57. «Kronrat» Aus «Staatsmann im Sturm»

Der mit Vollmachten ausgestattete Bundesrat regiert immer autoritärer. Unter Berufung auf den tatsächlichen Staatsnotstand verkündet er pausenlos neue Massnahmen, die oft einschneidend in den Alltag der Bevölkerung eingreifen. Die seit der Krise der Dreissigerjahre ohnehin eingeschränkte freie Marktwirtschaft weicht noch mehr einer staatlich gelenkten Planwirtschaft. Die kantonale, individuelle und politische Freiheit, drei Grundelemente der Bundesverfassung, werden fortlaufend ausgehebelt.

Die eidgenössischen Räte, die noch im Frühjahr rege debattierten, scheinen eingeschlafen. Die beiden Vollmachtenkommissionen, eine Art Rumpfparlament, überprüfen halbjährlich die bundesrätlichen Massnahmen auf ihre Legalität und ihre Zweckmässigkeit. Dem National- und dem Ständerat bleiben einzig das Recht, diese Massnahmen nachträglich zu billigen oder abzulehnen. Das Parlament ist zu einem zahmen Akklamationsinstrument geworden – beinahe wie in diktatorisch oder autoritär regierten Ländern.

Pilet hat kein Vertrauen in die Vollmachtenkommission. Ihr Präsident Emil Nietlispach ist eine schwache Figur und Oprecht ist in Pilets Augen ein Opportunist und Intrigant. Pilet schätzt es nicht, dass Henry Vallotton ihn in den Kommissionssitzungen genau beobachtet. Alle Bundesräte misstrauen dem Irrlicht Duttweiler. Der abtrünnige Jungbauernführer Hans Müller ist ein Ärgernis für Minger. «Dr. Müller-Grosshöchstetten», dem viele verarmte Kleinbauern im Berner Oberland nachlaufen, wollte früher mit der Linken zusammenspannen und liebäugelt jetzt mit den «Volksgemeinschafts»-Ideen der Nazis. 

Da die Vollmachtenkommission wenig taugt, suchen initiative Parlamentarier wie Feldmann und Gut nach einem neuen Instrument, das den Bundesrat beraten und den Einfluss der Parteien absichern kann. Nach dem Muster der interparteilichen Zusammenarbeit im Kanton Bern soll ein «Führungsapparat» oder eine «Sammelstelle » – Feldmanns Ausdrücke – geschaffen werden. Der Bundesrat macht unter Vorbehalt mit.

In der Presse melden sich kritische Stimmen. Der Doyen der Bundeshauspresse, Pierre Grellet, redet von einem «Kronrat» oder «politischen Generalstab» und fragt sich:

Sollte es sich hier um einen kleinen Staatsstreich im Nebel handeln? Seit 1848 haben wir mit einer Regierung gelebt, die verwaltete, und zwei Kammern, die legiferierten und das Bindeglied zwischen dem Bundesrat und dem Volk bildeten. Wir schreiten auf ein Regime zu, wo die gewählten Kammern provisorisch durch einen Kabinettsrat ersetzt werden, der von der Regierung selber ausgewählt wird.

Die Schwäche des geplanten Bindeglieds sieht Grellet in seiner «Stummheit». Der «Reichshofrat» würde wahrscheinlich «hinter geschlossener Tür um einen grünen Teppich herum» tagen. Bei allen Fehlern, die man den Parlamentariern ankreiden könne, wäre es falsch, von «Exzessen der Geschwätzigkeit» ins Gegenteil zu verfallen, das Geheimnis:

Es wäre besser, wenn wir nicht die Wahrheit von Cavours Wort am eigenen Leib erfahren müssen: la pire des Chambres vaut mieux que la meilleure des antichambres (Die schlechteste der Kammern ist mehr wert als das beste der Vorzimmer).

