Die Werbebotschafterin der Schweiz Wilhelmina, Königin der Niederlande

Aus dem Buchband «Blaues Blut. Royale Geschichten aus der Schweiz» von Michael van Orsouw. Erschienen im Verlag Hier und Jetzt.

Vorwort von Beat Gugger und Bruno Meier 

Als der heutige König der Niederlande, Willem-Alexander, im Jahr 2002 seine Maxima heiratete, verbrachten die frisch Vermählten die ersten Tage der Hochzeitsreise nicht irgendwo in ihrem Königreich – sondern im verschneiten St. Moritz

Damit erwiesen die Oranier der Schweiz ihre Referenz und der König setzte das fort, was seine Urgrossmutter Königin Wilhelmina in bemerkenswerter Regelmässigkeit zu tun pflegte: das häufige Reisen in die Schweiz. Denn die Königin war zu Gast gewesen in Basel, Brig, Elm, Flims, Genf, Gersau, Luzern, Spiez, Unterwasser, Vulpera, Weissenburg, Sierre, St. Moritz, Zermatt und Zug. Die Liste ist wahrscheinlich nicht einmal vollständig. Meistens blieben die niederländischen Royals gleich für mehrere Wochen in einer Schweizer Destination.

Die ersten Ferien in der Schweiz hatten einen traurigen Grund: Wilhelmina schwächelte im Kindsalter oft, denn sie hatte schon als Mädchen eine schwere Last zu tragen. Bereits im Alter von zehn Jahren wurde sie Königin, nachdem ihr Vater König Wilhelm II. verstorben war – «Koninginnentje» nannte man sie, was mit «kleine Königin» zu übersetzen ist. Ihre Mutter Emma von Waldeck und zu Pyrmont übernahm die Regentschaft, bis Wilhelmina 18 und damit volljährig war. Doch die kleine Königin war häufig krank, vielleicht, weil sie sich wie in einen Käfig gesperrt fühlte, wie sie später selbst schrieb. Deshalb empfohlen ihr die Ärzte mehrmals längere Kuren an der gesunden Schweizer Bergluft.

Wilhelmina Helena Paulina Maria von Oranien-Nassau
Wilhelmina Helena Paulina Maria von Oranien-Nassau © wikimedia commons

Für einen solchen Aufenthalt kommen Wilhelmina, ihre Mutter Emma und ihr Gefolge im April 1892 für einen Monat nach Gersau an den Vierwaldstättersee ins Hotel Müller. Sie belegen die erste und zweite Etage des grossen Hauses. An der Hotelfassade sind rotweisse Flaggen angebracht. Vor dem Eingang begrüsst ein Triumphbogen aus Tannengrün, Papierrosen und niederländischen Flaggen, zudem hat das Hotel einen roten Teppich ausgerollt. 

Ganz Gersau ist auf den Beinen, um Königin Wilhelmina mit ihrer Mutter Emma zu empfangen. Doch die königliche Gesellschaft kommt in den Augen der Gersauer Bevölkerung enttäuschend gewöhnlich daher und fährt in der alltäglichen Kutsche des Hotels vor. In Gersau hatte man nämlich gehört, dass die erste Frau von Wilhelminas Vater, Königin Sophie der Niederlande, vor 39 Jahren mit sechzig (!) Pferden nach Luzern gekommen sei. Dementsprechend sind die Gersauer ernüchtert. Der lokale Schriftsteller Josef Maria Camenzind lässt den einheimischen «Föhneberg-Zächi» in einer Erzählung sagen: «Ich war wahrhaft ein Lappi. Jetzt bin ich extra vom Berg herabgestiegen, um einmal eine lebendige Königin zu sehen, und jetzt ist diese Königin ein Gof wie jedes andere Gof und sieht aus wie jedes andere Gof auch. Oh, ich einfältiger Esel.» 

