossmutter lacht nicht mehr. Was ist passiert? «Älterwerden ist kein Spaziergang», erzählen Betroffene – und die Jüngeren nehmen es irritiert zur Kenntnis. Ruth und Fritz haben es doch schön in der Alterswohnung, und Trudi wird im Pflegeheim rund um die Uhr verwöhnt. Was ist daran so schlimm?

Es sind dies die Übergänge und Brüche; vermehrt gilt es, Abschied zu nehmen: vom Haus, vom Partner, vom Velofahren. Das Gehen verändert sich weg von der Selbstverständlichkeit hin zur Übung und Pflicht; das Autofahren ist ohnehin ein Tabu, so will‘s die Tochter. Ist es da so abwegig, den Kopf hängen zu lassen? Sich Pillen verschreiben zu lassen oder ein Glas über den Genuss hinaus zu trinken? Ja, es ist abwegig, weil es auf Abwege führt und nicht auf einen grünen Zweig.

22 Schweizer Autorinnen und Autoren erzählen Geschichten über ältere Menschen, denen der Wind derzeit mit voller Wucht entgegenbläst. Ein Anhang mit einfachen Infos und Tipps sowie weiterführenden Adressen bietet den nötigen Windschutz.

  • «Voll im Wind – Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps», Hrsg. Blaues Kreuz Schweiz, © 2020 by Blaukreuz-Verlag Bern, ISDN 978-3-85580-549-5
  • Cover-Illustration: Tom Künzli, TOMZ Cartoon & Illustration, Bern. Lektorat: Cristina Jensen, Blaukreuz-Verlag. Satz und Gestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld. Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
  • Das Projekt wird vom Nationalen Alkoholpräventionsfonds finanziell unterstützt. Für Begleitpersonen stehen unter www.blaueskreuz.info/gesundheit-im-alter weitere Fachinformationen zu den Themen des Buches bereit.

Beitrag vom 15.05.2022

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