Alles den Bach runter Von Daniel Badraun

Kevin, der Zivildienstleistende, ist lang und schlaksig. Rote Haare. Sommersprossen. Bei seinem mehrwöchigen Einsatz im Altersheim will der Zivi mit rüstigen Seniorinnen Walzer tanzen und den Neugierigen die Zeitung vorlesen. Weil damals keiner mit seiner Grossmutter tanzte und sich nur selten jemand die Zeit nahm, dem Grossvater die Berichte über den Kleintierzüchterverband vorzulesen. Als sich Grossmama den Schenkelhals brach und der Grossvater eingeschlossen in seinem Kokon dahindämmerte, war es zu spät. Darum will Kevin etwas Sinnvolles tun, anstatt in der RS mit einem Gewehr durch den Matsch des Waffenplatzes zu kriechen.

Im Altersheim Sonnegg tanzen sie jeden ersten Mittwoch im Monat Walzer, Foxtrott und Ländler. Am dritten Mittwoch lädt die Heimleitung zum Dessertbuffet ein, an anderen Tagen wird eine Diaschau oder ein Film vorgespielt. Doch Kevin kommt vorerst nicht dazu, rüstige Damen im Kreis herumzuwirbeln oder einer geselligen Runde Cremeschnitten zu servieren. Das hat mit Gerhard Wagner vom zweiten Stock, Zimmer 207, zu tun. An Wagner hatten sich bereits drei Zivildienstleistende die Zähne ausgebissen. Nun soll sich Kevin an seinem ersten Mittwoch um ihn kümmern.

«Er ist etwas stur.» Carola, die verantwortliche Pflegedienstleiterin, lächelt aufmunternd. «Er sollte nicht trinken, sonst wird er bösartig. Aber du schaffst das schon.»

«Kevin? Was ist das für ein Name?», brummt Wagner, als der Zivi sich bei ihm vorstellt.
Nicht ungewöhnlicher als Gerhard, würde er gerne sagen.
«Ich soll Sie hinunterbegleiten in die Cafeteria», antwortet er stattdessen und rückt den Rollator zurecht.
«Wozu? Da sitzen nur alte Leute herum.»
Wieder verkneift sich Kevin seine Antwort. «Das wird sicher nett, heute gibt es Musik. Da kann man tanzen und etwas trinken.
«Glaubst du im Ernst, dass ich freiwillig mit Nina Müller herumhopse oder mir bei einem Glas Rivella die Krankengeschichte von Franz Maier anhören will?»
Gerhard Wagner schlurft hinüber zum Stuhl, zieht eine Wolljacke an und darüber ein Fischergilet, dann setzt er seine Mütze auf. «Abmarsch, junger Mann!»
Kevin geht neben dem Rollator her – bis zum Lift. In der Eingangshalle biegen die beiden nach rechts zum Eingang ab und lassen die Cafeteria links liegen. Langsam folgen sie der Strasse in Richtung Unterführung.

«Wohin gehen wir?»
«Zum Kiosk.»
«Weil …?», fragt Kevin und versucht, ein Gespräch aufrechtzuerhalten. Wagner schweigt eine Weile und konzentriert sich auf den Weg. Und danach auf eine hübsche Passantin, die ihnen einen gelangweilten Blick zuwirft.
«Was weiss die schon?», knurrt er ungehalten. «Einfach so in den Tag hineinleben, als wäre nichts dabei.»
«Das ist doch schön», erwidert Kevin, «man muss auch geniessen können.»
«So?» Der alte Mann bleibt stehen. «Muss man das?»
«Wir sind jung, wir brauchen unsere Freiheit.»
«Freiheit? Dass ich nicht lache», brummt Wagner. «Das Leben verlangt, dass du deine Pflicht erfüllst. Deinem Arbeitgeber gegenüber, deiner Familie und dem Staat. Mit eurer Freiheit geht alles den Bach runter.»