  • Wer: Königin Wilhelmina der Niederlande. Geboren als Prinzessin Wilhelmina Helena Paulina Maria von Oranien-Nassau.
  • Wann: Geboren am 31. August 1880 in Den Haag, gestorben am 28. November 1962 in Apeldoorn in den Niederlanden.
  • Was: Sie war von 1898 bis 1948 während fünfzig Jahren Königin der Niederlande.
  • Wie: Königin Wilhelmina regierte während zwei Weltkriegen und dankte freiwillig zugunsten ihrer Tochter Juliana ab.
  • Bezug zur Schweiz: Wilhelmina reiste mehr als ein Dutzend Mal ferienhalber in die Schweiz. Hier die (unvollständige) Liste: 1892 Gersau. 1893 Chur, Flims. 1894 Vulpera. 1896 Spiez. 1898 Zugerberg. 1918 St. Moritz, Zermatt. 1919 Zermatt. 1925 Bern, Glarus, Elm. 1926 Faulensee. 1928 St. Moritz. 1929 Basel, Bern, Genf, Brig. 1934/35 Unterwasser. 1936 Gstaad. 1938 Luzern, Lenzerheide. 1939 Faulensee.

Zwar keinen Esel, doch ein kleines Pony bringt die Königin mit, die 1892 erst elfeinhalb Jahre alt ist. Und die über ein Weltreich herrscht, das von der windigen Niederlande bis hin zum Indischen Ozean und nach Mittelamerika reicht, von Eisschollen bis zu Kokospalmen, von Tulpenfeldern bis zu Zuckerrohrplantagen.

Königin Wilhelmina reitet auf ihrem Pony durch das Dorf Gersau, beäugt von gleichaltrigen Kindern sowie staunenden Erwachsenen und begleitet von einem schmuck uniformierten Lakaien, der die Zügel hält und nebenhergeht, vom Dorfpolizisten und vom «königlichen Hofmeister». 

Wilhelmina macht in Gersau jedoch nicht nur Ferien und Ausflüge; sie hat auch eigene Lehrer mitgebracht, die sie täglich in Französisch, Deutsch und Englisch unterrichten. Zu ihrer eigenen und der Gersauer Kinder Freude darf sie auch mal einfach Kind sein, sie spielt Puppe und Ball mit den Dorfmädchen Heidi und Marieli, sie kriecht auf allen Vieren die steile Büelplangg hoch, füttert die Hühner, darf beim Melken zusehen und trinkt mit grosser Selbstverständlichkeit kuhwarme Milch aus einem Bauernkrüglein. 

Abends ist der hohe Gast nicht mehr das spielende Kind, sondern wieder Königin. Ihr zu Ehren singt der Jodelclub Edelweiss aus Luzern im Saal des Hotels, dazu spielt ein Alphornbläser. 

Nach vier Wochen reisen die Niederländerinnen wieder ab; sie spenden dem Armenhaus in Gersau 400 Franken und stecken dem Dorfpolizisten für seine treue Begleitung 100 Franken zu. Über Jahrzehnte bleibt im Hotel Müller das «Königinnenzimmer» und im Dorf die Erinnerung an den Besuch der Königin erhalten.

Mit Arvenholz ausgekleidetes Zimmer

Im darauffolgenden Jahr steht schon die nächste Reise in die Schweiz an: Wilhelmina steigt für sechs Wochen im «Waldhaus» in Flims ab. Sie wohnt aber nicht im Hotel selbst, sondern in der dazugehörigen «Villa Silvana». Für den königlichen Besuch lassen die Hoteliers ein Zimmer speziell mit Arvenholz auskleiden, sie ziehen Wände ein und kaufen neue Möbel. Die kostspieligen Aufwendungen zahlen sich aus. Denn in der Folge kommen viele vermögende Niederländer nach Flims, sodass die Hoteliers sogar den Hotelprospekt ins Niederländische übersetzen lassen. 

Damit bewahrheitet sich auch hier eine touristische Grundregel: Wo die Royals absteigen, folgen während Jahren und sogar Jahrzehnten deren Landsleute. Das war so bei Queen Victoria nach ihrer Reise in die Innerschweiz; das funktioniert jetzt auch bei Königin Wilhelmina, die mit ihren langen Aufenthalten in der Schweiz zur inoffiziellen Botschafterin für Reisen in die Schweiz wird. Hätte es damals «Schweiz Tourismus» schon gegeben, hätte man die Königin als Werbebotschafterin engagieren können.

Denn auch im nächsten Jahr – wir schreiben 1894 – zieht es die Blaublüter der Niederlande in die Schweizer Berge. Unterwegs kommt es zu einem seltenen Treffen: Gleich vier Monarchinnen begegnen sich auf Schloss Neuwied im Bundesland Rheinland-Pfalz – die Königinnen von Schweden und Rumänien sowie Wilhelmina und ihre Mutter Emma. Nach dem höflichen Austausch von Freundlichkeiten reisen die Niederländerinnen weiter in Richtung Unterengadin.

