32. Luftgefechte über dem Jura Aus «Staatsmann im Sturm»

Seit Beginn der deutschen Westoffensive, in der Görings Luftwaffe eine wichtige Rolle spielt, muss die Schweiz ihre Neutralität nun auch im Luftraum verteidigen. Als neutrale Nation ist sie völkerrechtlich verpflichtet, keine Verletzung ihres Territoriums zu dulden. Sie muss ausländische Flieger entweder zur Landung zwingen oder abschiessen. Bei Kriegsanfang erhielten die Schweizer Piloten Weisung, einfliegende Flugzeuge mit Signalen zu warnen, bevor sie sie angriffen. Am 31. März 1940 änderte General Guisan den Befehl: Auf alle einer kriegführenden Macht angehörigen Militärflugzeuge wird ohne vorherige Warnung geschossen.

Die Schweizer Flieger- und Flabtruppe – man meidet das Wort Luftwaffe – besteht im Mai 1940 aus etwa 300 Jagd-, Erdkampf- und Beobachtungsflugzeugen, von denen jedoch viele nicht einsatzfähig sind. Die meisten haben keinen Funk oder sind nur notdürftig mit Funkgeräten ausgerüstet. Stolz der Fliegertruppe sind die 78 Jäger vom Typ Me 109 E. Mehr als die Hälfte dieses hochmodernen Kampfflugzeugs hat die Firma Messerschmitt noch kurz nach Kriegsausbruch in die Schweiz geliefert.

Am 10. Mai griff erstmals ein Schweizer Pilot mit seiner Me 109 zwischen Brugg und Basel einen deutschen Jagdbomber an, der über die Grenze entweichen konnte. Gleichentags wurde ein deutscher Aufklärer Dornier Do 17 von zwei Schweizer Me 109 schwer getroffen und musste gegenüber von Altenrhein im österreichischen Schilf notlanden. Die beiden Besatzungsmitglieder wurden schwer verletzt ins Spital gebracht. Ein deutscher He 111, der in der Gegend von Epinal Bomben abgeworfen hatte, verflog sich am 16. Mai im Schneesturm. Er wurde von der Schweizer Fliegerabwehr und zwei Schweizer Me 109 beschossen und schwer getroffen. Zwei verletzte Besatzungsmitglieder sprangen mit dem Fallschirm ab und wurden ins Kantonsspital Winterthur gebracht. Dem Piloten gelang eine abenteuerliche Bruchlandung bei Kemleten. Er und sein Beobachter, beide schwer verletzt, steckten die Flugzeugtrümmer in Brand und versuchten Richtung Deutschland zu entkommen. Eine Schweizer Patrouille stellte sie. Tags darauf besuchte eine Abordnung der Fliegerkompanie 21 die internierten Deutschen im Spital mit einem Blumenstrauss.

Im Juni häuften sich die Grenzverletzungen. Manchmal flogen grosse deutsche Flugverbände auf dem Weg nach Südostfrankreich durch die Schweiz. Am 1. Juni drangen drei Staffeln mit insgesamt 36 He 111, die Eisenbahnknotenpunkte in Savoyen bombardieren sollten, bei Basel in die Schweiz ein. Einer dieser Bomber wurde von einem Schweizer Me 109 so schwer getroffen, dass er steuerlos bei Lignières in eine Bergkuppe flog und zerschellte. Alle fünf Besatzungsmitglieder kamen um. Gleichentags wurde ein anderer He 111 über Les Rangiers von zwei Schweizer Piloten kampfunfähig geschossen und musste bei Delle notlanden, wo seine Besatzung in französische Gefangenschaft geriet. Die vom Einsatz heil nach Deutschland zurückgekehrten Flieger glaubten, dass Schweizer Jäger ihre Kameraden über französischem Gebiet grundlos angegriffen hatten. Sie schworen Rache.

Tags darauf, 2. Juni, einem strahlend schönen Sonntag, spitzt sich die Lage im Luftraum zu. Ein über Bourg in Frankreich angeschossener He 111 empfängt den Funkspruch: «Befehlsgemäss Rückmarsch durch die Schweiz». Die «lahme Ente» mit nur einem funktionierenden Motor fliegt über Genf Richtung Neuenburgersee. Sie wird von einer Schweizer Me 109-Patrouille gestellt, von Schüssen getroffen und notlandet bei Ursins. Alle fünf Besatzungsmitglieder sind verletzt, eines von ihnen stirbt im Spital in Yverdon. Der ohne Warnung erfolgte Abschuss des havarierten deutschen Bombers, der sich durch die Schweiz ins Reich retten wollte, erzürnt die deutsche Luftwaffenführung. General Hans Jeschonnek, Görings Generalstabschef, fordert das Auswärtige Amt auf, beim Bundesrat energisch zu protestieren.

