68. Dammbruch Aus «Staatsmann im Sturm»

Um 9 Uhr, am Donnerstag, 12. September, während der Bundespräsident Pilet-Golaz ahnungslos im Zug von Bern ans Comptoir nach Lausanne fährt, schreibt ein aufgeregter Markus Feldmann in sein Tagebuch: «Die Schweiz ist möglicherweise soeben in eine Staatskrise eingetreten.» Auf dem Pult des Chefredaktors der Neuen Berner Zeitung liegt eine Mitteilung:

«Am 10. September empfing Herr Bundespräsident Pilet-Golaz die bevollmächtigten Vertreter der Nationalen Bewegung der Schweiz, Ernst Hofmann und Dr. Max Leo Keller, in offizieller Audienz. Der Unterredung wohnte auch der Dichter Jakob Schaffner bei. Die Vertreter der NBS unterrichteten den Bundespräsidenten über deren politische Zielgebung als der Trägerin des neuen politischen und sozialen Gedankens. Die Unterredung, welche 1 ½ Stunden dauerte, stellt einen ersten Schritt zur Befriedung der politischen Verhältnisse in der Schweiz dar.»

Eine kurze Nachschrift bemerkt, die Mitteilung an die Presse erfolge im Einverständnis mit dem Herrn Bundespräsidenten. Der deutsche Rundfunk hat das von der NBS herausgegebene Communiqué schon vorher, um 6 Uhr früh, verlesen. In Berlin herrscht Genugtuung darüber, dass die Schweizer Nazifreunde vom Bundespräsidenten offiziell empfangen worden sind.

Auf der Redaktion der Neuen Berner Zeitung läuft an jenem Morgen das Telefon heiss. Bund-Chefredaktor Schürch berichtet Feldmann, in der Vollmachtenkommission habe die Angelegenheit Nationale Bewegung der Schweiz «wie eine Bombe eingeschlagen». Hptm. Nef, APF-Verbindungsmann zum Bundesrat, hat mit Etter sprechen können und telefoniert um 10 Uhr 30 Feldmann:

Etter schien sehr besorgt, eigentlich erschüttert und unterstrich die Notwendigkeit einer sofortigen Erklärung Pilets, der heute abwesend sei. Die Frage Etters, ob die Behandlung der Sache in der Presse verhindert werden könne, beantwortete Nef bestimmt ablehnend; die Kommentierung in der Presse muss die Lösung der Krise erleichtern und beschleunigen. Nef beurteilt die Lage wie folgt: Entweder befriedigende Erklärung Pilets oder Demission.

Nach weiteren Telefongesprächen mit anderen Journalisten ergibt sich für Feldmann folgende Situation:

Pilet, getreu seinem mit der Rede vom 25. Juni eingeschlagenen Pétain-Kurs, ist drauf und dran, nun gleichzeitig aussen- und innenpolitisch die schärfste Krise heraufzubeschwören. Diese Krise muss sofort lokalisiert und abgeriegelt werden; der autoritäre Kurs Pilet ist fallreif geworden. Gelingt es nicht, innerhalb weniger Tage die Spannung zu lösen, so drohen schwere aussenpolitische Komplikationen.

Feldmann, in seiner Eigenschaft als Präsident der Parlamentarischen Pressegruppe, orientiert seinen BGB-Parteichef Reichling, KK-Fraktions- und Vollmachtenkommissions- Präsident Nietlispach und FDP-Generalsekretär Steinmann über seine Meinung, auf welche Weise entschlossen gehandelt werden könne. Pilets freisinniger Parteikollege Steinmann ist wie Feldmann der Auffassung, dass man in allen Parteisektionen «den Widerstand organisieren» müsse: «In seinen Kreisen sei man sehr besorgt, da man den Eindruck habe, die Affäre Pilet sei nur der Anfang einer Entwicklung. Pilet müsse demissionieren.»

Pilet, der von Etter am Telefon erfahren hat, was sich in Bern abspielt, hält um 13 Uhr im Palais de Beaulieu seine grosse Rede, als sei nichts geschehen. Er nimmt am anschliessenden Bankett teil und unterhält sich am Nachmittag zwanglos mit Waadtländer Mitbürgern. Offenbar nimmt er die Aufregung im Berner Bienenhaus auf die leichte Schulter. Für ihn war seine Unterredung mit dem «Dichter Schaffner und Begleitern» eines von vielen Gesprächen, das er routinemässig mit Abordnungen der verschiedensten Interessengruppen oder Privatpersonen führt.