In Davos Platz jubeln den Reisenden rund sechzig Niederländer enthusiastisch zu. Schliesslich gelangen die Frauen nach Vulpera, wo sie vom 2. Juni bis zum 11. Juli mit ihrem Hofstaat im «Waldhaus» wohnen, das man für den hohen Besuch extra elektrifiziert und mit einer neuen Trinkwasserleitung ausgestattet hatte. Wilhelmina, Emma und ihre «zehn Kavaliere und Damen sowie zahlreiche Dienerschaft», wie die Neue Zürcher Zeitung schreibt, sind in einem separat stehenden Chalet untergebracht. Nach der Abreise der noblen Gäste wird dieses in «Villa Wilhelmina» umbenannt werden. Den Namen trägt es ehrenhalber noch heute. 

Eine Woche lang regnet und schneit es sogar (im Juni!), danach wird das Wetter besser. Es gefällt der Reisegesellschaft in den Bergen so gut, dass sie ihren Aufenthalt spontan um zehn Tage verlängert. Die kleine Wilhelmina darf baden, Pony reiten und wird täglich von einem mitgereisten Lehrer unterrichtet. 

Die darauffolgende Schweizer Reise führt die niederländische Königsfamilie mit Wilhelmina ins Berner Oberland. Ein Extrazug bringt die Gesellschaft nach Spiez, die Oranier steigen im damals bekannten und noblen Hotel Faulenseebad ab: Neben dem Hauptgebäude mit hundert Zimmern stehen den Gästen im Grandhotel am Thunersee zwei Dependancen zur Verfügung. Das Etablissement wirbt mit Konversationssalons, Billardsaal, Lese- und Musiksalon, geräumiger Veranda, draussen befinden sich Spazierwege, Plätze für «Lawn-Tennis» und «Croquet».

Die junge Königin darf diesmal eine Freundin mitnehmen, ebenfalls eine Blaublütige: Es ist Baronesse Irmgard Thecla van Hardenbroek, die neun Jahre älter ist als Wilhelmina. Sie machen Ausflüge nach Grindelwald, nach Lauterbrunnen, zum Blausee und auf das Niederhorn. Wilhelmina gefällt es sehr in der Schweizer Natur. Einmal rennt sie übermütig durch hohes Gras. Daraufhin ist der Bauer ausser sich, weil das Kind seine Wiese kurz vor dem Mähen platt getreten hat! Als der Landwirt eine königlich grosszügige Entschädigung bekommt, ist alles wieder im Lot.

Die Malediven des 19. Jahrhunderts

Die nächste Schweizer Reise führt die niederländische Königsfamilie auf den Zugerberg. Wilhelmina und ihre Entourage reisen unter dem Pseudonym «Grafen von Buren», damit die Behörden ihnen keinen offiziellen Empfang bereiten müssen. Dennoch erwartet die noblen Gäste am Bahnhof Zug eine grosse Menschenmenge. Das lokale Zuger Volksblatt berichtet über die Ankunft um 15.41 Uhr: «Die zugerische Bevölkerung, die zum weitgrössten Teile noch niemals königliche oder kaiserliche Majestäten von Aug zu Auge gesehen hat, erwartet mit grosser Spannung den Einzug der hohen Herrschaften.» Und weiter: «Das strenge Inkognito hielt unser zugerisches Publikum auch nicht ab, die Herrschaften freundlich zu grüssen und diese letzteren erwiderten die Grüsse in leutseliger Weise.» 

Nach der Ankunft der niederländischen Königsfamilie am Bahnhof Zug zieht eine weltliche Prozession auf den Zugerberg: geführt von einem Polizisten zu Pferd, dann folgen die drei Kutschen mit den illustren Gästen, zuhinterst nochmals zwei berittene Polizisten. Doch die Kutscher unterschätzen die steile Fahrstrasse und müssen alle 200 Meter anhalten. Bei einem solchen Stopp steigt eine junge Frau aus der Kutsche und lässt sich von einem einheimischen Knaben die Sicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau zeigen.

