44. Réduit Aus «Staatsmann im Sturm»

Demobilmachung: Am 2. Juli werden die Truppen des Zürcher Stadtkommandos auf Pikett entlassen. Mit einem Défilé verabschieden sie sich von ihrem Kommandanten, der versammelten Zürcher Kantons- und Stadtregierung und den Leuten, denen sie während neun Monaten Schutz boten. Bericht eines Augenzeugen:

Bei klingendem Spiel verliess das [Freiburger] Bataillon 133 Wollishofen. Zum Bahnhof begleitet von einer ansehnlichen Menschenmenge, vom hintersten Fensterlein winkte noch ein weisses Tüchlein, und die reichliche Blumenspende bezeugte das beste Verhältnis der Zivilbevölkerung zur Truppe. Sympathien, die in jedem Soldatenherz unvergesslich weiterexistieren.

Dasselbe idyllische Bild in Wipkingen, wo die in der Waidhalde stationierten Truppen zum Abschied mit Kuchen, Torten und allerhand Süssigkeiten beschenkt werden. In Basel sprechen hohe Magistraten und Offiziere Mahnworte zu den mit Musik und Gesang zurück ins Zivilleben ziehenden Soldaten.

Die festliche, jedoch ernste Stimmung macht bald Zweifeln Platz. In Zürich und Basel ist auf Befehl der Armeeleitung die Arbeit an den Befestigungsbauten eingestellt worden. Die Stacheldrahtverhaue werden entfernt. Manche fragen sich, ob bei einem Angriff der Deutschen jetzt kein Widerstand mehr geleistet werde. Sollen im Kriegsfall Zürich und Basel, wie in den Wochen zuvor Brüssel und Paris, zu «offenen Städten» erklärt, die Bevölkerung kampflos der Willkür der Besetzer ausgeliefert werden?

In der Truppe gehen die Meinungen auseinander über das, was Regierung und Armeeleitung tun sollen. Anspannung, Eifer, Entschlossenheit weichen Gleichgültigkeit, Verdrossenheit, Wankelmut. Viele Zivilisten, darunter nicht die Dümmsten, beginnen sich mit der neuen Lage abzufinden. Leutnant René-Henri Wüst, Journalist bei der Suisse, wird sich (1966) an die Worte eines Genfer Industriellen erinnern, mit dem er in jenen frühen Julitagen geredet hat:

«Jetzt, wo der Krieg vorbei ist, besteht das grosse Problem darin, unsere Fabriken in Betrieb zu halten und dem Personal, das zurückkehrt, Arbeit zu verschaffen. Doch wer ausser den Deutschen kann uns dies ermöglichen? Wir sind in jeder Beziehung von ihnen abhängig … Also müssen wir aufhören, sie dummerweise gegen uns aufzubringen! Militärisch ist es vorbei. Was können wir gegen Hitler, seine Panzer und seine Stukas tun? Vor allem müssen wir jenen Zeitungen das Maul schliessen, die uns weiterhin gegen Deutschland aufreizen. Man muss Realist sein.»

Guisan ist in jenen frühen Julitagen unschlüssig, wie es weitergehen soll. Die Ansammlung starker deutscher Truppenverbände in Nähe der Schweizer Grenze beunruhigen ihn. Ein Rapport des Nachrichtenchefs Masson ist alarmierend. Am 4. Juli schreibt Guisan dem Bundesrat, dass «das Dispositiv der deutschen Truppen sowohl auf deutschem wie auf besetztem französischem Gebiet» ihn zwinge, innert kürzester Frist Entscheide über das eigene Dispositiv zu treffen und über den Grad der Mobilmachung, der jetzt noch aufrechterhalten werden muss.

Guisan beschreibt die «allerneuste» Lage: Im Schwarzwald steht eine Gruppe von Divisionen, darunter eine Panzerdivision; im Elsass zwei Infanteriedivisionen; in der Zone Ajoie-Besançon-Faucille eine Gruppierung, bestehend aus 3 Panzerdivisionen, 2 motorisierten Divisionen, «deren Charakter klar offensiv ist». Guisan kommt zu seinem Anliegen:

Es scheint mir folglich natürlich und mehr noch, notwendig, heute von der deutschen Regierung auf diplomatischem Weg Erklärungen über die Verbände und den Grund für die Ansammlungen, die sich entlang unserer Grenzen befinden, zu verlangen.

Guisan schlägt vor, man könne eine solche diplomatische Demarche damit begründen, dass angesichts des Waffenstillstands «der Bundesrat zusammen mit dem General» Frist und Umfang der stufenweisen Demobilmachung prüfe, weil die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Truppenbestände für das Land eine schwere Belastung bedeute. In anderen Worten: Wenn ihr Deutsche uns eine «beruhigende Erklärung» für die versammelten Truppen geben könnt, dann werden wir schneller und stärker demobilisieren.