Etter erkennt die Brisanz der Frontistenangelegenheit. Er hat in der Vollmachtenkommission die empörten Voten von Sozialdemokraten aber auch von einigen Freisinnigen ins Ohr bekommen. Fast einhellig haben die anwesenden Nationalräte den Empfang der Nazifreunde verurteilt. Johannes Huber überkam «das Grauen, wenn man bedenkt, wie es in anderen Ländern angefangen hat». APF-Verteter Nef hat Etter bei seinem täglichen Rapport auf die ausserordentliche Schwere der Situation aufmerksam gemacht. Der Innenminister sieht die Notwendigkeit eines bundesrätlichen Communiqués. Die missverständliche Mitteilung der NBS muss sofort ins richtige Licht gesetzt werden. Er kann dieses Communiqué allerdings nicht ohne Mitwirkung Pilets abfassen. Erst nach dessen Rückkehr am Abend schustern Etter und Pilet rasch eine kurze Richtigstellung zusammen. Die Depeschenagentur erhält das bundesrätliche Communiqué erst um 19 Uhr, zu spät für die Abendnachrichten. Feldmann schreibt um 20:30 Uhr in sein Tagebuch:

Ein (bei uns leider zu spät eingetroffenes) Communiqué aus dem Bundeshaus stellt fest, dass Pilet vom Inhalt des Communiqués keine Kenntnis gehabt habe und dass der Bundespräsident die Kommentierung dieser Audienz in der Mitteilung der «Nationalen Bewegung» missbillige. Damit wäre eine erste Abklärung erfolgt.

«Leider zu spät.» Feldmann wie auch andere wichtige Deutschschweizer Journalisten haben ihre Artikel zum Frontistenempfang bereits in Druck gegeben. Die meisten Zeitungskommentare in den Freitagsausgaben gehen von der irreführenden Mitteilung der Nationalen Front aus, wonach die NBS-Mitteilung mit Einvernehmen des Bundespräsidenten erfolgt sei.

Als Pilet am nächsten Morgen, Freitag, 13. September, sein Leibblatt Gazette de Lausanne aufschlägt, findet er zur Frontistenaudienz auf der zweiten Seite bloss eine kurze Agenturmitteilung mit dem Titel: «M. Pilet-Golaz reçoit des représentants du Mouvement national suisse» und dem Untertitel «Une mise au point». Die Mitteilung der NBS fehlt, einzig das Communiqué des Bundeshauses, das die Handschrift Pilets trägt, ist in der Nachmittagsausgabe abgedruckt. Darin heisst es, dass der Bundespräsident einer Vertretung der Nationalen Bewegung der Schweiz, die wünschten, ihm die Ziele ihrer politischen Bewegung zu erläutern, auf deren Ersuchen eine Audienz gewährt habe. Die deutsche Fassung des Communiqués lautet weiter:

Am Schluss der Audienz erklärte sich der Bundespräsident auf Befragen der Gäste damit einverstanden, dass diese von der Audienz der Öffentlichkeit Kenntnis gäben. Vom Text dieser Veröffentlichung hatte der Bundespräsident jedoch keine Kenntnis, da ihm dieser Text, der zugleich einen von ihm nicht gebilligten Kommentar der Audienz enthält, nicht unterbreitet wurde. Die Bemerkung der «Nationalen Bewegung», dass ihre Mitteilung «im Einverständnis mit dem Herr Bundespräsidenten erfolge», muss deshalb als irreführend bezeichnet werden. Bundespräsident Pilet hat den Bundesrat über die Audienz der «Nationale Bewegung» orientiert.

Die Gazette hält die Angelegenheit für nebensächlich. Das «Regierungsblatt» Bund schweigt vorerst einmal.

Nicht so die überwältigende Mehrheit der Deutschschweizer Presse. Führende Figuren der SPS nehmen die Gelegenheit war, um die Audienz in aller Schärfe zu kritisieren.

