33. Englische Bomben, deutsche Bombenleger Aus «Staatsmann im Sturm»

Am 12. Juni, gegen 1 Uhr früh, werden in stockdunkler, wolkenschwangerer Nacht – eben ist ein heftiges Gewitter niedergegangen – die braven Bürgerinnen und Bürger von Genf durch ein unheilvolles Dröhnen aus ihrem Schlaf geweckt. Sie gehen an die Fenster. Man hört, wie Fliegerstaffeln in drei Wellen das Gebiet überfliegen. Um 1 Uhr 50 erschüttern drei Explosionen die Stadt. Die Leute stürzen auf die Strassen. Eine getroffene Gasleitung erleuchtet die Gebäude. An verschiedenen Orten sind Bomben niedergegangen, so im Wohnquartier Champel. La Suisse berichtet:

Die Wirkung war erschreckend. Alle Fensterscheiben der Gebäude in der Nähe des Einschlags zersplitterten. Die Gebäude tragen die Spuren zahlreicher Explosionen. Mehrere Personen wurden Opfer ihrer Unvorsichtigkeit. Eine Frau, die im 3. Stock der Nummer 18 in der Rue de la Ferme am Fenster geblieben war, wurde getötet. In einen grossartigen Solidaritätsschwung organisiert sich sofort die Hilfe. Weil die Telefonleitungen unterbrochen waren, begeben sich Velofahrer zum Polizeiposten von Plainpalais, um die Ärzte zu alarmieren. Die am schwersten Verwundeten werden per Auto in die Polyklinik und ins Kantonsspital transportiert.

In einem als Kantonnement benutzen Nebengebäude des Hotels Beau-Séjour wird ein auf Stroh schlafender Soldat getötet.

Auch in Renens und Daillens in der Nähe von Lausanne hat ein fremdes Flugzeug Bomben abgeworfen. Bilanz der nächtlichen Fliegerangriffe: 4 Tote, 18 Schwerverletzte, grosser materieller Schaden. Die Aufregung ist enorm. Die Armeeleitung verspricht eine rasche Untersuchung. Noch am gleichen Morgen ist das Ergebnis bekannt: Die Bomben sind englischer Herkunft. Das Politische Departement weist die Schweizer Gesandtschaft in London an, Protest zu erheben. Minister Thurnheer geht persönlich zu Richard. A. («Rab») Butler, dem Under-Secretary of State for Foreign Affairs, und übergibt ihm die Note, in welcher der Bundesrat gegen «die schwerwiegende Verletzung der schweizerischen Neutralität» protestiert.

Die britische Regierung untersucht die Zwischenfälle und beantwortet die Schweizer Protestnote. Einheiten des «Bomber Command», die Operationen gegen Ziele in Norditalien unternahmen, seien wegen des schlechten Wetters über den Alpen von ihrem Kurs abgekommen und versehentlich über Schweizer Gebiet geflogen. Die Regierung Ihrer Majestät übernehme die Verantwortung. Sie drücke ihr tiefes Bedauern für diesen unglücklichen Zwischenfall und ihre Trauer über dessen tragische Folgen aus. Sie sei bereit, für Verluste an Menschenleben, persönliche Verletzungen und materielle Schäden aufzukommen.

Wie sich herausstellt, haben drei verirrte Flugzeuge, die einer Formation von 36 Whitley-Bombern angehörten, die Bomben abgeworfen. Sie operierten im Rahmen des ersten britischen Bombenangriffs gegen Italien nach Mussolinis Kriegserklärung. Die Formation hätte kriegswichtige Einrichtungen in der Lombardei und im Piemont zerstören sollen, doch zwei Drittel der Bomber kehrten unverrichteter Dinge zurück. Die Besatzung des Whitley, der Renens und Daillens bombardierte, hatte Lausanne mit Genua verwechselt.

Am Sonntag, 16. Juni, telefoniert Generalstabschef Huber dem General. Man hat zehn deutsche Saboteure verhaftet! Sie hätten auf unsere Militärflugplätze angesetzt werden sollen.

