© Roland Tännler

Priorin Irene Gassmann: «Wir brauchen Orte der Stille» 

Im Kloster Fahr rauscht die Limmat auf der einen, die Autobahn auf der anderen Seite. Es ist ein Ort der Beständigkeit wie auch der Bewegung. Priorin Irene Gassmann pflegt ein grosses Erbe aus der Vergangenheit mit viel Hoffnung für die Zukunft.

Interview: Annegret Honegger; Fotos: Roland Tännler

Priorin Irene, Ostern naht, das Fest der Auferstehung. Was bedeutet es Ihnen?

Wenn wir frühmorgens noch im Dunkeln das Osterfeuer anzünden, wenn es langsam hell wird und wir gemeinsam «Beim Aufgang der Sonne gingen die Frauen zum Grab» singen, ergreift mich das tief. Doch Ostern ist viel mehr als Halleluja. Die Auferstehung Jesu Christi ist eingebettet in die vorangehende Fastenzeit und die Karwoche. Wie im Frühling die Natur wieder erwacht, lehrt uns Ostern, darauf zu vertrauen, dass das Licht trotz Dunkelheit wieder leuchten wird. Diese Rückkehr des Lebens zu feiern, ist zentral – gerade in Zeiten, die einen oft verzweifeln lassen.

Beschäftigt die Situation «draussen» auch Sie im Kloster?

Natürlich. Wir leben heute, wir sind von dieser Zeit. Und als Ordensfrauen gehört es zu unseren Aufgaben, die Hoffnung wachzuhalten. Wir nehmen die aktuellen Anliegen der Welt mit in unsere Gebete.

«Im Kloster ging für mich eine Welt auf, in der ich mich entfalten konnte.»

Frauen können Ihren Alltag als Gäste teilen. Was suchen sie im Kloster?

Sie suchen Stille, wünschen sich eine Auszeit aus ihrem hektischen Alltag und schätzen die innere Ordnung, die durch unseren Tagesrhythmus entsteht. Die Regel des heiligen Benedikt gibt vor, wann wir beten, arbeiten, essen, reden, schweigen und schlafen. Sie macht es möglich, immer wieder innezuhalten, ganz  bei sich zu sein – und gleichzeitig Gemeinschaft zu erfahren.

Weshalb fehlt es trotz Interesses für solche Auszeiten am Nachwuchs?

Sich fürs Leben zu binden, ist eine grosse Herausforderung. Und ein ganz persönlicher, intimer Entscheid. Heute machen sich Frauen auch viel mehr Gedanken über ihre berufliche Karriere als früher. Mehr denn je muss man sich stets weiter- bilden und weiterentwickeln – dazu steht die Beständigkeit des Klosters etwas quer. Hinzu kommt: Der  Zustand der katholischen Kirche  ermutigt Frauen nicht gerade, sich für diese Lebensform zu entscheiden.

Früher kannte man vielleicht eine Schwester oder Tante im Kloster …

… oder ging zu einer Nonne in den Kindergarten und in die Handarbeit. Klosterfrauen waren viel sichtbarer und vielleicht Vorbilder. Heute hingegen sind wir fast exotisch, man kennt uns höchstens aus Filmen. Das Bild der Ordensfrau hat sich im Gegensatz zum Leben weltlicher Frauen auch kaum gewandelt.

Wie kamen Sie selbst ins Kloster?

Ich träumte als junge Frau davon, Bäuerin zu werden und besuchte im Fahr die Bäuerinnenschule. Dann war es Liebe auf den ersten Blick: Ich spürte, dass ich hier glücklich werden und meine tiefste Sehnsucht stillen konnte. Dass wahr würde, was ich mir wünschte: in der Landwirtschaft zu arbeiten und Zeit für den Herrgott zu haben. Für mich ging im Kloster wirklich eine Welt auf. Ich konnte mich entwickeln und entfalten – und könnte mir heute kein reicheres Leben vorstellen.

«Weiterzugehen, ohne zu wissen, was kommt – das ist für mich Glauben pur.»

Fast hätten Sie aber einen Auslandschweizer Bauern in Kanada gehei­ratet …

Fast. Aber mir wurde klar: Meine Beziehung zu Gott ist wichtiger. Sie ist es, die mich trägt, auch in schweren Zeiten. Das empfand ich schon als Kind und Jugendliche so. Gott war für mich immer ein Vis-à-Vis, das mich verstand. Er gibt mir auch den Rückhalt, den ich für die Aufgaben als Priorin brauche.

Im Kloster lebt man nicht nur mit Gott, sondern auch mit Menschen, die man nicht auswählt.