Der Knabe stellt sich der jungen Frau auf ihre Nachfrage hin als «Chrischte-Sebi» vor, was diese zum Lachen bringt: «Sebi» sei doch kein Name! 
Darauf streckt der junge Zuger ihr sein Schulheft entgegen, auf dem «Josef Christen» steht. 
«Warum sprichst Du nicht so, wie Du schreibst?», will die Frau wissen. 
«Mier tüend halt nur derewäg schriibe, wämmer i de Schuel sind.» Aber wie sie denn heisse? 
«Wilhelmina.» 

Sebi, dem sofort klar ist, die Königin höchstpersönlich vor sich zu haben, erschrickt. Eine Königin hat er sich so ganz anders vorgestellt: mit Krone, mit höfischem Gehabe und viel älter als diese junge Frau, die mit ihm spricht.

Als Sebis Vater sieht, wie mühsam der Tross den Berg hochkriecht, holt er zwei Ochsen aus seinem Stall. Diese bindet er vor die Kutschen – und schon kommt der königliche Transport schneller voran. Die Leute auf dem Zugerberg schmunzeln, als sie die merkwürdige Karawane mit Ochsen, Pferden, königlichen Kutschen und berittenen Polizisten sehen.

Die niederländische Königin bricht während ihres Aufenthalts auf dem Zugerberg mit den an sie gestellten Erwartungen. Nach einem Besuch der Höllgrotten, den Tropfsteinhöhlen im tiefen Lorzentobel, lässt die junge Monarchin die Kutschen stehen und läuft zu Fuss den Zugerberg hinauf; die 500 Höhenmeter und die neun Kilometer überwindet sie spielend. Die Zuger Bevölkerung nimmt das mit grosser Bewunderung zur Kenntnis. «Manches unserer jungen Frauenzimmer könnte sich an dieser königlichen Fusstour ein Beispiel nehmen», heisst es in der Zeitung. 

Der Zugerberg ist zu dieser Zeit eine beliebte Kurdestination. Königin Wilhelmina bleibt vier Wochen hier: Vom 10. Mai bis am 6. Juni 1898 logiert sie im Hotel Schönfels auf dem Zugerberg und mietet gleich 43 Zimmer für sich und ihre Entourage.

Der Hausberg der Zugerinnen und Zuger mit seinen beiden Hotels Schönfels und Felsenegg ist zu jener Zeit der Kurort der internationalen Haut volée und des Adels. Hier erholen sich, wie in der ganzen Schweizer Bergwelt, die Reichen und Schönen Europas, sie kuren, baden, machen Ausflüge, spielen, spazieren und flirten. Die Schweiz ist Ende des 19. Jahrhunderts in etwa das, was die Malediven heute sind: ein Hotspot des gehobenen Tourismus.

Weitere Ausflüge führen Wilhelmina zum Kloster Menzingen, nach Göschenen und auf die Rigi, die «Königin der Berge». Bemerkenswert ist ein weiterer Abstecher. Ebenfalls auf dem Zugerberg hat Adelheid Page-Schwerzmann (1853–1925) damals einen Feriensitz, und zwar im südlich gelegenen Horbach. Adelheid ist die Gattin von George Ham Page, dem Milchbaron und Generaldirektor des Weltkonzerns «Anglo-Swiss Condensed Milk Company». Zu dieser Zeit wohnt Adelheid Page gerade in Paris, wo sie sich Malunterricht beim berühmten Künstler Edgar Degas nimmt. 

Königin Wilhelmina
Königin Wilhelmina, Gemälde von Thérèse_Schwartze © wikimedia commons

Als sie vom Aufenthalt der noblen Gästen auf dem Zugerberg hört, reist sie von Paris an und lässt mehrere Ochsenkarren voller Lebensmittel anliefern, um einen standesgemässen Empfang ausrichten zu können. Sie hofft sehr, dass die Bauern der Umgebung die royalen Gäste freundlich begrüssen. Denn ihr selbst waren diese nicht immer wohlgesinnt. Ein Mal schüttete ihr ein Bauer einen ganzen Korb voll schwarze Zuger Kirschen über den Kopf, als sie auf dem Weg zum Ferienhaus war. 