Im Freien Aargauer geht der immer gern gelesene Nationalrat Arthur Schmid mit Pilet hart, aber nicht unfair ins Gericht:

Wir glauben nicht, dass Bundesrat Motta sich dazu hergegeben hätte, mit Leuten, die eine verschwindende Minderheit in der Schweiz darstellen und die nicht demokratisch denken, eine solche Unterredung zu pflegen. Das Schweizervolk hat nicht nötig, dass ein «erster Schritt» von jener Seite «zur Befriedung der politischen Verhältnisse» erfolge. Die politischen Verhältnisse in der Schweiz sind in Ordnung. Wenn man in allen Ländern derartige Zustände hätte, dann lebte die Welt im tiefsten Frieden. Recht und Mitspracherecht des Volkes wären garantiert. Wir glauben nicht, dass sich darüber ein Bundesrat orientieren muss. Wenn die obige Mitteilung stimmen sollte, dann halten wir den Schritt von Bundespräsident Pilet-Golaz für untragbar.

Ein nicht gezeichneter kurzer Kommentar in der Berner Tagwacht ist überschrieben mit «Innere Gefahr! Herr Pilet spielt mit dem Feuer». Er stammt zweifellos von Grimm:

Dieser erste Schritt zu «Befriedung» ist der erste Schritt zur grössten inneren Gefahr, die der Schweiz heute drohen kann. Darin sind sich heute alle Schweizer einig: nichts kann jetzt gefährlicher sein als innere Unruhen, welche irgendeiner Aussenmacht den Vorwand liefern könnten, in der Schweiz «Ordnung» machen zu müssen. Die Kampfmethoden der «Fronten» sind bekannt. Radau, Gewalt, Hemmungslosigkeit gegenüber Behörden und Andersdenkenden sind ihre Mittel. Ihren Demonstrationen würden Gegendemonstrationen, ihren Gewalttaten müsste die Abwehr folgen. Ihre Ziele sind der Krach, die innern Unruhen. Weiss der Herr Bundespräsident, dass er Leute empfängt, welche erst kürzlich die englische Gesandtschaft in Bern mit Drohbriefen bedrohten? Wir mahnen zum eidgenössischen Aufsehen; hoffentlich ist sich der Gesamtbundesrat darüber vollständig klar, dass das Wiederaufleben des «Fronten »-Zaubers keine Befriedung, sondern unter den gegebenen Umständen die höchste Gefährdung der Schweiz ist.

Wie seinem Genossen Schmid geht es auch Grimm nicht darum, die gaffe Pilets parteipolitisch auszunützen. Beide sind gute Patrioten und sorgen sich ehrlich um die Zukunft der Schweiz.

Viel schärfer als Schmid oder Grimm nehmen prominente Freisinnige ihren eigenen Bundesrat aufs Korn. Das Luzerner Tagblatt bringt die Nachricht über die «Fröntler»-Unterredung in grosser Aufmachung unter dem Titel: «Eine Unmöglichkeit ». Der von Bundeshausredaktor und FDP-Generalsekretär Steinmann mit st. gezeichnete Artikel erinnert daran, dass die von Pilets Besuchern vertretene Bewegung dafür einstehen wollte, dass für jeden Sprach- und Kulturstamm der Schweiz und entsprechend für jeden Angehörigen eines solchen die volle Freiheit besteht, sich zu seinem angestammten Volksstamm zu bekennen und sich seiner Förderung zu widmen. Überaus interessant ist auch die Auffassung, dass mit dieser Audienz «der erste Schritt zur Befriedung der politischen Verhältnisse der Schweiz» getan sei. Hier kann es nur eine Alternative geben: Entweder ist diese Mitteilung frei erfunden — oder Herr Bundesrat Pilet ist unmöglich geworden.

Die ebenfalls freisinnige Thurgauer Zeitung – vermutlicher Autor APF-Verbindungsmann Nef – schreibt:

Wir können es nicht fassen, dass Herr Pilet-Golaz, selbst wenn er, was nach unserer Auffassung durchaus nicht nötig gewesen wäre, den Herren Erneuerern von der Klasse eines Max Leo Keller und Hofmann einen Besuch gestattet hätte, das Einverständnis zu einer derart plumpen und wichtigtuerischen Mitteilung gegeben hätte. Wir brauchen ja diesen «ersten Schritt zu Befriedung der politischen Verhältnisse in der Schweiz» wirklich nicht.

Die NZZ erteilt wie üblich den Regierenden in Bern Ratschläge:

Die ganze Angelegenheit ist peinlich und bedauerlich. Bundespräsident, Bundesrat und Parlament werden sich in den allernächsten Tagen bemühen müssen, sie endlich klarzustellen und dafür zu sorgen, dass aus ihr keine Bedrohung der schweizerischen Einigkeit und keine Anzweiflung der Grundlinien einer Politik der Unabhängigkeit entsteht.

