45. Solothurner folgt auf Solothurner Aus «Staatsmann im Sturm»

Die Nachfolge von Bundesrat Obrecht gab schon in der Junisession zu reden, obschon der Solothurner seinen Rücktritt noch gar nicht eingereicht hatte. Grimm sondierte bei bürgerlichen Kollegen, ob nicht auf dem Vollmachtenwege die Zahl der Bundesräte von 7 auf 9 erhöht werden und gleichzeitig die Kantonsklausel aufgegeben werden könnte. Dies würde es ihm selber und dem Zürcher Stadtpräsidenten Klöti ermöglichen, Bundesräte zu werden, obschon mit Minger und Wetter schon ein Berner und ein Zürcher in der obersten Landesbehörde sitzen. Der «vom Zaun gerissene Türk Grimm-Klöti», wie Feldmann das Unterfangen nannte, scheiterte schon in der sozialdemokratischen Fraktion. In Le Travail mokierte sich Nicole über seine ehemaligen Genossen:

Die persönlichen Ambitionen von Grimm und Huber sind einmal mehr zusammengestossen und der Anwalt aus St. Gallen hat den grossen Berner Chef, dessen Ultimatum an die bürgerlichen Parteien über eine sozialistische Mitwirkung am Bundesrat die Wirkung einer Spielzeugpistole hatte, k.o. liegen lassen.

Die sozialdemokratische Bundesratsbeteiligung war damit – auch zur Freude Pilets – vom Tisch. 

In der Sitzung vom 9. Juli einigen sich die verbleibenden sechs Bundesräte auf den Basler Industriellen und liberalen Grossrat Carl Koechlin als ihren Wunschkandidaten. Koechlin hat das Chemieunternehmens J.R.Geigy zu einer Firma von Weltruf gemacht. Als Präsident der Basler Handelskammer kennt er viele massgebliche Wirtschaftsführer in Deutschland, Frankreich, England und den USA. In der Kriegswirtschaftsorganisation des Bunds leitetet er die Sektion Chemie und Pharmazeutika. Der Bundesrat schätzt ihn als Mann von hoher Intelligenz, Verhandlungsgeschick, sozialem Verantwortungsgefühl, Charme, Witz und Integrität.

Bundesratswahlen sind Sache des Parlaments. Amtierende Bundesräte können die Wahl eines Neuen hinter den Kulissen beeinflussen, wie dies Pilet 1934 bei der Wahl Etters getan hat. Aber dass der Bundesrat in corpore einen Kandidaten auf den Schild hebt, ist einmalig. Für die Parteien, die sich im Vollmachtenregime entmündigt fühlen, geht der Bundesrat nun wirklich zu weit. Zwar unterstützen die freisinnigen Hofblätter Bund und NZZ vorerst die liberale Kandidatur Koechlin, aber ohne grosse Begeisterung.

Mittlerweile «regnet» es Kandidaten wie selten zuvor. Aussenseiter melden ihren Anspruch an, allen voran der von seiner Partei portierte Duttweiler, der sich als idealen Volkswirtschaftsminister sieht. Jahrelang hat er mit Obrecht gestritten, was diesen veranlasst hat, dem Migros-Gründer in seinem Rücktrittsschreiben einen bitteren Seitenhieb auszuteilen. Der bereits vom Tod gezeichnete Obrecht schreibt, die bei uns vorherrschende Ansicht verlange,

dass jeder politische Eigenbrötler mit Wohlwollen und Ausdauer angehört und gewürdigt werde, auch wenn seine sogenannten neuen und guten Ideen die Unbrauchbarkeit oder eigene Befangenheit sofort erkennen lassen.

Ausserhalb seiner Gruppe von Bewunderern stösst der Chef der Unabhängigen auf einhellige Ablehnung. Die Sozialisten greifen Duttweiler scharf an und auch Feldmann meint:

Derartige Hanswürste machen unsere Demokratie zum Gespött diesseits und jenseits der Grenze.

Die welsche Schweiz möchte endlich den ihr 1934 verloren gegangenen zweiten Sitz zurückhaben. Ihr aussichtsreichster Mann, der Genfer Adrien Lachenal – ein guter Freund Pilets – lehnt ab. Angesichts der Gefahr, die Nicole darstellt, sei er im Genfer Regierungsrat unentbehrlich. Für böse Mäuler liegt der wahre Grund darin, dass Lachenal seine Maitresse nicht mit nach Bern nehmen könne. Einen anderen wirklich überzeugenden Kandidaten vermögen die welschen Radikalen nicht vorzuweisen.

Es wird also wohl ein Deutschschweizer sein. Einer nach dem andern der von den Zeitungen genannten Namen fällt weg, darunter Koechlin, der Wunschkandidat des Bundesrats. Die Parlamentarier wollen keinen nicht-freisinnigen Aussenseiter, der nie den eidgenössischen Räten angehört hat. Das Interesse der Bundesratsparteien fällt auf einen Nationalrat, den sie kennen und schätzen, den Solothurner Walther Stampfli. Der 55-jährige Unternehmer vertritt die industriestarke Nordwestschweiz, die traditionsgemäss einen Bundesratssitz beansprucht.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Stampfli wuchs als Sohn eines politisch aktiven Lehrers im Bauerndorf Büren im Schwarzbubenland auf. Nach abgeschlossenem Rechtsstudium wurde er Redaktor des Oltner Tagblatts, trat später als Direktionssekretär in die Von Roll’schen Eisenwerke ein, die er seit 1929 leitet. Im Nationalrat kennt man ihn als schlagfertigen Redner. Die NZZ sieht im Solothurner den Mann «der alle Qualitäten besitzt, um den Anforderungen des hohen Amtes in hervorragender Weise zu genügen»:

Er ist eine Persönlichkeit besonderen Ausmasses. Sehr gescheit und allseitig gebildet, in seinem ganzen Wesen ernst, stark und initiativ, besitzt er namentlich auch grosses volkswirtschaftliches Verständnis.

Stampfli jedoch will nicht. Schon 1935, als es um die Nachfolge von Schulthess ging, hat er die ihm vorgeschlagene Kandidatur abgelehnt. Er möchte seine Stelle als Chef eines wichtigen Industriebetriebs nicht mit einem weniger gut bezahlten, in Kriegszeiten besonders undankbaren und Anfechtungen aller Art ausgesetzten Posten als Volkswirtschaftsminister vertauschen. Auch will der gesellige Jassfreund nicht auf die «Stämme» verzichten, zu denen er sich mit seinen Solothurner Freunden zweimal wöchentlich trifft. Er will nicht ins unvertraute Bern zügeln. Seine Frau schon gar nicht.

Er gibt der Partei einen Korb. Am 13. Juli spricht eine dreiköpfige freisinnige Delegation bei ihm vor und versucht ihn umzustimmen. Sein Freund, der Luzerner Stadtpräsident Max Wey, hält Stampfli vor, dass in einer Zeit, wo jeder Soldat Opfer bringe und an der Grenze Aktivdienst leiste, er sich dem Ruf des Vaterlands nicht entziehen dürfe. Unwirsch meint der Solothurner: «Macht, was ihr wollt. Sucht einen andern, ich sag nicht ja.» Wey: «Aber auch nicht nein.» Darauf verlässt Stampfli, die Türe zuschmetternd, das Lokal. Er wird sich also fügen. Die bürgerliche Presse atmet auf. Die Wahl ist eine Formalität. Stampfli wird im 1. Wahlgang mit guten 142 Stimmen gewählt, auf den sozialdemokratischen Ständerat Wenk entfallen 51 Stimmen, auf Koechlin 15.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne,12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 26.11.2023

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