Der Besuch von Wilhelmina bei Adelheid Page verläuft in Minne. Die Frauen werden über die Malerei gesprochen haben, die auch die niederländische Königin mag und selbst ausübt, aber wahrscheinlich auch über ihre gemeinnützigen Tätigkeiten und sicher über die bald bevorstehende Inthronisation Wilhelminas in Den Haag. Die junge Königin verfasst die Investiturrede dazu selbst, wozu sie vielleicht die selbstbewusste Adelheid ermuntert hat.

Als die adlige Gesellschaft nach vier Wochen abreist, hat sie sich mit ihrer ungekünstelten Art Bewunderung verschafft. Oder, wie es heute heissen mag: Sie hat die Herzen erobert. 

Der Prinz, ein schlichter Charakter

Wilhelmina, die junge, hübsche, reiche und einflussreiche Königin, ist mittlerweile fast 18 Jahre alt und in den adeligen Kreisen ganz Europas als «gute Partie» begehrt. Aufgrund des Burenkriegs in Südafrika kommt kein Engländer als Ehemann infrage. Die Königin entscheidet sich für einen deutschen Adligen, für Prinz Heinrich von Mecklenburg. 

Prins Hendrik, wie er in der Niederlande genannt wird, ist ein bodenständiger Mann ohne jegliche politische Ambitionen. Er legt lieber Patiencen und Puzzles, als die Zeitung oder amtliche Dokumente zu lesen. Schon vor der Heirat verspekuliert er sich bei krummen Finanzgeschäften und ist hoch verschuldet, zudem verpasst er es, sich um eine Apanage zu kümmern. So ist er ständig in Geldnot, im Volksmund heisst es, er schaue immer unter den Teller, in der Hoffnung, dort ein Almosen zu finden.

1901 heiratet das ungleiche Paar. Sie ist fleissig, pflichtbewusst und korrekt; er überbordend, frivol und lebenslustig. Weil Hendrik sich neben seiner regierenden Frau Wilhelmina überflüssig vorkommt, sagt er über sich und seine Rolle am Hof: «Ich bin nur Gepäck». In den wenig schmeichelhaften Worten seiner Frau Wilhelmina ist er «schlicht in seinem Auftreten, schlicht in seinem Geschmack, schlicht in seinem Charakter – Schlichtheit kennzeichnete ihn». Damit meint sie wohl nicht Bescheidenheit, sondern seinen eher beschränkten Horizont. Er hat nämlich nur zwei Leidenschaften: die Jagd und das Nachtleben. 

Wie sich seine Wesensart im Konkreten auswirkt, zeigt eine weitere Reise in die Schweiz. Die königliche Familie beehrt dieses Mal St. Moritz im Winter. Wilhelmina treibt Wintersport, ihre Tochter und Thronfolgerin Juliana besucht den Skiunterricht, während sich Heinrich in den Gaststuben von St. Moritz langweilt. Ein Freund beschliesst aus Mitleid, den unglücklichen Prinzen zu einem Aufstieg zur Berninahütte mitzunehmen. Heinrich ist kein ungeübter Alpinist. Sein Freund staunt deshalb, als der Gatte der Königin eine Reihe schwer beladener Träger mitbringt. 

Kaum ist die Hütte erreicht, setzt ein wilder Schneesturm ein. An eine baldige Rückkehr ins Tal ist nicht zu denken. Da enthüllen die Träger ihre schwere Last: Es sind lauter alkoholhaltige Getränke! Die Berggesellschaft leert in der Folge eine Flasche nach der anderen. Prinz Heinrich soll alle paar Stunden das Fenster geöffnet, den Kopf hinausgestreckt und in den Schneesturm gebrüllt haben: «Gottlob schneit es noch immer, saufen wir weiter, es ist doch soooo gemütlich hier!» 

Gegen Abend kehrt die Truppe zurück, doch die Heimkehr nach St. Moritz entwickelt sich zu einer Peinlichkeit sondergleichen. Der Prinz ist sturzbetrunken. Flankiert von zwei Trägern schwankt er durchs Dorf, singt laut und wankt lallend Richtung Hotel. Nur widerstrebend lässt er seine Bergfreunde von dannen ziehen.