Auch für Albert Oeri in den Basler Nachrichten ist es wenig verständlich, dass den Frontisten «eine Audienz überhaupt gewährt wurde, es sei denn, dass man ihnen einfach den Kopf waschen wollte».

Markus Feldmann erinnert in seinem Leitartikel in der Neuen Berner Zeitung, dem Organ der Regierungspartei BGB, dass die «Nationale Aktion» aus Kreisen besteht, «die zu den schärfsten Gegnern der freiheitlichen, demokratischen Staatsordnung zählen und gegen deren Presse aus Gründen der Staatssicherheit eingeschritten werden musste». Wenn die vom Bundespräsidenten empfangenen «bevollmächtigten Vertreter einer solchen Bewegung» von einem ersten Schritt zur Befriedung der Schweiz redeten, täuschten sie sich. Das Gegenteil sei der Fall. Jetzt bestehe die Gefahr verschärfter Spannungen:

Diese Gefahr kann nur beschworen werden

1. durch eine unmissverständliche Erklärung des Herrn Bundespräsidenten, dass die «Nationale Bewegung der Schweiz» in ihrer öffentlichen Mitteilung den Sinn der Audienz vom 10. September nicht richtig wiedergegeben hat.

2. durch die Klarstellung der Frage, auf welche politischen Kräfte des Landes der Bundesrat in der Erfüllung seiner staatspolitischen Aufgaben sich inskünftig zu stützen gedenkt.

Nach beiden Seiten ist eine solche und durchgreifende Abklärung dringend erforderlich: in fundamentalen Fragen der Staatsführung erträgt die Eidgenossenschaft keine unklare Lage und keine Zweideutigkeit.

FDP-Generalsekretär Ernst Steinmann lässt im Luzerner Tagblatt den «Film der unmöglichen Audienz» abrollen. Er stellt in der Öffentlichkeit einen «Einbruch in das Vertrauen» fest, «dessen Herr Pilet sich bisher erfreuen konnte»:

Schon seine auffallende Radiorede war geeignet, da und dort Zweifel aufkommen zu lassen. Das vorbeugende Mittel einer restlosen Aufklärung der Öffentlichkeit ist nicht benutzt worden.

Für Steinmann ist unbegreiflich, dass sich Pilet nicht einmal die Mühe nahm, sich über den Inhalt der zugestandenen Pressemitteilung zu informieren: «Dies angesichts der äusserst behutsamen Praxis in der Presseinformierung durch den Bundesrat! » Im Bundesrat bestehe immerhin Übereinstimmung, dass Pilet sich von den «besten Absichten leiten liess»:

Aber er hat durch sein eigenmächtiges Vorgehen etliches Geschirr zerschlagen und wird nun danach trachten müssen, den Vertrauenseinbruch in seine magistrale Stellung so schnell als möglich zu reparieren.

In der Bundesratsitzung vom 13. September ist die Fröntler-Audienz das Hauptthema, auch wenn im offiziellen Protokoll kein Wort darinsteht. Es existiert immerhin das von Vizekanzler Leimgruber geführte Notizheft zur Sitzung:

Minger berichtet über die Entrüstungsbewegung wegen Empfang der Delegation der Erneuerungsbewegung durch Bundespräsident. Man muss sofort Presse verhindern, dass sie Öl ins Feuer wirft. Ferner sollten Fraktionspräsidenten einberufen werden. Baumann: Der Bundespräsident sollte persönlich Erklärung des wahren Sachverhaltes in Presse veröffentlichen.

Celio: Der Bundesrat muss Herrn Bundespräsident decken.

Stampfli ist mit Präsidentenkonferenz am Montag einverstanden, ferner, dass Presse zu Ruhe und Zurückhaltung eingeladen werde. 

Minger: Inneres soll alles tun, um Presse zu beruhigen. Dann am Montag Besprechung Bundespräsident mit den Fraktionspräsidenten, hierauf Diskussion in den Fraktionen unter Hinweis auf Kriegsgefahr, wenn wir…

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Hier brechen die Notizen Leimgrubers ab. Hat er einen Wink gekriegt, dass die Diskussion nicht ins Protokoll gehört? Der Bundesrat scheint einig hinter Pilet zu stehen, mit Ausnahme vielleicht von Baumann, der Pilet wegen seinen «diktatorischen Tendenzen» manchmal auch privat kritisiert. Das Votum des Justizministers könnte grob so interpretiert werden: Pilet soll seine Suppe allein auslöffeln. Der Bundesrat einigt sich auf die Abhaltung einer Konferenz der Fraktionspräsidenten am folgenden Montag, 16. September – dem Tag, an dem auch die ordentliche Herbstsession der eidgenössischen Räte beginnt.