Das kann anspruchsvoll sein. Aber gleichzeitig ist die Gemeinschaft das, woran ich am meisten wachse. Benedikt lehrt uns, Christus in jeder Mitschwester zu sehen. Jede mit ihren Ecken und Kanten anzunehmen. Immer auch die guten Seiten  zu suchen und nach einem Streit den ersten Schritt aufeinander zuzu- gehen. Natürlich gelingt das nicht immer. Doch schwierige Aufgaben sind am Ende oft diejenigen, die uns am meisten Freude machen.

Dabei hilft eine 1500-jährige Regel?

Lese ich die Benediktsregel, so merke ich, dass die Menschen im Zusammenleben heute noch ähnlich ticken wie damals. Benedikt wusste um diese Tücken – aber auch, wie viel Energie man aus einer guten Gemeinschaft schöpfen kann.

Viele Schwestern sind über achtzig. Wie verändert das den Alltag?

Für manches brauchen wir mehr Zeit, auch für die gegenseitige Unterstützung. Neuerdings haben wir einen zusätzlichen Nachmittag frei, etwa für einen Spaziergang. Und natürlich können wir immer weniger Aufgaben selbst übernehmen, haben mehr Mitarbeitende und viele Freiwillige, die sich engagieren.

Die Zukunft des Klosters scheint ungewiss.

Weiterzugehen, ohne zu wissen, was kommt, und immer wieder die Kraft zu finden, das auszuhalten – das ist für mich Glauben pur. Hoffnung gibt mir dabei die Bibel. Denn an bedeutenden Wendepunkten der Heilsgeschichte standen oft betagte Menschen. Etwa die Prophetin Hannah, die Jesus begrüsste, als ihn seine  Eltern als Baby in den Tempel brachten. Viele Jahre hatte sie geduldig  gewartet – und wurde Zeugin eines Neuanfangs. Seit dieser Erkenntnis ist es für mich etwas ganz Besonderes, eine solche Wendezeit zu erleben und zu gestalten. Nicht zu wissen, wie es weitergeht, macht die Zeit kostbar.

Aber noch fehlt das Baby für den Neuanfang …

Manche Mitschwester hofft vielleicht noch auf eine junge Kandidatin. Ich suche neue Möglichkeiten, wie wir unsere jahrhundertealte Lebensform in die Gegenwart übersetzen können. Gemeinsam mit gleichgesinnten Frauen auch ausserhalb des Klosters möchten wir diesen Schatz weiterentwickeln. Noch ist nichts spruchreif, aber ich bin voller Zuversicht, dass hier im Fahr auch weiterhin Spiritualität gelebt wird. Wir Menschen brauchen solche Orte.

Tragen die Schwestern die Ideen mit?

Mir ist wichtig, dass wir regelmässig darüber diskutieren, mit wem ich mich treffe und woran wir arbeiten. Unsere Gemeinschaft bringt Ideen ein – und hat bereits Übung mit Veränderungen. 2013 mussten wir schweren Herzens unsere Bäuerinnenschule schliessen. Nun ist im leerstehenden Gebäude ein Mehr- generationenwohnen entstanden. Und wir durften erfahren, wie durch das Loslassen Neues wächst.

Auch die tägliche Messe fällt weg, weil Priester fehlen.

Ein prägender Einschnitt, der uns aufforderte, kreativ neue Wege zu suchen. Nun steht statt des Priesters eine Mitschwester am Altar und leitet eine Kommunionfeier. Diese Erfahrung bringt uns ein Stück Unabhängigkeit und stärkt uns als Frauengemeinschaft.

Sie handeln aktiv. Reicht Gott­vertrauen allein nicht?

Gottvertrauen ist unverzichtbar. Aber wenn einem eine Aufgabe entgegenkommt, muss man auch etwas wagen.

«Die Kirche ist meine Heimat, die ich liebe.»

Seit Jahren setzen Sie sich für die Gleichberechtigung in der Kirche ein. Was treibt Sie an?

Menschen von Ämtern und Funktionen auszuschliessen, nur weil sie keine Männer sind, tut mir weh und macht mich wütend. Gott hat uns alle gleich erschaffen – und das Potenzial der Hälfte der Menschheit liegt brach! Dass Frauen von Männern abhängig sind, wenn sie etwa ein Sakrament empfangen wollen, ist heute einfach aus der Zeit gefallen und für viele Kirchenmitglieder nicht mehr nachvollziehbar. Und: Solange das Machtgefälle in der Kirche besteht, solange wird diese Macht auch missbraucht.

Erstaunt Sie Ihre Rolle als Leitfigur beim Ringen um gleiche Rechte manchmal?

