35. Die Schlinge um den Hals Aus «Staatsmann im Sturm»

Als General Guisan am Abend des 19. Juni von der Grenze zurückkehrt, erfährt er, dass ihn Bundespräsident Pilet um 23 Uhr bei sich am Scheuerrain erwartet. Die zu besprechende Sache muss sehr ernst sein. Spätabends dabei sind auch Minister Bonna, Jurist Logoz und Verbindungsoffizier Henry Vogel. Barbey im Tagebuch:

M. Pilet-Golaz gibt dem General eine Note, die ihm der deutsche Minister Köcher eben überreicht hat. Er verhehlt nicht, wie sehr ihm diese Note beunruhigend scheint. Sie stellt auf tendenziöse Weise den Verlauf der Luftkämpfe an der Nordwestgrenze von Anfang Juni dar, bei denen unsere Jagdpiloten deutsche Flugzeuge angriffen und mehrere herunterholten, sei es auf schweizerischem oder französischem Boden.

Die scharfe deutsche Antwortnote (auf Pilets Note vom 8. Juni) bestreitet rundweg die Schweizer Schilderung der Luftkämpfe und hält an der eigenen Version «in allen wesentlichen Punkten» fest:

Insbesondere ist die Tatsache, dass die beiden am 1. und 4. Juni abgeschossenen deutschen Flugzeuge auf französischem Gebiet abgestürzt sind, schon für sich allein ein sicherer Beweis dafür, dass der vorausgegangene Luftkampf über französischem Gebiet stattgefunden hat.

Für ein Schiedsgerichtsverfahren sieht die deutsche Regierung keinen Anlass und verlangt, dass ihre Forderungen [Entschuldigung und Schadenersatz] «unverzüglich erfüllt» werden. Die deutsche Note bringt dann «einen weiteren ernsten Vorfall zur Sprache», den Luftkampf vom 8. Juni. Nach deutscher Darstellung wurde «eine Anzahl deutsche Flugzeuge während eines Grenzüberwachungsflugs über französischem Gebiet von vier Schweizer Flugzeugen, die sich dann auf etwa 16 vermehrten, angegriffen». Schwerwiegender noch ist aus deutscher Sicht:

In den Luftkampf griffen auch mehrere französische Flugzeuge ein … Es war einwandfrei zu erkennen, dass die Schweizer und französischen Flugzeuge, wenn auch getrennt voneinander, lediglich die deutschen Flugzeuge angriffen, ohne sich gegenseitig zu bekämpfen … Dieser von Schweizer Flugzeugen über französischem Kampfgebiet und im Zusammenwirken mit französischen Flugzeugen unternommene Angriff kann wiederum nur als ein flagranter feindseliger Akt bezeichnet werden.

Die scharfe deutsche Note vom 19. Juni endet ominös:

Ausserdem bringt die Reichsregierung der Schweizer Regierung hiermit zur Kenntnis, dass sie, falls es künftig zu einer Wiederholung solcher Fälle kommen sollte, von schriftlichen Mitteilungen absehen und die deutschen Interessen auf andere Weise wahrnehmen wird.

Was ist unter «andere Weise» zu verstehen? Nichts Gutes. Es ist eine unverhüllte Drohung mit militärischen Massnahmen gegen die Schweiz. Am nächtlichen Treffen in Pilets Haus einigt man sich, wie Bundesrat und General auf die deutsche Drohung reagieren sollen.

Bereits um 8 Uhr am nächsten Morgen, Donnerstag, 20. Juni, bespricht sich Guisan mit Fliegerkommandant Bandi. In der Folge entwirft Divisionär Bandi neue Weisungen an seine Piloten. Den Schweizer Jagdflugzeugen soll verboten werden, die Ajoie, den Südtessin, den Kanton Genf und die Zone entlang der Grenze zu überfliegen. Weiter:

Selbst im Innern des Landes dürfen die Jagdflugzeuge isolierte ausländische Flugzeuge nicht angreifen, bloss Geschwader von mehr als drei Flugzeugen.