Am Samstag, 14. September, hält Enrico Celio als Vertreter des Bundesrats an der Feria von Locarno die Hauptrede. «In den ungewissen Stunden der Gegenwart» will Celio seine Tessiner beruhigen und ihnen Vertrauen einflössen. Das Schicksal des Vaterlands, erklärt er, hange weitgehend von «unserem verständnisvollen Weitblick » ab:

Lassen wir es uns gesagt sein, dass die von uns geäusserten Sympathien und Antipathien den Gang des europäischen Geschehens nicht um einen Deut beeinflussen werden, dass sie aber sehr wohl den Lauf unseres eigenen nationalen Daseins beeinflussen mögen. Denken wir daran, dass alle unsere Nachbarstaaten aus freien Stücken unser Territorium, unsere Unabhängigkeit und unsere Neutralität geachtet haben, wogegen das Schicksal anderer europäischer Staaten sehr verschieden war. Wir wollen nicht vergessen, dass auch in diesem härtesten aller Kriege die Schweiz imstande war, mit den benachbarten Nationen jene Handelsvereinbarungen zu treffen, welche für unsere Volkswirtschaft die notwendige Voraussetzung darstellen.

Celio erwähnt das Abkommen mit Italien, das die «Freundschaft in Wort und Tat unseres südlichen Nachbarn gegenüber der Schweiz» unterstreiche. Celio sagt in anderen Worten, was Pilet vier Tage vorher am Comptoir gesagt hat:

Es ist nutzlos, sich als Optimist oder Pessimist zu gebärden und die Haltung eines Propheten einzunehmen. Seien wir einzig Realisten, d. h. bleiben wir Neutrale, die sich loyal, vertrauensvoll und freundschaftlich verhalten: loyal in der jederzeitigen Bereitschaft, unsere Integrität, wenn die Gefahr droht, gegen jedermann zu verteidigen, vertrauensvoll, indem wir die Absichten anderer Staaten nur nach ihren Taten gegenüber uns beurteilen, freundschaftlich, indem wir gegenüber dem Ausland eine wohlwollende Gesinnung pflegen.

Celios kluge Locarner Rede wird von den italienischen Zeitungen positiv kommentiert. In der deutschschweizerischen und welschen Presse findet sie kaum Widerhall. Dort stellt ein Thema alles andere in den Schatten. Oder wie Feldmann am Samstag, 14. September, im Tagebuch schreibt: «Die Angelegenheit Pilet – Nationale Bewegung der Schweiz beherrscht die innenpolitische Diskussion.»

Am Wochenende, 14./15. September, kann Pilet darüber nachdenken, was er angerichtet hat. Selbst die ihm wohlgesinnten welschen Bundeshauskorrespondenten Perrin, Grellet, Savary und Béguin verstehen nicht, dass er den Frontisten die Abfassung des Communiqués überlassen hat. Es stellt sich heraus, dass Heinrich Wechlin dieses «mitgeteilt» redigiert hat, nicht einer der drei Teilnehmer an der Unterredung. Wechlin, ehemaliger Privatsekretär von Bundesrat Musy und dessen Einflüsterer, war bis 1936 Chefredaktor des Berner Tagblatts. Nachher wirkte er als Redaktor verschiedener frontistischer Blätter und zuletzt der verbotenen deutschfreundlichen Neuen Basler Zeitung, die Max Leo Keller und er wieder auferstehen lassen möchten.

Viel Post flattert am Samstag auf Pilets Pult am Scheuerrain. Natürlich fehlen auch die anonymen Briefe nicht:

Sie sind eine charakterlose Lumpenbande. Kommunisten würde man an die Wand stellen wegen Landesverrat, aber Sie gehören an den Galgen, Sie Halunke.

Auf einer Ansichtskarte zum Bundesfeiertag 1940 mit einem Wehrmännersujet stehen bloss die Worte: «Pfui Teufel! Sie Landesverräter!» Aus Riehen kommt ein Brief in einwandfreiem Französisch:

Monsieur le Président, Si vous voulez que le peuple perde toute sa confiance en son gouvernement, vous n’avez qu’à agir comme vous venez de le faire.

