39. Tatsachen Aus «Staatsmann im Sturm»

Am Mittwoch, 26. Juni, besucht Pilet um 18 Uhr die nationalrätliche Vollmachtenkommission mit ihren 25 Mitgliedern. Sie kontrolliert in Kriegszeiten den Bundesrat. Die Parteien delegieren ihre wichtigsten Mitglieder in den Ausschuss, dessen Sitzungen geheim sind. Ein Bundesrat kann in der Vollmachtenkommission Dinge sagen, die er aus aussenpolitischen Gründen der Öffentlichkeit verschweigen muss. In seinem Referat sagt Pilet den Nationalräten, der Waffenstillstand vermindere das Risiko, dass eine der kriegführenden Armeen unsere Grenzen verletze:

Diese Gründe haben den Bundesrat veranlasst, auf Ende der nächsten Woche eine teilweise Demobilmachung unserer Armee zu beschliessen. Es ist nötig, dem Land die Arbeitskräfte zu geben, die seine Wirtschaft dringend braucht. Diese Demobilmachung kann nur teilweise sein, denn für den Moment handelt es sich zwischen unseren Nachbarn nur um einen Waffenstillstand und nicht um Frieden. Eine sofortige Kündigung dieses Waffenstillstands ist möglich.

Die Demobilmachung eines grossen Teils der Armee, so Pilet weiter, verursache immer wirtschaftliche Verwirrung. Wenn man internen Schwierigkeiten vorbeugen wolle, müssten die entlassenen Männer eine Beschäftigung finden. Bis Mitte Juni sei die Schweizer Volkswirtschaft von einem Gleichgewicht abhängig gewesen, das sich zwischen den beiden Kriegsparteien herausgebildet habe. Dieses schon zuvor unstabile Gleichgewicht sei heute «total zerstört». Die Folgen für die Schweiz:

Es sei dem ehemaligen Chef des Eisenbahndepartements gestattet, die Tatsache zu betonen, dass ohne die Erlaubnis Deutschlands oder Italiens kein Wagen in die Schweiz hinein- oder hinausfahren kann. Die mit Grossbritannien und Frankreich abgeschlossenen Blockadeverträge sind praktisch hinfällig. Die Texte bleiben, aber es wird künftig unmöglich sein, die Bestimmungen anzuwenden. Frankreich und England haben keinen direkten Zugang zur Schweiz mehr. Man muss sich mit dem Gedanken abfinden, dass dieser neue Zustand zumindest eine gewisse Zeit lang anhalten wird.

Pilet beantwortet eine von Grimm gestellte Frage über die Neutralitätspolitik und die wirtschaftlichen Folgen der Ereignisse der letzten Wochen. Mit Deutschland seien Verhandlungen in die Wege geleitet, mit Italien erfolgreich abgeschlossen worden:

Die Gespräche mit Deutschland werden in Bern gerade heute um halb fünf wieder aufgenommen. Weil sie nicht beendet sind, ist es unmöglich, sich darüber ein Urteil zu bilden oder dazu genaue Informationen zu geben. Tatsache ist, dass wir in der Zukunft mit Deutschland viel wichtigere Wirtschaftsbeziehungen unterhalten werden müssen als in den ersten sechs Monaten dieses Jahres. Ohne Einwilligung Deutschlands können wir uns nicht mehr mit Kohle versorgen, denn es kontrolliert künftig nicht nur die Ausfuhr seiner eigenen Kohle, sondern auch derjenigen aus Polen, Belgien, Frankreich, Luxemburgs und sogar, was den Transit betrifft, Grossbritanniens. Es versteht sich von selbst, dass man uns diese Waren nicht zum Geschenk machen wird und dass wir sie, auf die eine oder andere Weise, bezahlen müssen. Zudem werden wir die französischen Häfen nicht mehr ohne ausdrückliche Einwilligung der Besatzer benutzen können.