Tatsächlich. Aber das ist spannend am Leben: Wohin mich mein Weg führt, liegt nicht allein in meiner Hand. Auch viele meiner Vorgängerinnen waren starke Frauen, die mutige Entscheide fällten.

Müsste man als Klosterfrau nicht eher dulden und schweigen?

Ich frage mich immer, was die heutige Zeit braucht. Vielleicht ist gerade das unser Auftrag: Eine Stimme zu sein für all jene, die  nicht selbst sprechen können.  Als Ordensfrauen haben wir im  Gegensatz zu Seelsorgerinnen oder Theologinnen schliesslich keine Stelle zu verlieren.

Viele treten aus der Kirche aus. Sie aber bleiben.

Ja, ich bleibe. Die Kirche ist meine Heimat, die ich liebe. Und wenn ich austrete, kann ich nicht mehr mitentscheiden und mitgestalten. Jede Stimme zählt.

Woher nehmen Sie die Kraft für diesen Weg?

Aus unserer Gemeinschaft und meinem Netzwerk aus Frauen und Männern, in dem wir uns gegenseitig ermutigen. Ein grosses Geschenk ist auch unser Tagesrhythmus. Nach der Mittagshore etwa, meiner liebsten Gebetszeit, und dem Mittagessen, das wir schweigend einnehmen, gehe ich gestärkt an Leib und Seele zurück an die Arbeit. Immer wieder erlebe ich auch beim Beten der  Psalmen, dass mir plötzlich einer  bei genau der Frage weiterhilft, die mich gerade beschäftigt. Denn die  biblischen Texte sind nicht einfach uralte Buchstaben, sondern haben mit meinem Leben zu tun. Das ist jedes Mal eine kleine Ostererfahrung.

Priorin Irene Gassmann

Mit 21 Jahren trat die Luzerner Bauerntochter (*1965) ins Kloster Fahr ein. Bis zu ihrer Wahl zur Priorin 2003 leitete die ausgebildete Hauswirtschaftslehrerin und Erwachsenenbildnerin die Bäuerinnenschule. Sie ist Mitgründerin der Junia-Initiative, die Frauen das Recht zusprechen will, Sakramente wie Taufe oder Krankensalbung zu spenden. 2019 initiierte Irene Gassmann das Donnerstagsgebet «Schritt für Schritt» für Mut und Zuversicht auf dem Weg zur gleichberechtigten Kirche. 2024 zeichnete die Universität Freiburg sie als Ehrendoktorin aus.

© Kloster Fahr/ Sabrina Golob

Frauen, die das Leben lieben

Die Benediktsregel
Der heilige Benedikt schuf im 6. Jahrhundert eine Anleitung zum Leben in klösterlicher Gemeinschaft. Gebetszeiten und Lesungen wechseln sich mit Arbeit und Erholung ab, was ausgleichend auf Körper und Seele wirkt. Die Kurzformel «ora et labora» macht deutlich, dass Gebet und Arbeit keine Gegensätze sein sollen, sondern beide dazu dienen, Gott zu suchen und zu finden.

Tagesablauf im Kloster Fahr
Sechs gemeinsame Gebete strukturieren den Tag. Das erste ist die Vigil um 5.50 Uhr, das letzte die Komplet um 19.30 Uhr. Die Mahlzeiten nehmen die Schwestern abgesehen vom Nachmittags- kaffee schweigend ein. Am Morgen und am Nachmittag ist Zeit für persönliche Bibel-Lesung und Meditation, während des Mittagessens liest die Tischleserin aus weltlichen Büchern wie Biografien oder Reiseberichten vor. Nach dem Abendessen dient die Rekreation der gemeinsamen Erholung. Neben zwei individuellen Ferienwochen ausserhalb des Klosters gibt es weitere freie Tage, in denen die Arbeit ruht und man Gemeinschaft und Genuss pflegt.

«Frauen, die das Leben lieben»
So bezeichnen sich die 17 Benediktinerinnen, die im Kloster Fahr leben. Das Kloster an der Limmat wurde im Jahr 1130 gestiftet und gehört heute, umgeben vom Kanton Zürich, politisch zur Gemeinde Würenlos AG. Alle sechs Jahre wählen die Schwestern aus ihren Reihen eine Priorin. Als Abt amtet der Abt des Klosters Einsiedeln, zu dem das Kloster Fahr gehört. Frauen können als Gäste den Tagesrhythmus der Klostergemeinschaft teilen. Zudem finden regelmässig Führungen und Veranstaltungen statt.

Mehr Infos: kloster-fahr.ch

Beitrag vom 10.04.2025