Pilet, dem der Text vorgelegt wird, ändert von Hand die letzten Worte «von mehr als drei Flugzeugen» zu «von drei und mehr Flugzeugen». In der Folge erlässt der General – immer noch am gleichen 20. Juni – einen Befehl, der in der Konzession ans Reich bedeutend weitergeht als die Weisungen des angeblichen Deutschlandfreunds Bandi:

Bis auf weiteres sind Luftkämpfe über dem ganzen Hoheitsgebiet der Schweiz zu unterlassen. Demzufolge werden keine Flugzeugbesatzungen mehr weder von der Zentralstelle noch von den Fliegerregimenten gegen fremde, das schweizerische Hoheitsgebiet überfliegende Flugzeuge eingesetzt.

In einem Begleitschreiben an den Generalstabschef und die vier Korpskommandanten erklärt Guisan, der Befehl erfolge «auf Verlangen des Bundesrats». Der General – schlauer Waadtländer Bauer, der er ist – weiss natürlich, dass ein solcher Befehl, der einem Einknicken vor Hitler-Deutschland gleichkommt, bei seinen Fliegern kein Verständnis finden wird. So schiebt er die Verantwortung für den Rückzieher dem Bundesrat in die Schuhe. Zu Unrecht.

Am Freitag, 21. Juni, lässt Pilet erneut Köcher kommen, um mit ihm über die neue deutsche Note zu reden. Im Hinblick auf das Gespräch hat sich der Bundespräsident notiert:

Zur Verhütung einer Wiederholung der bedauerlichen Vorkommnisse hat das schweizerische Armeekommando verschiedene Anordnungen getroffen, mit welchen den von der deutschen Regierung geäusserten Wünschen Rechnung getragen sein dürfte.

In Pilets Notizen findet sich fast wörtlich der Befehlsentwurf Bandis. Es ist anzunehmen, dass sich Pilet im Gespräch mit Köcher an diesen Text hielt und nicht an Guisans weitergehenden Befehl vom Vortag, der nicht weniger bedeutet als die Aufgabe des Neutralitätsschutzes in der Luft.

Was Pilet unter vier Augen mit Köcher geredet hat, können nur die beiden wissen. Immerhin existiert ein Bericht des Gesandten an Weizsäcker. Köcher schreibt, Pilet habe versucht, «die deutschen Feststellungen über den Hergang der Zwischenfälle nochmals in Zweifel zu ziehen»:

Er wies darauf hin, dass wir von der Schweiz nichts verlangen könnten und dass die Schweiz auch nichts tun werde, was gegen ihre Ehre verstosse.

Pilet zeigt Rückgrat. Er ist im Gespräch mit Köcher in die Offensive gegangen, indem er auf die geplante Aktion der 10 vom Reich in die Schweiz entsandten Saboteure zu sprechen kam. Köcher schreibt dazu:

Der Bundespräsident übergab mir dann die in Abschrift beigefügte Aufzeichnung und fügte hinzu, dass die in diesem Schriftstück behandelten Vorfälle einen gravierenden Eingriff ins schweizerische Recht bedeuten. Ich habe Herrn Pilet-Golaz erwidert, dass mir von diesen angeblichen Vorfällen nicht das geringste bekannt sei und dass mir die ganze Angelegenheit sehr unglaubwürdig erscheine.

Köcher ist über das geheime Sabotageunternehmen «Adler» nicht informiert worden. Das «Schriftstück», das ihm Pilet überreichte, muss die Vorgänge um die geplanten Flugzeugsprengungen überzeugend dargestellt und den Gesandten in einige Verlegenheit gebracht haben. Als Vertreter des Deutschen Reichs kann Köcher jedoch nicht gut anders, als die illegale Aktion abzustreiten. Auf jeden Fall will er mit der peinlichen Angelegenheit, die kein gutes Licht auf die Wehrmachtsführung und auf die Fähigkeiten der deutschen Geheimagenten wirft, selber nichts zu tun haben:

Im übrigen musste ich ihn darauf aufmerksam machen, dass er Beschwerden dieser Art durch den schweizerischen Gesandten in Berlin ordnungsgemäss vorbringen lassen möge. Ich nehme an, dass der Bundespräsident diesen Rat befolgen wird, wenn er nicht auf Grund der von mir geltend gemachten Einwendungen davon absieht, die Vorfälle überhaupt zur Sprache zu bringen. 

