41. Seelisches Durcheinander Aus «Staatsmann im Sturm»

Am 2. Juli liefert Hptm. Theodor Gut dem Bundesrat den 6. Wochenbericht des «Büros der Psychologen» ab, mit einer von Prof. Karl Weber, dem Bundeshausredaktor der NZZ, geschriebenen Zusammenfassung:

Unsicherheit und Ratlosigkeit als zwangsläufige Folge der Beendigung der Feindseligkeiten im Westen des Kontinents stehen zur Zeit «im Kampf» gegen die Widerstands- und Durchhaltestimmung, die trotz allen Schwankungen und leichten Einbrüchen bis jetzt die Vorherrschaft inne hatte. Stärker als je steht die Bevölkerung unter dem Eindruck einer historischen Wegscheide.

Zur Aufnahme von Pilets Rede schreibt der 60-jährige Zeitungswissenschafter Weber:

Vielleicht haben militärische Kreise nach einer Überwindung anfänglicher Besorgnis wegen einer überstürzten und einer Kapitulation ähnlich wirkenden Demobilmachung eine positive Einstellung gefunden; hier macht sich auch die Gewöhnung an ein mot d’ordre bemerkbar. Wo Soldatenkreise durch Existenzsorgen belastet sind, hat das Arbeitsversprechen sehr gut gewirkt. Unter den eigentlichen Politikern ist die Aufsplitterung des Urteils am grössten. Stärker als je seit Monaten besinnt man sich auf Parteistandpunkte zurück, der Widerwille gegen das Einordnen in eine gewisse Marschroute scheint einen Aufstau erlebt zu haben und bei dieser Gelegenheit durchgebrochen zu sein. Über alle diese Nuancen ist in der Presse fast durchwegs die Absicht erkennbar, um dieser Rede willen «kein Geschirr zu zerschlagen».

Ausgangspunkt für die Beurteilung der Stimmungslage nach der Bundesratsrede ist für Weber die Frage: Was wird aus der Schweiz? Er konstatiert ein «seelisches Durcheinander», dessen Behebung das Ziel der Führung des Volkes sein muss.

Über die Reaktionen auf die Rede in der Bevölkerung gibt auch Dr. Ernst von Schenck, der Leiter des Psychologenbüros, Aufschluss. Gemäss seinem Bericht halten sich zustimmende und ablehnende Reaktionen die Waage. Positiv habe man in den konservativen Kantonen der Urschweiz und in Appenzell sowie in «stark zentralistisch orientierten Kantonen» wie vor allem »Solothurn, aber auch Zürich, Schaffhausen, Thurgau und grossenteils Bern» auf die Ansprache reagiert. Der «weitaus oppositionellste Kanton» sei das «mehrheitlich antigouvernementale und föderalistische» Basel, wo man von links bis rechts, von Sozialdemokraten bis Liberalkonservativen «demokratisch und antitotalitär» denke. Dazu kämen in Basel noch «besonders stark empfundene stilistische Aversionen gegen als zu lang empfundene und pathetisch bezeichnete Reden» hinzu. Von Schenck muss es wissen. Der in Dresden geborene, seit fast zwanzig Jahren in Basel lebende Philosoph ist Assistent an der Uni Basel.

Am 30. Juni, «wieder so einem stinklangweiligen Sonntag», schickt Hptm. Edmund Wehrli seinen Eltern, «mit Kopie an meine Frau», einen Feldpostbrief. Er schimpft darin über seinen neuen Kommandanten, «eine derartige Null, ein richtiger, schweizerischer Oberst, dass man nie wusste, sollte man lachen oder weinen»:

Dabei hat das Kalb nicht einmal den Mut, einen einzusperren. Ich muss zwar etwas aufpassen, was ich schreibe. Es gibt nämlich bei uns eine Polizei, die untersteht sich, Briefe von Offizieren zu öffnen, wenn sie glaubt, es handle sich um Leute, die nicht ordonnanzmässige Füdlibürger sind.