«Meinen Sie den Ernst des Lebens?» Kevin denkt an seinen Vater, der ihm vorwirft, er nehme alles auf die leichte Schulter.
«Der Ernst kommt. Dann ist fertig mit Faulenzen. Fertig mit Träumen. Das versuche ich euch jungen Leuten mit auf den Weg zu geben. Aber auf mich hört ja niemand.» Langsam setzt sich Wagner wieder in Bewegung.
«Weil wir eine andere Generation sind», versucht Kevin zu erklären.
«Weil ihr kein Verantwortungsgefühl habt», gibt Wagner zurück, «und weil ihr das Alter nicht ehrt.»

Da ist das Alter möglicherweise selber schuld, denkt Kevin bei sich.

«Habe ich nicht recht?», insistiert Wagner, als ein paar Teenager auf Skateboards an ihnen vorbeirollen.
Am Kiosk kauft Wagner drei Lose und – trotz Kevins Missbilligung – eine Büchse Bier. Die Lose erweisen sich als Nieten, und das Bier ist zu warm.
«Was schaust du so?», herrscht Wagner die Verkäuferin an.
«Gehen wir?», meint Kevin und versucht, die Situation zu beruhigen.
«Aber sicher, hier haben wir nichts mehr verloren.» Wagner wirft Lose und Bierbüchse in den Abfalleimer.

Der Rückweg zieht sich endlos hin. Wagner keucht. Wagner setzt sich auf den Sitz seines Rollators. Wagner schlägt wütend auf den Griff, als sich die Bremse nicht gleich lösen lässt. Wagner wischt sich den Schweiss von der Stirn.

Kevin fragt sich, was er eigentlich im Altersheim soll. Er bereut, dass er sich nicht für einen Umwelteinsatz gemeldet hat. Blumen sind nicht so stur wie dieser alte Mann.

«Was würden Sie tun», fragt er nach einer Weile, «wenn das Los ein Volltreffer wäre?»
Wagner setzt sich hin. «Willst du das wirklich wissen?»
«Hätte ich sonst gefragt?»
«Es ist nur», sagt der alte Mann langsam und schüttelt den Kopf, «weil sich im Altersheim kaum jemand für mein Leben und schon gar nicht für meine Träume interessiert hat. Dabei … ich hab doch so einiges durchgemacht, musst du wissen. Während den Kriegsjahren ging ich ja noch zur Schule. Da gab es die Verdunkelung und wir mussten wochenlang in den Landdienst. Zum Glück schaute General Guisan nach dem Rechten.»

Eine Kriegsgeschichte hat mir gerade noch gefehlt, denkt Kevin, gleich wird mich Wagner fragen, warum ich keinen Militärdienst leisten will.

«Ich bin ein alter Mann», sagt dieser nach einer Pause, «mein Leben ist wie ein Baum mit vielen Ästen. Überall hängen Früchte, die niemand pflücken will. So ist das.»
Kevin schweigt betroffen, denn auch er zieht sich lieber zurück und schaut Youtube-Filme auf dem Handy an, anstatt sich Geschichten von früher erzählen zu lassen.
«Habe ich recht?» Wagner schlägt wütend auf die Griffe des Rollators. «Sicher habe ich recht. Und darum geht alles den Bach runter.»

«Es ist nicht ganz so einfach», meint Kevin und versucht, die Sache zu erklären.
«Doch, es ist sehr einfach.» Wagner wird laut. «Unser Leben interessiert euch Junge einen feuchten Dreck. So einfach ist das.»
«Ist es nicht», erwidert Kevin, «es ist nur so, dass wir unsere eigenen Fehler machen wollen, unsere eigenen Erfahrungen. Wir wollen nicht vor allen Schwierigkeiten gewarnt werden. Genauso wenig wollen wir hören, wie steinig euer Weg gewesen ist, wie ihr kämpfen und euch anstrengen musstet, damit wir es einmal besser haben.»
«Ist das alles?»
«Noch lange nicht», faucht Kevin, der sich nicht mehr beherrschen kann.

Sie starren einander an, erst schwer atmend, dann lächelnd.
«Du bist ein harter Hund.» Der Alte streckt die Hand aus.
«Sie sind auch ein Sturkopf.» Der Junge schlägt ein.
Zwei Hände umfassen sich, die eine voller Flecken, die andere braungebrannt.
«Und das Los?»
Wagner schüttelt den Kopf. «Es ist ein Traum.»
«Ich höre.»