Köchers Worte lassen erahnen, dass Pilet mit dem Gesandten übereingekommen ist, die ebenso dreiste wie kläglich misslungene deutsche Sabotageaktion unter den Teppich zu kehren. Köcher hat Weizsäcker das «Schriftstück» übersandt und dieser wird sich seinen Reim gemacht haben. Persönlich hat der Staatssekretär kein Interesse daran, Keitel, Göring und Ribbentrop – und schon gar nicht den Führer! – an das peinliche Fiasko eines Unternehmens zu erinnern, das die Nazimächtigen in ihrem gegenwärtigen Siegesrausch vergessen oder verdrängt haben.

Nach seinem Gespräch mit Köcher geht Pilet in eine wichtige, bereits laufende Sitzung, an der das weitere Vorgehen in der schwierigen Aussenhandelssituation beraten wird. Der Bundespräsident erscheint gerade rechtzeitig, um das Votum von Direktor Heinrich Homberger zu hören, der einen Überblick über den Stand der Verhandlungen gibt, die Minister Jean Hotz und er in den letzten Tagen in Bern mit dem deutschen Delegationsleiter Hemmen geführt haben.

Die Niederlage Frankreichs hat die Verhandlungsposition der Schweiz ungemein erschwert. Die Schweizer Delegation versucht jetzt, «auf dem Gebiet der Kriegsmateriallieferungen so schnell wie möglich eine Lösung zu finden, um die Kohlelieferungen nicht unterbrechen zu lassen». Die Schweiz, so meint Homberger, müsse «die äussersten Anstrengungen machen, um Deutschland mehr Ware, inklusive Kriegsmaterial, zu liefern»:

Es setzt dies, ausgenommen beim Kriegsmaterial, wo wir Blockademässig frei sind, eine Lockerung der Blockadebindungen [gegenüber den Westmächten] voraus.

Sowohl Hotz wie Homberger legen dem Bundespräsidenten nahe, persönlich «an die diplomatischen Vertreter der Westmächte heranzutreten» und gleichzeitig unsere Gesandten in Bordeaux (wohin Frankreichs Kabinett und Parlament geflüchtet sind) und London anzuweisen, bei den dortigen Regierungen vorstellig zu werden. Sie sollen um Verständnis für die «Notlage» der Schweiz nachsuchen. Pilet bringt die Diskussion auf den Punkt:

Wir dürfen uns jetzt nicht auf das einstellen, was wir befürchten oder hoffen, sondern auf die Tatsachen. Deutschland kann uns jetzt drakonische Bedienungen stellen. Es wird nicht um eine militärische Invasion gehen, aber sie haben uns bereits die Schlinge um den Hals gelegt. Sie können diese noch weiterzuziehen, um uns das wegzunehmen, das wir zum Leben brauchen. Es geht darum praktische Lösungen zu finden, nicht theoretische Diskussionen zu führen. Wir müssen uns darüber Rechenschaft ablegen, dass unsere Beziehungen zu Deutschland eine tief greifende Änderung erleiden werden. Wir müssen alles opfern, was sekundär und entbehrlich ist, um zu retten, was für die Versorgung des Landes wesentlich ist. In erster Linie geht es darum, das geforderte Geld zu geben. Es wäre zweckwidrig, über eine Million mehr oder weniger zu feilschen. Daneben muss eine Liste der Waren aufgestellt werden, die Deutschland verlangt, um sich nachher mit den Alliierten in Verbindung zu setzen. Wir müssen uns allerdings bewusst sein, dass diese Gespräche sehr lang sein werden. Daraus folgt, dass wir Entscheide treffen müssen, bevor wir eine Antwort [von den Alliierten] gekriegt haben. Was das Clearing betrifft, ist offensichtlich, dass Deutschland Devisen braucht und dass es sich nicht geniert, sich uns gegenüber durchzusetzen. Dies, im Klartext, sind die Tatsachen, wie sie sich aus dem Verlauf der vergangenen zwei Wochen ergeben haben.