Was war geschehen? Im Zug von Kreuzlingen nach Zürich fielen Zugführer Albert Stöckli vier in Knickerbocker gekleidete Reisende auf, die eine vom Vortag stammende, abgelaufene Fahrkarte vorzeigten und nachzahlen mussten. Jeder legte eine nagelneue Fünfziger- oder Hunderternote hin. Die Passagiere sprachen Französisch, allerdings schlecht. Die Sache schien Stöckli faul. Noch bevor der Zug am Hauptbahnhof Zürich zum Stehen kam, sprang er ab, eilte zum Polizeiposten. Dort hatte Wachtmeister Joseph Torti bereits die Signalemente von zwei Verdächtigen in der Hand. Der Schweizer Spionageabwehr war ein Tipp aus Berlin zugegangen. Wie Torti nach dem Krieg erzählte, spürte er die beiden Kerle in der Chüechliwirtschaft des Bahnhofbuffets auf: 

Ich ersuchte sie, sich auszuweisen. Der eine wurde totenblass. Ich spürte, dass er entweder fliehen oder eine Waffe ziehen würde, und befahl: «Hände auf den Tisch!» Die Pistolen der beiden holte ich mit zwei Griffen aus den Taschen. Dann wollte ich ihre Pakete öffnen. Zuoberst lagen als Tarnung pazifistische Flugblätter. Da fiel mir einer in den Arm und brüllte: «Nicht aufmachen, sonst fliegen Sie in die Luft.» 

Unter den Pamphleten lag Sprengstoff. In kürzester Frist konnten daraufhin an verschiedenen Orten weitere Saboteure geschnappt werden. Alle zehn hatten falsche Pässe auf sich. Sie besassen je ein Paket mit Sprengkörpern, eine Pistole mit 25 Patronen, ein Stilett, einen Kompass, eine Drahtzange, eine Taschenlampe, 500 Schweizerfranken und 50 Reichsmark.

Das Armeekommando befürchtet weitere Sabotageakte, vielleicht gar einen Anschlag auf sein Hauptquartier. Erhöhte Alarmbereitschaft wird befohlen, die Berner Ortswehren werden aufgeboten. Brücken und wichtige Strassen werden durch Hindernisse und Maschinengewehrstellungen gesichert. Nachrichtenoffizier und Bund-Feuilletonredaktor A.H. Schwengeler sagt Feldmann, die recht plumpe Aktion sei von untergeordneten Stellen «ohne Veranlassung durch offizielle Instanzen» ausgegangen und habe beabsichtigt, «Zwischenfälle zu provozieren».

Die Nachricht ist falsch, die Saboteure waren keine, auf eigene Faust handelnde Einzelgänger. Die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft ergeben, dass zehn Angehörige der Einsatzgruppe Brandenburg – 8 Deutsche, 2 Auslandschweizer – in einem Blitzkurs auf einem Flugplatz in der Nähe von Berlin für die Sabotageaktion ausgebildet worden waren. Sie hatten «von einem Major» den Auftrag erhalten, in der Nacht vom 16. auf den 17. Juni in vier Gruppen auf den Flugplätzen Spreitenbach, Bözingen, Payerne und Lausanne je ein oder zwei Militärflugzeuge zu zerstören. Bei seiner Einvernahme hatte der verhaftete Schweizer Erwin Leu ausgesagt:

Die Herren erklärten, die Schweiz sei nicht neutral, sie sei für Frankreich und gegen Deutschland, obwohl ihr das Wasser bis zum Munde stehe. Die Aktion werde durchgeführt, um ihr einmal eine Lehre beizubringen. Von den Teilnehmern unserer Aktion wurde auch erzählt, die Schweiz habe deutsche Bomber abgeschossen, während die Franzosen ruhig die Schweiz überfliegen durften.