Angesichts der «wechselhaften und ungewissen Zukunft» gehe es darum, sich nicht von einem Wirtschaftsblock unterwerfen zu lassen. Man werde wirtschaftlichen Druckversuchen, die vom Norden, Süden oder Westen kommen könnten, Gegendruck geben müssen. Pilet fasst zusammen:

Die Möglichkeit der Beschränkung unserer Exporte bringt die ernste Gefahr der Arbeitslosigkeit mit sich. Was auch immer geschehe, ist der Bundesrat fest entschlossen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, damit das Schweizervolk weder ins Elend noch in den Müssiggang verfällt … Das Damoklesschwert, das über der Schweiz schwebt, ist ab heute nicht mehr die Gefahr einer aus strategischen Erwägungen hervorgehenden militärischen Invasion, wohl aber die Gefahr, dass wir im Innern nicht mehr Meister bleiben und demnach als ein Unruheherd in Europa betrachtet würden.

In der Diskussion gratuliert der für seine Deutschlandfreundlichkeit bekannte Aargauer BGB-Nationalrat Roman Abt dem Bundespräsidenten zur gestrigen «Proklamation». Eben kehrt er zurück von einer Geschäftsreise durchs Deutsche Reich, wo man sich überall über die «deutschfeindliche Haltung der meisten unserer Zeitungen» beklagt habe und die Stimmung gegen die Schweiz schlecht sei.

Der Liberale Charles Gorgerat glaubt mit Pilet, dass eine deutsche Invasion aus strategischen Gründen wenig wahrscheinlich sei, warnt aber vor dem «deutschen Dynamismus», der «seine Aspirationen auf die Einverleibung aller von Bevölkerungen deutscher Rasse bewohnten Gebiete ins Reich» kaum aufgegeben habe.

Der sozialdemokratische Parteipräsident Hans Oprecht ist enttäuscht von Pilets Rede. Er kritisiert «schleierhafte Wendungen» und, besonders in der deutschen Fassung, «eigentümliche Formulierungen»:

Hat sich etwa auch unserer Regierung wegen des Zusammenbruchs Frankreichs ein Schwächegefühl bemächtigt? Dies wäre verhängnisvoll. Es böte dem deutschen Dynamismus, über den man sich keinen Illusionen hingeben darf, eine willkommene Handhabe. Nach wie vor richten sich in Deutschland Lieder, Radiosprecher und Zeitungsschreiber gegen die Schweiz; man muss von dort her auf alles gefasst sein.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Oprecht hat «grösste Bedenken» gegen «eine weitgehende Demobilmachung unseres Heers». Auch berührt es ihn, dass in der Rede des Bundespräsidenten «mit keinem Wort die Demokratie erwähnt worden ist». Oprecht droht mit Konsequenz, falls «vom Bundesrat eine eigentliche Gleichschaltung des Schweizer Volks erstrebt werden sollte».

Für den Waadtländer Henry Vallotton besteht die militärische Gefahr weiter. Entlang der bisherigen französisch-schweizerischen Grenze stehen mechanisierte deutschen Divisionen. Die dortige Front ist «weit weniger gut durch Befestigungen verteidigt». Vallotton hält mit dem Bundesrat eine bloss «teilweise und stufenweise» Demobilmachung für richtig.

Dann spricht Grimm. Pilet hat als junger Nationalrat und parlamentarischer Chronist für La Revue Grimm oft scharf angegriffen und auf seine eigene höhnische Art verspottet. Inzwischen hat er den Berner Sozialistenchef schätzen gelernt. Als Vorsteher des Eisenbahndepartements hätte er ihn gerne auf dem Präsidentensessel der SBB-Generaldirektion gesehen – was sich als politisch unmöglich erwies. Grimm ist Chef der Sektion «Kraft und Wärme» in dem von Obrecht geschaffenen kriegswirtschaftlichen Apparat. Soeben hat der Bundesrat den einst von den Bürgerlichen gehassten «Landesstreik-General» zum Vorsitzenden einer neuen fünfköpfigen Arbeitsbeschaffungskommission ernannt.