Immerhin fünf uneheliche Kinder

Zu Hause in der Niederlande bekommt Heinrich den Übernamen «Varkensheintje» verpasst, also «Schweinsheinzchen». Die Doppeldeutigkeit ist gewollt: Der Prinz kümmert sich zum einen um den Wald und liebt es, auf die Jagd zu gehen; anderseits benimmt er sich seiner Frau gegenüber «schweinisch», in dem er ständig Beziehungen zu anderen Frauen hat und kein leichtes Mädchen auslässt, deren Liebesdienste zu kaufen sind. Um bei seinen Seitensprüngen unerkannt zu bleiben, begibt er sich gerne ins anonyme Rotlichtmilieu, zum Beispiel in Marseille. Bevor er an den niederländischen Hof zurückkehrt, spricht er im Freundeskreis davon, «wieder in die Hölle» zu müssen. Die eheliche Untreue zeitigt Folgen: Hendrik hat nicht weniger als fünf uneheliche Kinder – und ausserdem wahrscheinlich Syphilis. 

Ein Vertrauter Wilhelminas, der Polizeikommissar Francois van t’Sant (1883–1966), muss in der Niederlande in Ordnung bringen, was Hendrik angerichtet hat: Indem der Polizeimann Schweigegelder bezahlt, sorgt er für Stillschweigen und dafür, dass sämtliche unappetitlichen Geschichten Hendriks unter dem Deckel bleiben. Van t’Sant setzt Unterhaltsverträge für die unehelichen Kinder auf, sucht standesgemässe Ehemänner für die Geliebten des Prinzen und sorgt für regelmässige Zahlungen der Alimente. Zudem organisiert der rührige Beamte Besuche von Prostituierten in seinem eigenen Haus in Den Haag, damit Hendrik von Mecklenburg für seine Eskapaden nicht ins Ausland reisen muss. Damit behalten Wilhelmina und van t’Sant einigermassen den Überblick, was der Prinz so treibt.

«Auch die Fische der Königin haben Gräte.»

Italienisches Sprichwort

Die Reisen in die Schweiz bringen etwas Ablenkung und Ruhe in die problembehaftete Ehe von Königin und Prinz. Unter dem Decknamen «Graf und Gräfin von Buren» reisen Wilhelmina und ihr Hendrik noch mehrmals in ihr favorisiertes Ferienland. 1918 geht es nach St. Moritz und nach Zermatt, 1919 nach Zermatt, 1925 nach Bern, Glarus und Elm, 1926 nach Faulensee, 1928 nach St. Moritz und 1929 via Basel, Bern, Genf ins Wallis. Während des Besuchs der beiden beim Bundesrat ist das Bundeshaus in Bern in den Nationalfarben der Niederlande und der Schweiz geschmückt, das Bundesratszimmer ist gemäss Freiburger Nachrichten «in einen prachtvollen Blumengarten verwandelt», mit blauen Primeln sowie roten und weissen Nelken. 

Anderntags trifft die Königin in Brig ein. Eine grosse Menschenmenge jubelt ihr zu, sodass der Briger Anzeiger schreibt: «Die Königin mag daraus gesehen haben, dass die ältesten Republikaner der Welt dem monarchistischen Gedanken absolut nicht so ferne stehen, wie man es vielleicht meinen könnte.» Sie will den nahen Stockalperpalast besichtigen, wandelt durch dessen Garten und betritt die Küche durch die Bedienstetentür. Sofort wird Wilhelmina barsch darauf hingewiesen, dass der Palast privat sei und sie augenblicklich zu verschwinden habe. Dass sie eine Königin ist, verschweigt Wilhelmina und findet es sehr erheiternd, zum ersten und wohl einzigen Mal aus einem Herrschaftshaus hinausgeworfen worden zu sein. Kurz darauf reist die Gesellschaft weiter nach Montana im Unterwallis und macht dort Urlaub.

Fünf Jahre später kommt die Königin nochmals für einen Erholungsurlaub nach Brig, diesmal ohne ihren Gemahl. Sie wohnt im nobelsten Hotel vor Ort, im «Couronne et poste». Als der daheimgebliebene Prins Hendrik eine Herzattacke erleidet, bricht Wilhelmina ihren Urlaub ab und reist unverzüglich nach Hause. Im Juli 1934 stirbt ihr Gemahl. 