Eine Schülerin aus Winterthur fragt den Herrn Bundespräsidenten:

Würden Sie auch mit unseren Soldaten kämpfen, wenn es Krieg gäbe? Ich glaube nicht. Sie würden sich verkriechen, weil Sie wüssten, was Sie auf dem Gewissen hätten.

Die junge Briefschreiberin erinnert den Bundespräsidenten an den «guten General, der alle Kraft zusammenrafft, nur um seinem Volk zu dienen»:

Mein Vater ist auch Soldat, er nimmt nicht am liebsten Abschied. Er tut es doch willig, weil er der Heimat dienen will. Hochachtungsvoll zeichnet Rosa Frey, 2. Sek.

Unter den von Pilet aufbewahrten Briefen findet sich einer aus St. Gallen:

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

Sie haben die von der Bundesanwaltschaft verschiedentlich verfolgten Landesverräter Hoffmann und Dr. Max Leo Keller in offizieller Audienz empfangen und diesen Waffenbrüdern sogar erlaubt, von ihrer Audienz öffentlich Kenntnis zu geben. Sie wissen also nicht, dass das blosse Anhören solcher dem Ausland in jeder Hinsicht verpflichteten Geister bei unseren Soldaten in der Ostschweiz Erbitterung und Misstrauen ausgelöst hat.

Es hätte mancher von uns ein ernstes Anliegen und hätte einem Bundesrat ernste Dinge zu sagen, besonders einem Bundesrat, der deutsche, internierte Kampfflieger gegen alles Völkerrecht dem deutschen Reiche ausliefert.

Wissen Sie, hochgeehrter Herr Bundesrat, welches Urteil ich über Ihre hohe Persönlichkeit gehört habe? «Da hat man es, er ist ein Seyss-Inquart [Am Tag des Anschlusses Österreichs kurzfristig Bundeskanzler und nachher Hitlers Reichstatthalter in Wien] – und macht sich daran, unser Volk auszuliefern, dann allerdings wäre zu pfeifen auf unsere Armee. Herr Bundesrat, wenn Sie noch viel beitragen wollen zu der bereits äusserst gereizten Stimmung unserer Truppen, fahren Sie fort, dergleichen Schnitzer zu begehen. Es ist bald Zeit, dass es im Bundesrat selber Blutauffrischung gibt. Die Tragweite einer solchen Audienz dürfte für Sie genau so angenehme Folgen haben wie der unglückliche – wenn auch gut gemeinte Schritt von Bundesrat Hoffmann – während des Weltkrieges. Wer Pech angreift, besudelt sich, merken Sie sich das, hochgeehrter Herr Bundesrat. Und jetzt, nachdem Sie dies getan haben, erkundigen Sie sich genau, unter welchen geheimen Terror diese Herren Hoffmann, Esap-Partei [die in die Nationale Bewegung aufgegangene Eidgenössische Soziale Arbeiter Partei] und Cie. ehrliche und konsequente Schweizer halten. Es ist das Wenigste, wenn sie unsereins durch anonyme Briefe bedrohen, uns den Garaus zu machen.

Hat ein Schweizer, der von dieser Bande geheim verfolgt wird, noch Schutz in unserem Lande, wenn Sie ihr eine Audienz gewähren, dagegen alle Klage-Akte in den Schubladen der Bundesanwaltschaft ersaufen – und nie gelesen werden. Ja, oder nein? Oder bereiten Sie den Anschluss vor? Dann lieber offen, damit wir wissen, auf wen wir die Karabiner zu richten haben.

Mit der schuldigen Hochachtung begrüsst Sie

Kobelt

Die Unterschrift lässt erraten, wer dem Bundespräsidenten derart massiv an den Karren fährt. Dr. sc. tech. Karl Kobelt ist St. Galler Regierungsrat, Nationalrat, Oberst und Stabschef von Labharts 4. Armeekommando. Pilet kennt ihn aus den frühen Dreissigerjahren, als Kobelt in dem seinem Departement unterstellten Amt für Wasserwirtschaft die Sektion für Seeregulierung leitete.

Drei Monate nach Abfassung dieses scharfen Briefs wird Karl Kobelt von der Bundesversammlung zum Nachfolger Rudolf Mingers gewählt werden. Pilet und Kobelt werden Kollegen im Bundesrat.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne, 12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 05.05.2024

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