Wehrli, der mit seinem Bataillon immer noch an der Limmatlinie steht, fragt sich, wieso «wir aus Gott weiss was für Überlegungen nicht heim dürfen». Eltern und Frau sagt er unverhohlen, was er denkt:

Wie steht es bei uns? Es ist klar, wir müssen uns weitgehend der «neuen Welt» anpassen. Es ist aber grundfalsch, wenn die alten Kläuse probieren, jetzt den Mantel nach dem Wind zu hängen. Erstens einmal hat das Ausland zu ihnen kein Vertrauen, und zweitens haben wir selbst kein Vertrauen zu ihnen. Es ist so viel, so erschreckend viel faul in unserem Staate, dass es nur eine Lösung gibt: Alle, die bis jetzt regierten, müssen weg, und eine junge Generation muss ans Ruder, die zuerst den Saustall im Lande drin ausmisten und die auch ohne Charakterlosigkeit die Aussenpolitik führen kann. 

Ob dieses «Ausmisten» aus «eigener Kraft und rechtzeitig» geschehe, sei vielleicht die Schicksalsfrage für die Schweiz. «Aber daneben», spöttelt Wehrli, «sind wir’s ja janz jesund und lassen uns den Humor nicht verteufeln».

In der letzten Juni-Woche tut sich innenpolitisch in der Schweiz einiges. Eine Gruppe gutgesinnter Patrioten gründet am Sonntag, 30. Juni, den überparteilichen Gotthard-Bund. Sie nennen zwei Beweggründe für ihren Zusammenschluss: 

1. Bewahren der Unabhängigkeit unseres Landes, der unbedingte Willen zur inneren und äusseren Landesverteidigung.

2. Die Überwindung der in den Kriegsjahren als unzeitgemäss empfundenen Gegensätze der politischen Parteien und Wirtschaftsgruppen, vor allem der Gegensätze von «links» und «rechts». 

Der Gotthard-Bund ist eine zusammengewürfelte Gesellschaft. Zu den Initianten gehören der Zürcher Romanistikprofessor Theophil Spoerri und der junge Genfer Literat Philippe Mottu, beides aktive Mitglieder der christlichen Oxford-Bewegung; Christian Gasser und Robert Eibel, führende Figuren des «Bunds der Subventionslosen », genannt «Elefantenklub»; der Schriftsteller Denis de Rougemont; der christlichsoziale Gewerkschafter René Leyvraz, der Landesring–Nationalrat Heinrich Schnyder; der Instruktionsoffizier Walter Allgöwer. Unterstützt wird der Gotthard- Bund auch von Theologieprofessor Emil Brunner, dem sozialdemokratischen Bieler Stadtpräsidenten Guido Müller, Gonzague de Reynold, dem Agronomen Fritz Wahlen – bald einmal populärer «Vater der Anbauschlacht». Und dem unvermeidlichen Gottlieb Duttweiler.

Die etablierten Parteien befürchten, dass die überparteiliche Gruppierung zu einer gefährlichen Konkurrenz werden könnte. Massgebliche Männer der Freisinnigen, der Sozialdemokraten, der Katholisch-Konservativen und der BGB sind ohnehin zum Schluss gekommen, dass in der gegenwärtigen Notsituation Regierungsparteien und Sozialdemokraten in Einzelfragen näher zusammenrücken sollten.

Am Abend des 26. Juni treffen die Nationalräte Gut und Feldmann im «grünen Salon» des feinen Berner Lokals Du Théâtre zu einer zweieinhalbstündigen, «sehr herzlichen» Aussprache über die innen- und aussenpolitische Lage. Die beiden bürgerlichen Politiker sehen keine Anzeichen, die auf militärische Absichten gegen die Schweiz deuteten. Das Schwergewicht verschiebe sich deshalb auf die innenpolitische Entwicklung:

Gut geht auf meinen Vorschlag, eine interparteiliche Organisation zur ständigen Fühlungnahme untereinander und mit dem Bundesrate zu schaffen, ein und erklärt, eine ähnliche Anregung habe ihm bereits Nobs [SP-Nationalrat und Zürcher Regierungspräsident] unterbreitet. Wir sehen vor, pro Partei zwei Vertreter, dazu ein ständiges Sekretariat. Erste Einberufung durch Bundesrat oder den Präsidenten der Neuen Helvetischen Gesellschaft. Besondere Aufgaben der Organisation: Nachrichtenaustausch, Orientierung des Bundesrates über die Stimmung im Volke und deren Entwicklung, Orientierung des Parteivolkes über Massnahmen der Landesregierung, die sich der öffentlichen Erörterung entziehen, Erzielen einer interparteilichen Einigung in umstrittenen Einzelfragen …

In der Folge schlägt Feldmann eine solche interparteiliche Organisation vor. Gut wird in der gleichen Frage bei Etter vorstellig. Die beiden Bundesräte sind mit der Bildung eines solchen aus etwa einem Dutzend Personen bestehenden Vertrauensrats einverstanden.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Hitlers Siege haben den mit dem Nationalsozialismus sympathisierenden «Fronten», die praktisch von der Bildfläche verschwunden waren, neuen Auftrieb gegeben. Ihre lange unter sich zerstrittenen Führungsfiguren schliessen sich zusammen. Am 28. Juni notiert Feldmann:

Heute Zirkular erhalten von einem «Führerkreis der nationalen Bewegung der Schweiz»; unterschrieben haben u. a. Henne, Wechlin, Oehler, Max Leo Keller, Stadler, Thönen Zweisimmen und andere mehr. Damit ist die erste neue nationalsozialistische Bewegung auf den Plan getreten.

Der mit «Schweizervolk!» überschriebene Aufruf der Frontenführer beschwört eben dieses Schweizervolk:

Enttäuschung und Verbitterung gehen heute durch deine Reihen! Warum? Weil du einsehen musst, dass du durch die Presse über die weltpolitischen Vorgänge systematisch falsch unterrichtet worden bist. Die geschichtlichen Ereignisse nehmen einen Verlauf, der von unverantwortlichen Machern der öffentlichen Meinung weder vorausgesehen noch gewünscht worden war. Die auf falschen Voraussetzungen beruhende und bis heute massgebliche einseitige Einstellung muss ohne Verzug einer sachlichen und allseitig gerechten Auffassung Platz machen. Es geht um den Weiterbestand unseres Vaterlandes!

Der «Führungskreis» fühlt sich vom Lauf der Geschichte bestätigt:

Es gibt Männer in unserem Lande, die seit Jahren die grosse Entwicklung vorausgesehen und die politischen und sozialen Aufgaben unseres Vaterlandes richtig erkannt haben. Sie sind dafür eingetreten, dass Grundlage und Bestand der Schweiz nicht nur einseitig mit dem Schicksal der Westmächte, sondern auch mit demjenigen Deutschlands und Italiens aufs engste verbunden sind. Keine Verleumdungen und Verfolgungen haben sie jemals von der Verfechtung ihrer Überzeugung abzubringen vermocht und heute gibt ihnen das Zeitgeschehen in vollstem Umfange recht.

Hauptforderung des «Führungskreises» ist die «Wiederherstellung aufrichtiger und freundschaftlicher aussenpolitischer Beziehungen zu Deutschland und Italien – und damit die Voraussetzung für die Freiheit und Selbständigkeit unseres Volkes und Landes!»

Die Frontisten sind nicht die grösste Gefahr für den Zusammenhalt der Schweiz. Auch Nichtnazis, die von der Familie her oder aus kultureller Verbundenheit deutschfreundlich sind, freuen sich über den Sieg der Wehrmacht. In der Deutschschweiz lässt sich ein Teil der Jugend, vor allem Studenten, von den militärischen und organisatorischen Taten beeindrucken, die ein diktatorisch regierter Staat vollbracht hat. Der 19-jährige Walther Hofer (der spätere Historiker und Nationalrat), der an der Uni Bern Geschichte studiert, staunt, wie viele einst nazifeindliche Kommilitonen umkippen: «Sie fangen an zu sagen: ‹Schon sensationell, was die gemacht haben. Von denen können wir etwas lernen›.»