Pilets Beamte im Politischen Departement entwerfen eine Antwort, die dem General erklärt, wieso eine derartige diplomatische Anfrage keine gute Idee ist:

Wir teilen selbstverständlich Ihren Wunsch, prompt über die Bestimmung der deutschen Truppen orientiert zu sein, die in der unmittelbaren Umgebung geblieben und nach der Durchbrechung der Maginot-Linie in den französischen Jura gelangt sind, und wir haben bereits geprüft, wie es möglich wäre, die deutsche Regierung diesbezüglich auf eine Weise zu befragen, ohne dass wir uns einer Zurückweisung aussetzen oder dem Risiko, Nervosität zu verraten. Solche Demarchen sind heikel und es ist wichtig, jedes falsche Manöver zu vermeiden.

Besser wäre es, wenn der General Oberst Masson beauftragen würde «auf dem Boden der militärischen Kameradschaft» den deutschen Militärattaché Oberst von Ilsemann in ein Gespräch zu verwickeln.

Der Briefentwurf ist eine Absage an den General. Für Pilet ist sie offenbar nicht klar genug. Er hält die Anfrage Guisans für überflüssig und «kindisch» – wie er in einer privaten Notiz schreibt. Sie verdient, seiner Meinung nach, keine Antwort. Unter den Briefentwurf des Departements schreibt er:

Geweigert zu unterzeichnen. Selbst eine so zurückhaltende Antwort wäre ein gefährlicher Anfang gewesen.

Der Brief wird nicht abgeschickt. Pilet überlässt es Minger, den General im persönlichen Gespräch zu beruhigen.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Am Morgen des 5. Juli zeigt Barbey dem General die am Vorabend endlich eingetroffene Antwort Pilets auf Guisans Anfrage vom 25. Juni. An jenem Tag, an dem der Waffenstillstand in Kraft trat, bat Guisan den Bundesrat formell, die «Mission der Armee entweder zu betätigen oder sie allenfalls zu präzisieren». Er bezog sich dabei auf die ihm vom Bundesrat gegebenen Instruktionen vom 31. August 1939. Der General muss Barbey seinen Brief in einem Anflug von Verunsicherung diktiert haben. Guisan konnte nicht wissen, ob er nach Eintreten der Waffenruhe überhaupt weiterhin die ihm als Oberkommandierenden zugestandenen Befugnisse behalten werde.

Die knappe Antwort des Bundesrats lautet dahin, dass sich an den Instruktionen nichts geändert habe. Barbey ist froh, dass man dies jetzt «schwarz auf weiss» hat.

Der in Amt und Kompetenzen bestätigte General kann nun handeln. Auf Samstag, 6. Juli, ruft er die höchsten Armeeführer zu einer neuerlichen Konferenz nach Worb. Die Vorschläge für ein neues Verteidigungsdispositiv werden diskutiert. Drei Projekte – ausgearbeitet von den Generalstabsobersten Germann, Gonard und Strüby – stehen zur Diskussion. Guisan macht sich Notizen. Zum Votum von Korpskommandant Miescher kritzelt er:

Er hat von der Mentalität der Truppe gesprochen, die kein Vertrauen mehr hat und etwas Neues verlangt – es ist Sache der Korpskommandanten dort einzuschreiten, wo es nötig ist, und das Neue wird vom Nachrichtendienst und unseren Weisungen zur Verteidigung plus Anlagen geliefert – Sache der Korpskommandanten, die Truppe in Atem zu halten. Traurige Feststellung eines Korpskommandanten, der so weit geht zu sagen, dass bis zu den Divisionären hinauf das Vertrauen fehlt!

Der General empört sich über die opposition systématique du Triumvirat des jaloux. Die drei Neidischen oder Eifersüchtigen sind für ihn die Korpskommandanten, Jakob Labhart, den der General als Generalstabschef abgesetzt hat, Ulrich Wille, den er auf dem Abstellgleis des Armeeinspektors versauern lässt, und Rudolf Miescher, der ihm in taktischen Detailfragen zu widersprechen wagt. Die drei halten an ihrer Meinung fest, wonach die gesamte Armee mit Ausnahme des Grenzschutzes in ein Réduit in die Alpen zurückgenommen werden solle. Der Plan leuchtet Guisan nicht ein:

Die Konzeption der Verteidigung einzig in den Alpen ist ein Irrtum: Vorräte; was würde die Bevölkerung sagen; nicht genügend Gebirgstruppen; die Bevölkerung würde ebenfalls ins Réduit kommen wollen. Flugwaffe könnte nicht mehr einsatzbar sein. Bevölkerung hat schon gegen die Aufgabe eines Teils des vor der bewaffneten Linie liegenden Gebiets protestiert.

Prisi und Lardelli teilen die Skepsis des Generals gegenüber dem Réduit. Auch Generalstabschef Huber ist gegen einen radikalen Rückzug ins Alpenmassiv. Persönliche Animositäten und unterschiedliche Einstellungen zu Deutschland verschärfen den Gegensatz.