Nach der Beerdigung von Hendrik und all den damit verbundenen Formalitäten muss sich Wilhelmina erholen – dazu reist sie wieder in die Schweiz, dieses Mal ins Toggenburg. Die Königin hat das Hotel Sternen in Unterwasser als Urlaubsdomizil auserkoren. Von Buchs reist die 17-köpfige Gesellschaft ganz einfach mit dem Postauto an. Die Generaldirektion der Post, Abteilung «Postkursinspektorat», plant minutiös: Das Postauto Nr. 1934 mit Fahrer Carl Bösch wird nach Buchs beordert, dazu seien zwanzig Decken im Wagen mitzuführen, zudem stehe ein separater Lastwagen für die fünfzig Koffer der Königsfamilie zur Verfügung. «Dieser edlen Frau und Königin», heisst es bewundernd im Obertoggenburger Wochenblatt, «sieht man die Landesregentin weniger an als mancher schweizerischen Dorfregentin auf viel weitere Distanz. Man spricht von der wahren Königin mit viel Hochachtung und Respekt.» 

Thronfolgerin Juliana fährt Ski, die Gruppe unternimmt Skitouren, Picknicks, Schlittenfahrten und Ausflüge. Speziell für die blaublütigen Gäste veranstalten die Skilehrer ein Schauspringen auf der Säntisschanze. Der Toggenburger Bote bilanziert den königlichen Besuch: «Es soll in diesem unserem echt schweizerischen Blatte keine Propaganda gemacht werden für staatsfremden Monarchismus. Doch es darf gesagt werden, dass Königin Wilhelmina nicht nur die Liebe des eigenen Volkes schon längst erobert hat, sondern sich auch im Auslande beliebt gemacht hat.» Der Werbeeffekt der Urlaubsreise für das Toggenburg ist enorm. Bis zum Kriegsausbruch 1939 sind unter den Gästen, die Unterwasser besuchen, mit Abstand am meisten Niederländer. 

Die Werbewirkung des Royalen greift auch später wieder. Im Jahr 2004 tauft ein Touristiker von Scuol einen bis dahin namenlosen Gipfel «Piz Amalia» – benannt nach der niederländischen Thronfolgerin, der Ururenkelin von Königin Wilhelmina und der Tochter von König Willem-Alexander und von Maxima. Jedes Jahr bekommt die junge Prinzessin zu ihrem Geburtstag ein Geschenk aus dem Unterengadin.

Dennoch war sie noch nie auf dem Berg. Auf «ihrem» Berg. 

Dafür sind etliche Niederländer auf diesen Berggipfel im Unterengadiner Val S-charl gestiegen. Sie ziehen auf diese Weise die Spur, die Königin Wilhelmina durch die Schweiz gelegt hat, bis in die Gegenwart weiter.

Blaues Blut. Royale Geschichten aus der Schweiz», Michael van Orsouw, Verlag Hier und Jetzt, 2019, CHF 39.–. www.hierundjetzt.ch

Beitrag vom 28.06.2020
Michael van Orsouw

ist Schriftsteller und promovierter Historiker aus Zug. Er hat für sein literarisches Schaffen diverse Auszeichnungen und Literaturpreise in Deutschland, Österreich und der Schweiz erhalten. Er schreibt Bücher, für die Bühne und fürs Radio. www.michaelvanorsouw.ch

Das könnte sie auch interessieren

Fortsetzungsroman

9. Eine Demoiselle aus Orbe

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie. Hanspeter Born zeichnet darin ein anderes Bild des umstrittenen Bundesrat Marcel Pilet-Golaz, der 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Landes in die Hand nimmt. Kapitel 9: Eine Demoiselle aus Orbe.

Fortsetzungsroman

8. Führungsschule

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie. Hanspeter Born zeichnet darin ein anderes Bild des umstrittenen Bundesrat Marcel Pilet-Golaz, der 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Landes in die Hand nimmt. Kapitel 8: Führungsschule.

Fortsetzungsroman

7. Die Bühne ruft

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie. Hanspeter Born zeichnet darin ein anderes Bild des umstrittenen Bundesrat Marcel Pilet-Golaz, der 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Landes in die Hand nimmt. Kapitel 7: Die Bühne ruft.

Fortsetzungsroman

6. Pareto

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie. Hanspeter Born zeichnet darin ein anderes Bild des umstrittenen Bundesrat Marcel Pilet-Golaz, der 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Landes in die Hand nimmt. Kapitel 6: Pareto.