Leu hatte die Deutschen Loos und Karsten am 13. Juni nach Spreitenbach geführt, wo sie in den Wäldern übernachteten. Da sie auf dem dortigen Feldflugplatz keine Militärflugzeuge vorfanden, vergruben sie die Sprengkörper und machten sich auf die Heimreise. Die beiden Deutschen wurden im Bahnhof Weinfelden, der Schweizer Leu auf dem Bahnhof Lausanne verhaftet. Aus heutiger Sicht, die sich auf nach dem Krieg zugängiges Archivmaterial (insbesondere auf Erwin von Lahousens Kriegstagebuch) stützen kann, lässt sich der Hergang des «Unternehmens Adler» – wie deutsche Stellen die Sabotageaktion nannten – einigermassen zuverlässig rekonstruieren.

Zum Autor

Schriftsteller Hanspeter Born

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Ausgeführt wurde «Adler» von der eigens für solche Aktionen aus Freiwilligen, meist Auslandsdeutschen, zusammengesetzten Spezialtruppe, die den Tarnnamen «Lehrregiment Brandenburg z.b.V. 800» trug. Die «Brandenburger» unterstanden dem von Admiral Wilhelm Canaris geführten militärischen Geheimdienst, der Abwehr/Ausland. Für Sabotage und Propaganda war Abteilung II unter Oberstleutnant Erwin von Lahousen zuständig, einem Vertrauten des Admirals. Lahousen, ein österreichischer Geheimdienstoffizier, der nach dem Anschluss in die Wehrmacht übernommen wurde, war gegen die Nazis und wird am 9. März 1943 persönlich eine Kiste Sprengstoff für ein geplantes (gescheitertes) Attentat gegen Hitler auf einen Flug nach Smolensk mitnehmen.

Lahousens Abwehr II, welche den Auftrag am 3. Juni von Keitel erhalten hatte, unterbreitete dem Wehrmachtsoberkommando einen Plan, der den «gleichzeitigen Sabotageansatz für alle vorgesehenen Objekte an einem Tag» vorsah. Am 7. Juni, dem Tag nach den schweren schweizerisch-deutschen Luftkämpfen im Jura, erhielt die Abwehr vom Luftwaffenführungsstab die Meldung, dass das Unternehmen «Adler» jetzt durchzuführen sei. Die Abwehr, die sich der politischen Tragweite des zweifelhaften Unternehmens gegen die neutrale Schweiz bewusst war, nahm Rücksprache mit Göring und Keitel. Das Ergebnis war,

dass über die Ausführung des Unternehmens «Adler» eine Entscheidung des Führers herbeigeführt werden muss. Abwehr II bereitet weiter vor, wartet aber endgültigen Einsatzbefehl ab.

Bereits am Spätnachmittag des 8. Juni kam die Mitteilung, dass «der Führer die Durchführung des Unternehmens genehmigt hat». Am 11. Juni reisten die mit der Sabotageaktion beauftragten «V-Leute» von Berlin ab, um noch in der Nacht über die Schweizer Grenze geschleust zu werden.

Nach allem, was heute über die Abwehr – und über die Nazigegner Canaris, Oster und Lahousen – bekannt ist, hat sie den völkerrechtswidrigen Befehl Hitlers widerwillig ausgeführt. Der dem Widerstandskreis um Oster angehörende Hans Bernd Gisevius, zeitweise deutscher Vizekonsul in Zürich, erzählte 1946 dem Weltwoche-Journalisten Peter Schmid, Canaris habe das Talent gehabt, bei besonders heiklen Aufgaben, deren Erfüllung er verhindern wollte, einen «Weihnachtsmann» zu finden, «das heisst irgend einen ‹bewährten Offizier›, der in Wirklichkeit ein Trottel war und bestimmt seine Mission auf die schiefe Ebene brachte».

Dies scheint beim Unternehmen «Adler» der Fall gewesen zu sein. Canaris oder einer seiner Mitarbeiter sorgten für das Scheitern von «Adler». Höchstwahrscheinlich waren es auch Abwehr-Mitarbeiter, welche die Schweizer Spionageabwehr oder die Zürcher Polizei rechtzeitig warnten und so den Schweizer Stellen ermöglichten, die Saboteure dingfest zu machen.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm 

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne,12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv   

Beitrag vom 03.09.2023

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