Grimm sieht Gefahr für die Schweiz kaum mehr in einem «überfallartigen Angriff», sondern durch «das schrittweise Stellen von Zumutungen auf ultimativem Wege und durch den Vormarsch der 5. Kolonne». Dieser Gefahr könne nur durch die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit» begegnet werden:

Der Grundsatz ist richtig, dass Arbeit gewährt werden muss, nicht Unterstützung. Tätigkeit und nicht müssige ‹Stempelei›. Die Bundesbehörden werden voraussichtlich eine radikale Umstellung der bisherigen Subventionspolitik vorzunehmen haben. Viele Gemeinden und einzelne Kantone können höhere Beiträge an die Arbeitsbeschaffungskosten auf die Länge nicht mehr leisten.

Mehr Bundessubventionen seien unvermeidlich. Mit besonderer Sorge müsse man sich des «Problems der Intellektuellen», d. h. der arbeitslosen Akademiker annehmen:

Wie die Frontenbewegung seinerzeit bewiesen hat, können diese Kreise, falls sie sich selber überlassen bleiben, zu einer grossen innenpolitischen Gefahr werden.

Zum Schluss meint Grimm, man müsse sich eine Rückkehr zum Wirtschaftssystem, das noch bis Anfang September letzten Jahres bestanden habe, «aus dem Kopf schlagen». Der selbstdeklarierte Marxist und Pragmatiker ist für «einen staatlich dirigierten Verbrauchs- und Produktionsprozess», nicht für eine «brutale Verstaatlichung».

Migros-Chef Duttweiler rät der Regierung, auch in kleinen Dingen dem Ausland nicht nachzugeben: «Man wird, wenn wir uns hartnäckig und unverdaulich zeigen, uns am ehesten respektieren oder vielleicht sogar fürchten.» Er warnt «vor einem Dirigieren oder Bevormundung der Wirtschaft». Duttweiler erwähnt die Bundesratsrede nicht. Er hat sie im Zürcher «Zunfthaus zur Waag» angehört und soll sie laut Augenzeugen gelobt haben: «Endlich ein neuer Ton!»

Pilet beginnt sein Schlusswort mit einer seiner herablassenden Bemerkungen, mit denen er sich keine Freunde macht:

Zu meinem Bedauern habe ich im Laufe der Diskussion feststellen müssen, dass man nicht genau liest, was geschrieben oder gesagt worden ist. Ich habe nicht von einer totalen Demobilmachung, sondern von einer «teilweisen und stufenhaften» Demobilmachung unserer Armee gesprochen. Ich habe auch nicht gesagt, dass man sich von der Demobilmachung hüten solle, um nicht die Arbeitslosigkeit hervorzurufen. Ich habe einzig konstatiert, dass die Demobilmachung ernsthafte Probleme für die innere Wirtschaft stellen wird. Ich habe auch darauf hingewiesen, dass zwischen unseren Nachbarn ein Waffenstillstand und kein Friede geschlossen wurde und dass deshalb die militärische Gefahr weiter besteht.

Nach dieser lehrerhaften Rüge stellt der Bundespräsident fest:

Es kann keinen Zweifel geben, dass man unser Land gegen jeden Angriff oder jede unzumutbare Forderung des Auslands verteidigen muss. Aber man muss es intelligent verteidigen. Selbst auf dem militärischen Gebiet wird es nicht möglich sein, die bisherige Organisation der Landesverteidigung in ihrem Ganzen aufrechtzuerhalten. Man wird ein unterschiedliches Dispositiv übernehmen müssen.

Pilet verteidigt sich gegen den ihm von Vallotton gemachten Vorwurf, in seiner Rede kein Wort über die Demokratie gesagt zu haben – und dies wiederum im schulmeisterlichen Ton:

Es ziemt sich nicht, allzu oft Dinge in Erinnerung zu rufen, die ausser und über jeder Diskussion stehen. Überdies habe ich mich gehütet, von Diktatur zu reden; aber ich habe von Autorität und von Entscheiden aus Autorität gesprochen.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne,12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv   

Beitrag vom 15.10.2023

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