Zum Autor

Schriftsteller Hanspeter Born

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Minger, der in Vertretung des kranken und soeben offiziell zurückgetretenen Obrecht die zweitägige Sitzung geleitet hat, zeigt sich zum Schluss befriedigt, «dass in allen Teilen eine Verständigung erzielt worden und die vorgeschlagenen Richtlinien der Unterhandlung die Billigung des Bundesrats gefunden hatten». Ebenfalls am Freitag, 21. Juni, wird Masson in Gümligen vorstellig und beklagt sich heftig über die «Unmässigkeit unserer öffentlichen Meinung». Barbey im Tagebuch:

Armer Masson! Ich sehe ihn in seinem so lebhaften Bewusstsein darüber leiden, was seiner Meinung nach unsere Zurückhaltung, unsere Würde sein sollte. Er leidet in seiner Seele und man würde sagen in seinem Fleisch.

Die Vorhaltungen Massons zeigen bei Guisan Wirkung. Noch am gleichen Tag schreibt er Minger:

Die Entwicklung der militärischen, politischen und diplomatischen Situation auferlegen unserem Volk eine Pflicht der Haltung und der Kaltblütigkeit. Ohne einen Alarmschrei ausstossen zu wollen, denke ich, dass es höchste Zeit ist, das Land wissen zu lassen, dass unsere Neutralität ihm im Ausdruck seiner Gefühle Zurückhaltung und Disziplin auferlegt.

Im Brief an den Bundesrat verlangt der General – nicht zum ersten Mal – die Einführung der «totalen Vorzensur»:

Ich betrachte also, dass die einzige Art, um die Verstösse und Exzesse unserer Presse und die Zwischenfälle, die sich daraus ergeben können, zu vermeiden, die Vorzensur ist. Sie ist gegenwärtig eine unentbehrliche Waffe unserer Landesverteidigung auf interner wie auf externer Ebene.

Guisan sieht wie der Bundesrat die «zwingende Notwendigkeit, an der Grenze und in unserem Luftraum jeden Zwischenfall zu vermeiden, der diplomatische Komplikationen provozieren könnte». Er habe dementsprechende Befehle erteilt und es wäre jetzt «paradox, nicht auch auf dem Gebiet der Presse analoge Massnahmen zu ergreifen».

Dazu fehlten jedoch die Mittel. Am Schluss seines an Minger adressierten Briefs stellt der General dem Bundesrat ein Ultimatum – oder was einem Ultimatum gleichkommt:

Die Stunde ist gekommen, um eine klare Situation zu schaffen. Die Präventivzensur ist das einzige Mittel, das ich zulasse. Ich verlange sie deshalb d’une façon formelle. Wenn der Bundesrat diese Forderung nicht in Betracht ziehen sollte, werde ich die Überwachung der Presse mit den gegenwärtigen Mitteln nicht mehr ausüben können. Ich würde dann den Bundesrat bitten, mich von dieser Verantwortung zu befreien.

Der Bundesrat gibt Guisan eine Absage. Die Presse habe sich bisher allgemein «an die Richtlinien der Abteilung Presse und Rundfunk» gehalten. Die wirksame Durchführung einer Vorzensur würde einen «grossen Apparat von Zensurbeamten erfordern » und hätte auch «den Nachteil, dass die Abteilung Presse und Funkspruch und damit das Armeekommando die Verantwortung für nicht beanstandete Artikel tragen müsste» Der Bundesrat zweifelt, ob die eidgenössischen Räte eine solch tiefgreifende Massnahme billigen würden».

Die Hauptsorge, die unter vielen andern am Ende der tumultuösen dritten Juniwoche den Bundesrat beschäftigt, ist die militärische Umklammerung durch die Achsenmächte. Im Gespräch mit ein paar BGB-Parteifreunden skizziert Minger am 22. Juni die neue Lage:

Die Möglichkeit eines deutschen Durchmarschs durch die Schweiz ist gegenstandslos geworden. Dagegen liegen noch zwei Gefahren im Bereich der Möglichkeit: Es können deutsche politische Zumutungen kommen, die unsere Ehre beeinträchtigen; dann müssen wir kämpfen auch gegen Übermacht; der Gegner muss wissen, dass er uns nur um den Preis grosser Opfer überwinden kann. Der Defaitismus, der sich da und dort breitmacht, muss bekämpft und überwunden werden. Die zweite Gefahr: Die nationalsozialistische Bewegung wird in unserem Lande Fuss fassen und die wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten (z. B. die Arbeitslosigkeit) zu ihrem Aufstieg benützen. Daraus könnte eine Aufspaltung des Volkes entstehen und von einem äusseren Feind bei Gelegenheit ausgenutzt werden.