Am Freitag 2. August, empfangen Pilet, Etter und Minger eine vom Bundesrat ausgesuchte Delegation von fünf ihm genehmen Sozialdemokraten. Die Genossen Robert Grimm, Ernst Nobs, Robert Bratschi, Konrad Ilg und Fritz Marbach kommen um 16 Uhr heimlich ins Bundeshaus, um mit dem Bundesrat die Frage der interparteilichen Zusammenarbeit zu besprechen. Pilet hatte als Chef des Post- und Eisenbahndepartements mit Grimm, Bratschi und Marbach zu tun. Er hält die drei für verlässliche Gesprächspartner. Ilg, Zentralpräsident des SMUV, ist als Schöpfer des bahnbrechenden Friedensabkommens von 1937 beim Bundesrat gut angeschrieben. Nobs arbeitet als Volkswirtschaftsdirektor des Kantons Zürich einvernehmlich mit seinen bürgerlichen Kollegen zusammen.

Die Sitzung bleibt geheim und ohne Protokoll. Vor allem soll der mit Grimm verfeindete Parteipräsident Hans Oprecht nichts von dem Treffen erfahren. Zwei Wochen später wird Etter Feldmann verraten, man habe den Sozialdemokraten um Grimm «unter gewissen personellen Voraussetzungen die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mitgeteilt». Im Tagebuch fasst Feldmann Etters Bericht über das Treffen so zusammen:

Grimm habe erklärt, man müsse die Sache nun bei den Sozialdemokraten selbst in Ordnung bringen, und deshalb müsse diese Aussprache vertraulich behandelt werden, sonst gehe die Geschichte schief. (Die Opposition richtet sich vor allem gegen Oprecht und Consorten.) Aus diesem Grunde sei man in der sozialdemokratischen Parteileitung möglicherweise noch gar nicht vollständig über den Gang der Dinge orientiert. Im übrigen sei man im Bundesrat der Meinung, dass die Einladung zur Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten von den Parteien und nicht vom Bundesrate aus kommen soll. Die gesamte Situation ist demnach reichlich kompliziert.

Grimms Ahnung, dass die Geschichte schiefgehen könne, ist begründet.

Am nächsten Tag, Samstag, 3. August, eröffnet im Parteisekretariat in Zürich der Vorsitzende Oprecht eine Sitzung der Politischen Kommission der SPS, der die einflussreichsten Sozialistenführer aus der ganzen Schweiz angehören. Auf der Präsenzliste fehlen die Namen der «Dissidenten», die tags zuvor im Bundeshaus mit Pilet, Minger und Etter geheim diskutiert haben. Grimm hat sich entschuldigt, Nobs scheint unentschuldigt zu fehlen. Oprecht berichtet, dass er Pilet schriftlich um die «Einberufung des Fünferausschusses» ersucht habe:

Pilet teilte mir mit, dass der Bundesrat es ablehne, inskünftig mit den Parteidelegationen zu verhandeln.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Weiss Oprecht, dass Pilet sich tags zuvor in Bern geheim mit fünf seiner Parteigenossen besprochen hat? An der Zürcher Sitzung nimmt auch Oprechts Vorgänger als Parteipräsident, Ernst Reinhard, teil, der zur Geheimsitzung vom Bundesrat bewusst nicht eingeladen wurde. Es ist denkbar, dass der Berner Reinhard vom Geheimtreffen seiner Genossen mit dem Bundesrat Wind gekriegt hat, Prominente Politiker wie Grimm oder Ilg gehen nicht unbemerkt ins Bundeshaus. Wenn Reinhard vom «Verrat» Grimms weiss, wird er dies Oprecht zugetragen haben.

Oprecht meldet sonst noch Verdächtiges aus dem Bundeshaus:

Eine düstere Rolle spielt L.F. Meyer, der tatsächlich einmal die Absicht hatte, nach Berlin zu gehen. Pilet ist eine ganz bedenkliche Figur. Er spielt mit dem Gedanken, die Parteien aufzulösen. Der Bundesrat hat an einer letzten Montag stattgefundenen Konferenz den Auftrag erhalten, mit der SPS zu verhandeln. Pilet hat aber an die letzte Konferenz mit der Presse die Sozialdemokraten wiederum nicht eingeladen.

Reinhard ergeht sich in ähnlich wilden Spekulationen:

Bundesrat Pilet spielt tatsächlich mit dem Gedanken, die SPS zu verbieten. Es handelt sich hier um eine Art Dollfus-Politik. Minger ist im Bundesrat der immer noch entschlossenste. Die Rede Pilets vom 25. Juni ist dem Bundesrat nicht vorgelegt worden. Der Rütliappell war so etwas wie ein Gegenschlag gegen die Politik Pilets.