«Bitte nicht lachen», sagt der alte Mann leise. «Ich wuchs nicht weit von hier auf. Als wir Kinder waren, spielten wir am Bach, der hinter dem Altersheim hindurchfliesst. Früher war hier ein Wäldchen, für uns war es riesig wie ein Urwald. Wir liessen Rindenschiffe los und stellten uns vor, wie diese Stromschnellen überwinden mussten und schliesslich bis zum Meer fuhren. Aber dann kam der Ernst des Lebens. Und meine Träume …»
«… gingen den Bach runter. Was ist jetzt mit dem Los?»
«Wenn ich gewinne», erklärt Wagner, «gönne ich mir eine Schiffsreise auf dem Fluss bis zum Meer.»
Kevin reibt sich die Nase. «Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie in den nächsten Monaten etwas gewinnen, ist ziemlich klein.»
«Meinst du? Leider habe ich nicht viel Zeit.» Wagner ist wieder laut geworden. «Mir bleibt nichts anderes übrig, als jeden Tag drei Lose zu kaufen. Oder hast du einen besseren Vorschlag?»

Kevin schweigt.
«Es ist immer das Gleiche mit euch Jungen. Wenn es konkret wird, dann kneift ihr.»
Auf dem Rückweg zum Altersheim herrscht Schweigen.
«Auf deine Dienste werde ich in Zukunft verzichten», erklärt Wagner nach ihrer Ankunft in der Sonnegg und geht hinüber zum Lift. «Du bist für mich …»
«… den Bach runter», sagt Kevin leise.

«Aufstehen!» Kevin ist unbemerkt ins Zimmer gekommen und rüttelt an der knochigen Schulter.
«Hab ich gestern nicht gesagt, dass ich dich nicht mehr sehen will?» Wagners dunkle Augen blitzen gefährlich.
«Überraschung!» Kevin hält Wagner ein selber gezeichnetes Papier vor die Nase.
«Was ist das?»
«Ein Los. Der Hauptgewinn. Kommen Sie mit.» 

Wolljacke, Fischergilet, Mütze und Rollator. Der alte Mann ist bereit. Kurz nach dem Mittagessen ist niemand in den Gängen des Altersheims unterwegs. Es riecht nach Braten, Mittagsschlaf und Reinigungsmittel. Die beiden nehmen den Hinterausgang, durchqueren den Park und stehen schon bald am Bach, der hier zwischen dem grasbewachsenen Ufer vorbeifliesst.

«Willst du Rindenschifflein schwimmen lassen? Dafür bin ich zu alt.» Wagner dreht sich um.
«Warten Sie.» Kevin verschwindet hinter einem Gebüsch und kommt gleich darauf mit einem aufblasbaren Kanu zurück.
«Einsteigen», befiehlt er.
«Willst du etwa …?»
«Den Bach runter? Genau.» 

Kevin schiebt das Kanu über die Wiese und hinunter zum Wasser. Dann reicht er Wagner die Hand.
«Dafür wirst du gefeuert.» Ächzend setzt sich der alte Mann auf den Rand und rutscht vorsichtig hinüber zum Sitz. «Und mich schmeissen sie auch raus.»
«Festhalten!» Kevin steigt ein und greift nach dem Paddel.

Es ist eine merkwürdige Fahrt. Der Bach ist kaum mehr als zwei Meter breit. Die Äste von Büschen und Trauerweiden bilden Tunnels, durch die sie hindurchfahren. Spielende Kinder winken ihnen zu. Ein Fischer zieht kopfschüttelnd seine Angel ein, als sie vorbei treiben. Auf einem Feld pflügt ein Traktor. Später kommen sie zu einer Brücke, bei der sie die Köpfe einziehen müssen.

Gerhard Wagner summt Melodien aus seiner Kindheit, lässt sich von vorbeiziehenden Blättern streicheln, taucht die Hände ins Wasser und greift nach kleinen Steinen auf dem Grund. Kevin rudert schweigend und überlässt den alten Mann seinen Träumen.

Nach einer Weile essen sie am Ufer Landjäger und Brötchen, dazu trinken sie kaltes, alkoholfreies Bier.Am frühen Abend erreichen sie ein Dorf. Auf dem Parkplatz steht der Bus des Altersheimes.