Am 3. Juni erhält die Abwehr, der für Sabotage zuständige Geheimdienst des Admiral Canaris, den Sonderauftrag, «schweizerische Jagdflieger auf schweizerischen Flughorsten s[Sabotage]-mässig anzugehen». Keitel, Generalstabschef der Wehrmacht, erteilt diesen Auftrag zu einer kriegerischen Infiltration auf Wunsch von Luftwaffenchef Göring, der über den tags zuvor erfolgten Abschuss des über Schweizer Gebiet zurückkehrenden, schwer havarierten He 111 empört ist. Der Kommandant der 3. Fliegerdivision, General Robert Ritter von Greim, gibt seinerseits einen «Sonderauftrag an der Schweizergrenze»: Deutsche Staffeln sollen an der Schweizer Grenze provozierend auf- und abfliegen, die Schweizer Jäger zum Luftkampf herauslocken und möglichst viele von ihnen abschiessen.

Am Nachmittag des 4. Juni steigen insgesamt 29 deutsche Flugzeuge in die Luft. Auf die Meldung «vier fremde Flugzeuge über Pruntruterzipfel» starten Schweizer Patrouillen zur Abwehr. In den nächsten Stunden kommt es zu mehreren dramatischen Luftkämpfen zwischen deutschen Me 110 einerseits und Schweizer Me 109 und D 3800 (in Lizenz in Thun gebaute französische Morane-Jäger) andererseits. Bei den Gefechten verliert die Schweiz einen Me 109, wobei der Pilot Oblt. Rudolf Rickenbacher umkommt. Zu seiner Beerdigung in Lotzwil am 7. Juni wird Göring einen Kranz schicken. Aufgebrachte Trauergäste zerfetzen ihn. Ein anderer Schweizer Me 109 muss bei Binnigen notlanden, mehrere unserer Flugzeuge werden durch Einschüsse beschädigt. Die Deutschen verlieren zwei Me 110, die auf französischem Gebiet bei Maîche und Le Rossey niedergingen. Beide Piloten wurden getötet.

Das Auswärtige Amt erfährt noch am gleichen Abend von den Luftgefechten im Jura. Weizsäcker lässt die Meldung an Aussenminister Ribbentrop weiterleiten, der sein Quartier in Himmlers Sonderzug «Heinrich» hat. Die Nachricht sorgt in der Umgebung des Führers für Erregung. Der von den deutschen Erfolgen an der Front begeisterte Goebbels bemerkt im Tagebuch (7. Juni):

Das neutrale Ausland frisst uns aus der Hand. Jetzt auch Jugoslawien und Rumänien. Bloss die Schweiz bleibt unentwegt frech, hat uns zwei Flugzeuge heruntergeschossen, dafür haben wir ihr 4 erledigt und eine scharfe Note hat sie ausserdem noch bekommen.

Weizsäcker hat die von General Jeschonnek verlangte Protestnote Ribbentrop geschickt, der sie ergänzt und verschärft. Am Abend des 6. Juni übergibt Köcher die neugefasste Note dem Bundespräsidenten. Sie enthält eine Liste von schwerwiegenden Vorwürfen. Der unvermittelte und ohne Warnung erfolgte Abschuss von aus Frankreich zurückkehrenden zwei deutschen Flugzeugen, die von ihrem Kurs abgekommen seien, wird von der Reichsregierung als «unverständlich und durch nichts zu rechtfertigen» gebrandmarkt.