Wille will keinen Rappen für Befestigungsbauten ausgeben, ausser für diejenigen, deren Wert schon heute unter allen Umständen feststeht. Er findet, die Demobilmachung des Grossteils der Armee, die in den letzten zwei Wochen durchgeführt wurde, sei zu früh erfolgt. Es wäre besser gewesen, die Truppen zuerst in den Zentralraum zu führen, sie dort das Material deponieren zu lassen und dann erst nach Hause zu schicken. Das Wichtigste für Wille ist es, «einen klaren Entscheid über die künftige Kriegsführung zu fällen».

Prisi widersetzt sich leidenschaftlich dem Réduitkonzept:

Eine Kriegsführung, die nur zum Ziele hat, die Armee durch den Bezug eines Refugiums in den Alpen in Sicherheit zu bringen, ist unter heutigen Umständen direkt sinnlos … Es hat keinen Sinn, Gebirgsstöcke und Gletscher zu verteidigen, wenn das Mittelland mit seinem reichen volkswirtschaftlichen Ertrag samt dem Grossteil des Schweizervolkes dem Feinde preisgegeben wird.

Generalstabschef Huber, der das Wort «Réduit» bewusst vermeidet, weil er sich mit dem Konzept nicht anfreunden kann, geht mit Prisi einig: Felsen und Gletscher zu verteidigen ist sinnlos. Aber er sieht ein, dass die bisherige Armeestellung – jetzt ohne Aussicht auf fremde Hilfe – einem deutschen Angriff nicht standhalten kann. Er schlägt einen Kompromiss vor: Mit einer möglichst beschränkten Zahl von Truppen soll zwischen Sargans und St. Maurice eine rückwärtige Stellung aufgebaut werden, während die restlichen Truppen in ihren vertrauten bisherigen Stellungen bleiben. Für Wille, Miescher und Labhart bringt Hubers Vorschlag bloss «eine Zersplitterung der Kräfte». 

Guisan rekapituliert die unterschiedlichen Voten und schliesst den Kriegsrat: «Die heutige aufschlussreiche Aussprache wird dem Oberbefehlshaber gestatten, seinen Entschluss bald zu fassen.» Operationschef Gonard, Unterstabschef Strüby und Generalstabschef Huber müssen jetzt einen Kompromissplan für das neue Dispositiv ausarbeiten.

Guisan selber tut, was er am besten kann: Er spricht Truppe und Volk Mut zu. Am Sonntagmorgen, 7. Juli, präsidiert er, begleitet von Generalstabschef Huber und Flugwaffenkommandant Bandi, eine feierliche Fahnenübergabe an seine Fliegertruppe. Die Flieger haben den Befehl des Generals vom 20. Juni, der weitere Luftkämpfe über Schweizer Hoheitsgebiet verbot, nicht goutiert. Sie brauchen eine Moralspritze.

Auf dem Berner Flugplatz Belpmoos hört das zahlreiche Publikum zuerst Predigten in drei Sprachen, bevor der General elastischen Schrittes auf die Rednertribüne steigt und mit energischer Stimme das Lob der tapferen Schweizer Flieger anstimmt, die «im Krieg von 1940 eine wesentliche Rolle» gespielt haben. Vor allem in den «gegenwärtigen Zeiten, wo man sich manchmal fragt, wohin man geht», sei ihre Mission wichtig:

Um dies zu wissen genügt es, schweizerisch zu denken, als Schweizer zu handeln, Schweizer zu bleiben. Diese Pflicht wird uns allen von der Fahne mit dem unbefleckten weissen Kreuz auferlegt.

Der General gedenkt der Piloten, die ihr Leben für das Land hingegeben haben. Stolz überreicht er den Fliegertruppen ihre eigene spezielle Fahne, «die mit einem Tau an der Stange befestigt ist, die einen aufrechtstehenden Flügel als Spitze hat». Zu den Klängen der Nationalhymne (immer noch «Rufst du, mein Vaterland») empfängt eine nach der andern von sieben Abordnungen aus der Hand des Oberbefehlshabers ihr Banner. Ende der von Georges Perrin in der Revue beschriebenen Zeremonie:

Unter den Ovationen der Zuschauer verlässt der Armeechef das Feld. Bald beginnen die Motoren der sechs Jagdflugzeuge zu brummen. Die Maschinen stellen sich am äussersten Ende des Felds auf und jeweils zu dritt rollen sie an und entfliegen. Einen Augenblick später passieren sie in einem ohrenbetäubenden Lärm und in perfekter Ordnung ein letztes Mal über dem Belpmoos, die Wächter des helvetischen Himmels.

Weiter geht es für den General nach Sempach, wo er am späten Nachmittag an der traditionellen Schlachtfeier eine volkstümliche und von den Zuhörern begeistert aufgenommenen Ansprache hält. Er feiert den Heldentod Winkelrieds als leuchtendes Beispiel für die heutige Schweiz. Guisan ist wieder euse General, ganz so, wie das Land ihn liebt. 


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne,12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 19.11.2023

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