«Kannst du beim Kiosk vorbeifahren», bittet Wagner den Gärtner, der sie abholt. «Ich möchte noch meine Lose kaufen.»


Daniel Badraun, 1960 in Samedan geboren, schreibt für Erwachsene und Kinder: Kolumnen, Krimis und Theaterstücke. Seit 1989 arbeitet er als Kleinklassenlehrer in Diessenhofen. Der Autor und Vollblutlehrer wohnt mit seiner Frau in der Nähe des Bodensees, hat vier erwachsene Kinder und eine wachsende Enkelschar. Nebst am Schreibpult ist er auch oft in der Natur anzutreffen, auf dem Velo oder auf Wanderwegen. www.badrauntexte.ch


«Voll im Wind»

Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps

Grossvater riecht nach Schnaps und Grossmutter lacht nicht mehr. Was ist passiert? «Älterwerden ist kein Spaziergang», erzählen Betroffene – und die Jüngeren nehmen es irritiert zur Kenntnis. Ruth und Fritz haben es doch schön in der Alterswohnung, und Trudi wird im Pflegeheim rund um die Uhr verwöhnt. Was ist daran so schlimm?

Es sind dies die Übergänge und Brüche; vermehrt gilt es, Abschied zu nehmen: vom Haus, vom Partner, vom Velofahren. Das Gehen verändert sich weg von der Selbstverständlichkeit hin zur Übung und Pflicht; das Autofahren ist ohnehin ein Tabu, so will‘s die Tochter. Ist es da so abwegig, den Kopf hängen zu lassen? Sich Pillen verschreiben zu lassen oder ein Glas über den Genuss hinaus zu trinken? Ja, es ist abwegig, weil es auf Abwege führt und nicht auf einen grünen Zweig.

22 Schweizer Autorinnen und Autoren erzählen Geschichten über ältere Menschen, denen der Wind derzeit mit voller Wucht entgegenbläst. Ein Anhang mit einfachen Infos und Tipps sowie weiterführenden Adressen bietet den nötigen Windschutz.

  • «Voll im Wind – Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps», Hrsg. Blaues Kreuz Schweiz, © 2020 by Blaukreuz-Verlag Bern, ISDN 978-3-85580-549-5
  • Cover-Illustration: Tom Künzli, TOMZ Cartoon & Illustration, Bern. Lektorat: Cristina Jensen, Blaukreuz-Verlag. Satz und Gestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld. Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
  • Das Projekt wird vom Nationalen Alkoholpräventionsfonds finanziell unterstützt. Für Begleitpersonen stehen unter www.blaueskreuz.info/gesundheit-im-alter weitere Fachinformationen zu den Themen des Buches bereit.

Beitrag vom 22.05.2022

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Das könnte sie auch interessieren

Fortsetzungsroman

65. Landammann Etter?

In «Staatsmann im Sturm» zeichnet Hanspeter Born ein anderes Bild des umstrittenen Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz, der die Schweiz 1940 unbeschadet durch die stürmischen Monate des zweiten Weltkriegs steuerte. Kapitel 65: Landammann Etter?

Fortsetzungsroman

64. Battle of Britain

In «Staatsmann im Sturm» zeichnet Hanspeter Born ein anderes Bild des umstrittenen Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz, der die Schweiz 1940 unbeschadet durch die stürmischen Monate des zweiten Weltkriegs steuerte. Kapitel 64: Battle of Britain.

Fortsetzungsroman

63. Dr. Grawitz besucht die Schweiz

In «Staatsmann im Sturm» zeichnet Hanspeter Born ein anderes Bild des umstrittenen Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz, der die Schweiz 1940 unbeschadet durch die stürmischen Monate des zweiten Weltkriegs steuerte. Kapitel 63: Dr. Grawitz besucht die Schweiz.

Fortsetzungsroman

62. Professor Burckhardt und die germanische Kultur

In «Staatsmann im Sturm» zeichnet Hanspeter Born ein anderes Bild des umstrittenen Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz, der die Schweiz 1940 unbeschadet durch die stürmischen Monate des zweiten Weltkriegs steuerte. Kapitel 62: Professor Burckhardt und die germanische Kultur.