Die Reichsregierung beschwert sich ferner darüber, dass am 1. Juni ein deutscher Flugverband auf französischem Gebiet von sechs bis acht Schweizer Me 109 angegriffen worden sei, wobei ein deutsches Flugzeug über dem französischen Morvilliers getroffen wurde und abstürzte. Der deutsche Verband sei von zwei Schweizer Me 109 bis in die Gegend von Mülhausen weiterverfolgt und überdies von französischer und bei Basel stehender Schweizer Flak beschossen worden. Das Verhalten der Schweizer Flieger habe auf den deutschen Flugverband den Eindruck «eines gewollten Zusammengehens mit der französischen Fliegerabwehr» gemacht. Die Vorfälle vom 4. Juni werden in der deutschen Note als «unerwarteter und herausfordernder» Angriff bezeichnet, bei dem eine deutsche Messerschmitt 110 auf französischem Boden abgeschossen wurde. Nebenbei erwähnt die Note, dass beim sich entwickelnden Luftkampf dann auch vier Schweizer Flugzeuge abgeschossen worden seien.

Berlin wertet die beschriebenen Vorfälle als «feindselige Akte, die von Seiten eines neutralen Staates beispiellos sind»:

Die Reichsregierung erwartet, dass die Schweizer Regierung ihre förmliche Entschuldigung wegen dieser unerhörten Vorkommnisse ausspricht und dass sie den entstandenen Sach- und Personenschaden ersetzt. Im übrigen behält sich die Reichsregierung zur Verhinderung derartiger Angriffsakte alles weitere vor.

In Gegenwart Köchers liest Pilet aufmerksam die Protestnote. Er sagt dem Gesandten, er sei durch deren Ton überrascht und tief betroffen. Die Tatbestände verhielten sich anders, als sie in den Berichten, die offensichtlich der Reichsregierung zur Unterlage gedient hätten, zum Ausdruck kämen. Wie könne die Reichsregierung annehmen, dass die Schweiz angesichts der heutigen Kriegslage Deutschland gegenüber neutralitätswidrige Handlungen oder sogar Angriffe vornehme?

Gemäss dem Bericht, den Köcher Weizsäcker schriftlich erstattet, soll Pilet bekümmert fortgefahren haben: «Wenn Deutschland etwas anderes bezweckt, dann sagen Sie es mir bitte, aber auf diese Frage können Sie mir ja keine Antwort geben.» Tatsächlich ist Köcher von Weizsäcker angewiesen worden, sich nicht zur Note zu äussern. Pilet legt dem Gesandten nahe, die Note zurückzunehmen, damit sie nach Aufklärung der offenbar bestehenden Missverständnisse von der Reichsregierung anders gefasst werden könne. Köcher lehnt dies ab. Pilet geht in die Gegenoffensive und kommt auf die deutschen Grenzverletzungen allgemein zu sprechen. Auf einwandfreien Beobachtungen beruhend, seien in letzter Zeit nicht weniger als 97 festgestellt worden. Flugwaffenkommandant Oberstdivisionär Bandi habe dem deutschen Luftwaffenattaché Hanesse (der eigens aus Rom hergereist war) genaue technische Angaben über die Vorfälle gegeben. Er, Pilet, habe seinerseits eigentlich beabsichtigt, in Berlin Protest einlegen zu lassen.

Im Gegenzug kommt Köcher einmal mehr auf die Schweizer Presse zu reden. Diese habe die Konsequenzen aus der offiziellen Regierungsneutralität nie gezogen. Wie tief diese unerhörte Haltung in das Bewusstsein des deutschen Volkes eindringe, ergehe aus den Berichten von Heimgekehrten. In Süddeutschland sei unter dem Eindruck der schweizerischen Zeitungen der Hass gegen die Eidgenossenschaft «fast grösser als gegen Frankreich und England».

Die Note aus Berlin und das freimütige Gespräch mit Köcher machen Pilet Eindruck. Er ist zwar überzeugt, dass die Schweiz bei den Fliegerzwischenfällen im Recht ist und er verteidigt sich bei Köcher juristisch und diplomatisch geschickt. Gleichzeitig gibt er sich über die militärische Lage in Europa keinen Illusionen hin. Frankreich ist im Begriff, den Krieg zu verlieren. Am gleichen Donnerstag, 6. Juni, an dem Köcher bei Pilet vorspricht, notiert Feldmann:

Die neue grosse deutsche Offensive an Somme und Aisne dauert seit gestern früh ununterbrochen und hat, namentlich südlich der Somme, Geländegewinne erzielt.

Am Abend jenes 6. Juni schreibt Generalstabschef Halder in sein Kriegstagebuch:

21.00 Uhr ergibt Rücksprache mit HGr.B, dass sich die Lage viel günstiger gestaltet, als man nachmittags annahm. Tatsächlich ist die 4. Armee gut vorwärts gekommen und hat die Strasse Aumale – Poix – Conty erreicht. Vor ihnen sollen sich schon Auflösungserscheinungen geltend machen.