Ebenfalls am Samstag, 22. Juni, hält Guisan mit seinen direkten Untergebenen – Generalstabschef Huber, den vier Korpskommandanten Lardelli, Prisi, Miescher, Labhart und Ausbildungschef Wille – Kriegsrat. Der General hält eine militärische Aktion der Deutschen gegen die Schweiz für unwahrscheinlich, aber nicht für ausgeschlossen. Man müsste dann mit einem Angriff von allen Seiten rechnen. Die Meinungen, wie einem solchen Angriff zu begegnen sei, gehen auseinander. 

Bereits im Winter hat der Operationsspezialist Oberst Oscar Germann, im Zivilleben Ordinarius für Strafrecht an der Uni Basel, die Frage eines allfälligen Rückzugs in eine «Festung Alpen» oder «Festung Gotthard» geprüft. Der Gedanke eines solchen «Reduit» ist plötzlich aktuell geworden. Die Meinungen gehen auseinander. Wille, Labhart und Miescher sind für einen konsequenten Rückzug in die Alpen. Huber, Lardelli und vor allem Prisi wollen an der bisherigen Armeestellung festhalten. Prisi:

Wenn sich die Armee schon opfern muss und untergehen soll, so geschieht dies mit Vorteil in der ausgebauten und der Truppe bekannten Armeestellung … Die Armee hat heute den Auftrag, das Land zu verteidigen. Wenn wir sie zurücknehmen in die Alpen und ¾ des Landes preisgeben, so ist das keine Landesverteidigung mehr, sondern eine reine Armeeverteidigung.

Für Wille kann die Armee im Zentralraum länger Widerstand leisten als in der Armeestellung: 

Nach wie vor sind für Deutschland unsere Alpenbahnen wichtigstes Ziel und nicht die Inbesitznahme des schweizerischen Mittellandes, das ihm nichts zu bieten vermag, was es nicht schon besitzen würde. Solange wir uns aber darauf beschränken diese Kriegsziele und Übergänge kraftvoll zu verteidigen, können wir uns auch den Drohungen der bewaffneten Macht besser entgegenstellen.

Guisan legt sich nicht fest. Die Frage eines Rückzugs in die Alpen soll weiter studiert werden.

Am dritten Juniwochenende greift in der Schweiz Defaitismus um sich: Was nützt militärischer Widerstand, wenn die grande armée, die angeblich stärkste Armee der Welt, innert sechs Wochen überrollt worden ist? Barbey, der im Auftrag des Generals die internierten französischen Truppen besucht, trifft auf dem Chaumont General Daille. Dieser sagt ihm, dass die Fehler seiner Vorgesetzten ihm nichts anderes übrig liessen als die Internierung:

«Aber dies ist die Vergangenheit», sagt der General: «Wie sehen Sie die Zukunft?» Dann ohne zu warten: «Ich sehe sie unter einem sehr düsteren Tag … Und ich denke an euch, was könnt ihr jetzt tun? Was kann euer Bundesrat tun? … Sagen Sie Ihrem General, dass meine Gedanken ihn in seiner grossen Aufgabe, die jetzt beginnt, begleiten.»

Als Barbey am Abend an den Kommandoposten zurückkehrt, wird er von Briefen und Telefonaten von Kameraden überschwemmt:

Leitmotiv: «Le moral fout le camp … Man weiss nicht mehr, woran sich zu klammern … Was werden wir tun? …Glücklicherweise haben wir den General. Man zählt auf ihn … Sag ihm dies, respektvoll, von unserer Seite…»


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne,12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv   

Beitrag vom 17.09.2023

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