Nach Reinhard meldet der eben aus Bern zurückgekehrte, verspätet eingetroffene Nobs, der einen optimistischen Ton anschlägt:

Der Versuch, zwischen den Regierungsparteien eine Vereinbarung zustande zu bringen, hat im Kanton Zürich begeisterte Zustimmung gefunden. Man wird wieder zusammenkommen. Die Stimmung ist sehr gut. Wir sollten eine Besprechung mit dem Bundesrat festhalten. Eine Delegation der SPS wird sicher empfangen.

Hat Nobs wegen seiner Teilnahme an der Geheimsitzung des Vortags ein schlechtes Gewissen? Sein Votum schaut nach einem Ablenkungsmanöver aus. Nobs’ Vorschlag, den Bundesrat um eine Besprechung zu ersuchen, wird von Oprecht aufgenommen. In einem Expressbrief vom Montag, 5. August, teilt er dem Bundespräsidenten mit, die SPS möchte mit dem Bundesrat «Probleme der innen- und aussenpolitischen Lage der Schweiz» erörtern, von deren Lösung «das Schicksal des Landes wesentlich bestimmt» werde:

Vor allem herrscht in den Reihen der Arbeiterschaft grösste Beunruhigung darüber, dass für die nächsten Tage und Wochen eine neue und weitgehende Demobilisation der Armee vorgesehen sein soll … Mit Recht stellt man uns die Frage: Was soll werden, wenn unsere Armee in der heutigen, höchst unsicheren und bedrohlichen Situation Europas zum grössten Teil demobilisiert wird – und wenn dann eine uns eventuell notwendig erscheinende neue Mobilmachung von einem mächtigen Nachbarstaate als «Provokation» ausgelegt würde?

Wir bitten Sie namens der genannten Organe der SPS dringend und höflich, dem von Parteiausschuss s. Zt. eingesetzten Fünfer-Komitee eine Aussprache über diese Frage in den nächsten Tagen gewähren zu wollen.

Oprecht droht, dass von der Partei beschlossen worden sei, eventuell vom «Recht der Einberufung einer ausserordentlichen Session der eidgenössischen Räte Gebrauch zu machen». Er bittet Pilet, «auch den Herrn General Guisan einladen zu wollen». Er erlaube sich, dem General eine Kopie dieses Schreibens zu übermitteln. Pilet wird ersucht, «die Konferenz möglichst rasch anzusetzen».

Dies tut zwar nicht Pilet, da er ja in die Ferien verreist ist, sondern Vizepräsident Minger. Er trifft Oprecht und seine Delegation bereits am 7. August. Tags darauf rapportiert er an der Bundesratssitzung:

Die Geschäftsleitung der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz macht in einer Eingabe vom 5. August an den Herrn Bundespräsidenten auf die Beunruhigung in den Reihen der Arbeitslosen über die in nächster Zeit vorgesehene weitgehende Demobilisation der Armee aufmerksam. Dabei drückt sie den Wunsch aus, es möchte dem vom Parteiausschuss seinerzeit eingesetzten Fünferkomitee eine Aussprache über diese Fragen und andere Probleme innenpolitischer, wirtschaftlicher und sozialer Natur gewährt werden. In Hinblick auf den vorwiegend militärischen Charakter der erwähnten Fragen sollte auch der Oberbefehlshaber der Armee an der Konferenz teilnehmen. Die in der Eingabe aufgeworfenen Fragen wurden vom Vorsteher des Militärdepartements mit der Geschäftsleitung der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz am 8. August konferenziell erledigt.

Als stellvertretender Bundespräsident hat Minger die Aussprache mit der SPS-Geschäftsführung speditiv angesetzt und geführt – ohne den von Oprecht gewünschten General. Minger spielt auf zwei Klavieren. Die Woche zuvor hat er persönlich Grimm zur Geheimsitzung ins Bundeshaus eingeladen und dort mit ihm und seinen Freunden geredet. Vier Tage später besänftigt er Grimms Gegenspieler Oprecht und dessen Freunde. Nicht geklärt ist allerdings immer noch die entscheidende Frage, ob die Sozialdemokraten im «Kronrat» vertreten sein werden und, wenn ja, durch wen.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne, 12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 18.02.2024

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