An der Bundesratssitzung vom Samstag, 8. Juni, berichtet Pilet den Kollegen über die Luftzwischenfälle und die deutsche Protestnote. Er legt dem Bundesrat den vom Politischen Departement «im Benehmen mit dem Armeekommando» ausgearbeiteten Entwurf einer Antwort vor. Die Note wird vom Bundesrat mit zwei geringfügigen Änderungen gutgeheissen.

Noch am gleichen Samstag kann Pilet Köcher zu sich rufen und ihm die ausführliche Antwortnote des Bundesrats übergeben. Sie fasst zuerst die Darstellung der Reichsregierung der «Fliegerzwischenfälle in der Westschweiz vom 1., 2. und 4. Juni» zusammen und äussert sich zum deutschen Begehren nach Entschuldigung und Schadenersatz:

In der Überzeugung, dass unter gleichartigen Voraussetzungen die Deutsche Regierung eine entsprechende Haltung einnehmen würde, versichert das Politische Departement die Deutsche Gesandtschaft, dass der Bundesrat keinen Augenblick zögern würde, den Begehren der Reichsregierung nachzukommen und sogar die Schuldigen nach Massgabe von Art. 92 des schweizerischen Militärstrafgesetzes zur Rechenschaft zu ziehen, wenn die Ereignisse sich wirklich so zugetragen hätten, wie sie in der Note dargestellt sind. Das Departement ist indessen in der Lage, der Gesandtschaft zu Handen ihrer Regierung eingehende Aufschlüsse zu erteilen, welche die Vorkommnisse, an denen die schweizerischen Flieger beteiligt sind, in anderem Licht erscheinen lassen.

Anschliessend gibt Pilets Antwortnote eine genaue Darstellung der Luftzwischenfälle, die sich «auf Berichte der beteiligten schweizerischen Flieger» stützt und auf «zahlreiche Bodenbeobachtungen, die zum gleichen Ergebnis gelangen». Zum Luftkampf zwischen deutschen und schweizerischen Jagdstaffeln, den die deutsche Note als «unerwarteten und herausfordernden Angriff» seitens der Schweizer bezeichne, schreibt der Bundesrat:

Am 4. Juni drangen von Westen kommend zwischen 14.30 und 14.50 Uhr an verschiedenen Punkten in der Gegend von Brassus und Les Verrières eine grössere Anzahl deutscher Flugzeuge in das schweizerische Hoheitsgebiet ein. Schweizerische Patrouillen flogen zur Abwehr auf, und es entwickelten sich Luftkämpfe über der Gegend südlich Vallorbe-Le Pont um 14.50 Uhr, La Vue des Alpes 14.57 bis 15.00 Uhr, Montfaucon 15.12 Uhr und La Chaux-de-Fonds 15.45 Uhr und Lajoux 15.55 Uhr. Beim Luftkampf über Lajoux musste ein schweizerisches Flugzeug auf schweizerischem Gebiet in der Gegend von Boncourt niedergehen, wobei ein schweizerischer Offizier den Tod fand. Ein im Luftkampf über La Chaux-de-Fonds abgeschossenes deutsches Flugzeug musste jenseits der Grenze zu Boden gehen. Auch in diesen Fällen hat kein einziges schweizerisches Flugzeug den französischen Luftraum berührt, noch ist ein solches auf französischem Boden niedergegangen.

Diese Ausführungen mit genauen Zeit- und Ortsangaben tragen Pilets persönliche juristische Handschrift. Ebenso die nachfolgenden sehr dezidierten Worte, die Berlins Version in Zweifel ziehen:

Die vorstehend wiedergegebenen Tatsachen bekunden, dass die schweizerischen Flieger ausschliesslich zur Abwehr aufgestiegen sind, in Erfüllung ihrer Pflichten zur Wahrung der schweizerischen Neutralität. Die in der Note der Gesandtschaft angeführten Luftaktionen stimmen, mit Ausnahme der beiden Fälle von Lignières und Yverdon, weder nach Ort noch nach Zeit mit den schweizerischen Feststellungen überein. Auf Wunsch werden die schweizerischen Behörden der Deutschen Regierung auf Grund von Berichten, Beobachtungen und Einvernahmen weitere Ergänzungen und Aufschlüsse über die erwähnten Verletzungen der schweizerischen Gebietshoheit gerne erteilen.

