49. Hitler spricht Aus «Staatsmann im Sturm»

Am Abend des Freitags, 19. Juli, hält Hitler an einer Reichstagssitzung in der Kroll-Oper endlich seine ungeduldig erwartete Rede. Vor immer wieder in Applaus ausbrechenden Abgeordneten und Generälen, von denen er elf zu Feldmarschällen befördert, erzählt er den erfolgreichen Verlauf des bisherigen Kriegs nach. Allerdings sei es nicht seine Absicht gewesen, «Kriege zu führen, sondern einen neuen Sozialstaat von höchster Kultur aufzubauen». Jedes Jahr dieses Krieges, dessen Ursache «lächerliche Nullen» seien, die man «höchstens als politische Fabrikware der Natur bezeichnen» könne, beraube ihn dieser Arbeit:

Mister Churchill hat es soeben wieder erklärt, dass er den Krieg will. Er hat nun vor etwa sechs Wochen mit dem Krieg in dem Raum begonnen, in dem er anscheinend glaubt, wohl besonders stark zu sein, nämlich dem Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung, allerdings unter dem vorgeschobenen Motto gegen sogenannte kriegswichtige Einrichtungen. Diese Einrichtungen sind seit Freiburg offene Städte, Marktflecken und Bauerndörfer, Wohnhäuser, Lazarette, Schulen, Kindergärten und was sonst noch alles getroffen wird.

Er habe, sagt Hitler weiter, bisher auf diese Angriffe «kaum antworten lassen». Dies könne sich ändern und dann würde «namenloses Leid über die Menschen hereinbrechen»:

Natürlich nicht über Herrn Churchill, denn er wird ja dann sicherlich in Kanada sitzen, dort, wohin man ja das Vermögen und die Kinder der vornehmsten Kriegsinteressenten schon gebracht hat. Aber es wird für Millionen andere Menschen ein grosses Leid entstehen. Und Herr Churchill sollte mir dieses Mal vielleicht ausnahmsweise glauben, wenn ich als Prophet jetzt folgendes ausspreche: Es wird dadurch ein grosses Weltreich zerstört werden, ein Weltreich, das zu vernichten oder auch nur zu schädigen niemals meine Absicht war. Allein ich bin mir darüber im klaren, dass die Fortführung dieses Kampfes nur mit der vollständigen Zertrümmerung des einen der beiden Kämpfenden enden wird. Mister Churchill mag glauben, dass dies Deutschland ist. Ich weiss, es wird England sein.

Nachdem Hitler so massiv gedroht und die britische Führung so grob beschimpft hat, richtet er, «verpflichtet vor meinem Gewissen, noch einen Appell an die Vernunft auch in England». Er sehe keinen Grund zur Fortführung dieses Kampfes. Zwar glühten Millionen deutscher Männer und Jünglinge beim Gedanken, sich «endlich mit dem Feind auseinandersetzen zu können, der uns ohne jeden Grund zum zweiten Male den Krieg erklärte». Aber er wisse auch, dass «zu Hause viele Frauen und Männer sind, die trotz höchster Bereitwilligkeit, auch das Letzte zu opfern, doch mit ihrem Herzen an diesem Leben hängen».

William I. Shirer ist seit sechs Jahren amerikanischer Radiokorrespondent in Berlin. Zuvor hat Hitler ihn nie beeindruckt. Jetzt fasziniert ihn der glanzvolle Auftritt des Führers:

Der Hitler, den wir heute Nacht im Reichstag sahen, war der Eroberer – und sich dessen bewusst – und doch auch ein so wunderbarer Schauspieler, ein derart prächtiger Handhaber des deutschen Geistes, dass er das volle Vertrauen des Eroberers hervorragend mit der Demut mischte, die bei den Massen immer so gut ankommt, wenn sie wissen, dass ein Mann ganz oben ist.

Zum Autor

Schriftsteller Hanspeter BornHanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

In Rumänien empört sich der Schweizer Gesandte René de Weck, dass nun «überall – sogar in Frankreich – Stimmen sich erheben, um den ‹Führer› zu feiern». Wenn das Los der Waffen Hitler nicht hold gewesen wäre, würde man ihn heute «für den grössten Verbrecher aller Zeiten» halten:

Gestern Abend im Reichstag hat er gesprochen. Noch nie zuvor ist die angeborene Schwäche seines Hirns, die Armut seiner Dialektik mit derartiger Klarheit erschienen. Geistig, daran ist nicht zu zweifeln, ist er ein monströser Dummkopf… Wenn die Tonbüchse sein Gekläff aufzeichnet, habe ich Lust darauf zu schiessen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Ah! Es ist nicht die Intelligenz, die die Welt regiert!

Hitlers unbestimmtes «letztes Friedensangebot», mehr Drohung als Versprechen, stösst in London auf Verachtung. Keine britische Regierung kann einem Kompromiss zustimmen, der die deutschen Eroberungen nicht rückgängig macht. Churchill würdigt den Redeschwall des Reichskanzlers keiner Antwort. Am Montag wird der als Taube geltende Aussenminister Lord Halifax «Herrn Hitler» eine Absage erteilen: «Wir werden nicht aufhören zu kämpfen, bis die Freiheit für uns und andere sicher ist.»

Wenn Pilet Hitlers über zweistündige Ansprache nicht am Radio gehört hat, kann er am nächsten Tag, als er im Zug nach Lausanne fährt, lange Auszüge daraus in der Gazette lesen. Er weiss jetzt, dass mit einem langen Krieg zu rechnen ist, der die Schweiz vor grosse Herausforderungen stellen wird.

An jenem Samstag sitzt der Bundespräsident im Zug, weil er das Wochenende wieder einmal in seinem Bauernhof Les Chanays verbringen will. Dort muss er sehen, dass die Dinge nicht gut bestellt sind:

Haus in Unordnung. Hof schmutzig. Holz im Regen. Schweine im Stall. Weizen mittelmässig. Gerste zu dicht und liegend. Frédéric gesteht mir, dass er Saatgut nachgekauft hat, da unser Hafer Schimmelgeruch hat. Park im Obstgarten schlecht gemacht. Kartoffeln nicht behandelt. Ich verschweige es Frédéric nicht, dass es so nicht weitergehen kann. Die Defizite sind zu schwer und zu dauerhaft. Werde ich verkaufen? Werde ich verpachten? Werde ich selber überhaupt noch nach Les Chanays kommen? Ich weiss es noch nicht. Aber eine Änderung wird es geben.

Immerhin kann Pilet dem Metzger Baud ein 79 kg wiegendes Milchkalb zu Fr.1.70 das Kilo und die kranke Kuh «Chamois» zum Preis 570 Franken verkaufen.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne, 12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 24.12.2023

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