Pilet überlässt in diesen bewegten Sommertagen die innerschweizerischen Angelegenheiten dem Kollegen Etter. Selber hat er mit aussenpolitischen und aussenhandelspolitischen Geschäften alle Hände voll. An den Bundesratssitzungen vom 28. Juni (und vom 2. Juli) befasst sich die Landesregierung (ohne Obrecht, «leidend») mit den Wirtschaftsverhandlungen mit Italien, Dänemark und besonders Deutschland. Der mit allen Wassern gewaschene deutsche Delegationsleiter Hemmen nimmt eine sehr harte Haltung ein. Den Schweizer Unterhändlern ist es bisher nicht gelungen, die Kohlensperre zu lockern oder Lieferungen von landwirtschaftlichen Hilfsstoffen wie Phosphaten zu erreichen. Das Reich will in der Schweiz grosse Mengen von landwirtschaftlichen Produkten, von Kriegsmaterial, Werkzeug- und Uhrenmaschinen sowie Aluminium auf Kredit kaufen. Pilet gibt Minister Hotz und seiner Delegation in ihrer zähen Verhandlungsführung rückhaltlose Unterstützung.

Am Morgen des Samstags, 29. Juni, erhält Pilet einen persönlichen Brief des an der Berner Alpenstrasse lebenden, pensionierten Diplomaten C.R. Paravicini. Der 68-jährige «Para», wie man ihn nennt, war von 1919–1939 Gesandter in London mit erstklassigen Kontakten in den sozialen und politischen Kreisen, die im Königreich zählen. Pilet, der Grossbritannien nicht aus eigener Anschauung kennt, zieht «Para» gerne für englische Fragen zu Rate. Dieser schreibt nun Monsieur le Président:

Ich habe gestern Freitag den Tag in Genf verbracht, und mein Cousin, Prof. Carl Jacob Burckhardt, hat mich gebeten, sogleich nach meiner Rückkehr nach Bern, Ihnen à titre personnel folgende Botschaft zu übermitteln.

Es folgt in der Handschrift Burckhardts:

Ich bin eingeladen, mich unverzüglich nach Berlin zu begeben, um mit einem Haut Fonctionnaire du Auswärtigen Amt eine Unterhaltung oder dringliche pourparlers zu führen bezüglich Zusammenarbeit des Internationalen Roten Kreuzes bei den Anstrengungen zur Zurückführung der zivilen Flüchtlinge etc. in Frankreich in ihre Heimstätten. Es ist derart auf die Dringlichkeit dieser Gespräche insistiert worden, dass ich genötigt bin, am Sonntag, 30. Juni, im Verlaufe des Morgens abzureisen, um die deutsch-schweizerische Grenze rechtzeitig zu erreichen, um das Flugzeug zu nehmen, das die Regierung in Berlin mir entgegengeschickt hat, und das mich an die Wilhelmstrasse führen wird.

Burckhardt erklärt, wieso Paravicini ihm, Pilet, die Botschaft übermittle:

Ich halte es für unvorsichtig zu telegrafieren, mit Rücksicht darauf, dass mir von meinen Gesprächspartnern auf der anderen Seite des Rhein die strikteste Diskretion abverlangt wurde.

Wieso muss Burckhardt jetzt so dringlich nach Berlin? Und wieso schickt die Reichsregierung ein Flugzeug, um den Ex-Hochkommissar für Danzig in Genf abzuholen? Geht es nur um die Rückführung französischer Flüchtlinge in ihre Heimstätten oder beabsichtigt Weizsäcker, Burckhardt mit einer Vermittlungsmission zu beauftragen?


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne,12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv    

Beitrag vom 29.10.2023

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