Zum Schluss schlägt Pilets Note vor, für den Fall, dass man «die bestehenden Meinungsverschiedenheiten über den Tathergang» nicht beseitigen könne, die Aufklärung im Sinne des deutsch-schweizerischer Vergleichsvertrags von 1931 einer Untersuchungskommission zu übergeben. Mündlich erläutert er Köcher, wie sich der Bundesrat diese Kommission vorstellt. Sie soll aus Technikern bestehen, je einem Deutschen, einem Schweizer und einem Neutralen, der ein Italiener sein könne.

Noch während er mit Köcher redet, wird Pilet ans Telefon gerufen. Er erfährt, dass in den letzten Stunden neue, noch grössere deutsch-schweizerische Luftkämpfe mit noch mehr eingesetzten Flugverbänden stattgefunden haben, bei denen es zu Abstürzen und Todesfällen gekommen ist. In seinem noch am gleichen Abend geschriebenen Bericht beschreibt Köcher Pilets Reaktion: 

Herr Pilet-Golaz sprach wiederholt mit sichtlicher Erschütterung von der unglücklichen Verkettung der Umstände, durch die es so weit gekommen wäre, wies aber darauf hin, dass die Schweiz mit Rücksicht auf ihre Nachbarn gezwungen sei, ihre Neutralitätsverpflichtungen so genau als eben möglich einzuhalten.

Pilet muss an jenem Samstagnachmittag befürchtet haben, dass eine weitere Eskalation der Luftkämpfe zu einem deutsch-schweizerischen Krieg führen könnte. Angesichts der deutschen Übermacht und des Ausfallens Frankreichs als möglichen Verbündeten müsste ein solcher Krieg mit der raschen totalen Niederlage der Schweiz enden. Pilet tut nun alles in seiner Macht Stehende, um das Verhängnis abzuwenden. Telefonisch gibt er General Guisan Anweisung, die schweizerischen Flieger «in Fällen entschuldbaren Irrtums» bei Verletzungen des schweizerischen Luftraums zu grösster Zurückhaltung anzuhalten.

Zum Autor

Schriftsteller Hanspeter Born

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Pilet ruft nachher Köcher an, um ihm dies mitzuteilen. Auf Köchers Frage, was dieser Befehl bedeute, antwortet Pilet, dass in solchen Fällen – also bei irrtümlichen Hoheitsverletzungen – nicht geschossen werden solle. 

Die Zwischenfälle vom 8. Juni, die sich unmittelbar vor dem Treffen Pilet – Köcher ereignet haben, sind von den deutschen Fliegern provoziert worden. Sie hatten Befehl, die Schweizer Jagdflieger an der schweizerisch-französischen Grenze zum Kampf zu stellen und möglichst viele ihrer Me 109 abzuschiessen. Den Kampf eröffneten sie, indem zwei ihrer Me 110 einen Schweizer C 35, der auf einem Aufklärungsflug über Pruntrut flog, unvermittelt angriffen und abschossen. Pilot und Beobachter kamen um.

Über den Ablauf der Luftkämpfe, an denen 28 deutsche Me 110 und 10 schweizerische Me 109 beteiligt waren, weichen die schweizerische und die deutsche Darstellung von einander ab. Nach (glaubwürdiger) Schweizer Version wurden zwei deutsche Zerstörer abgeschossen, wobei vier Flieger den Tod fanden. Zwei weitere deutsche Flieger wurden durch Einschüsse tödlich verletzt. Ein Me 110 wurde von der Schweizer Flab schwer getroffen und musste bei Oberkirch auf Schweizer Gebiet notlanden. Pilot und Bordfunker wurden interniert. Auf Schweizer Seite beklagt man den Verlust eines C 35 und den Tod der beiden Besatzungsmitglieder. Ein lebensgefährlich verwundeter Pilot musste notlanden und mehrere Flugzeuge wurden durch Einschüsse beschädigt.

Die Lektion, welche die deutsche Luftwaffe den Schweizern erteilten wollte, ist missglückt. Die kriegsunerfahrenen, aber furchtlosen und gut ausgebildeten Schweizer Piloten behaupteten sich im Kampf gegen die erprobten deutschen Flieger. Acht Monate hatten sie ungeduldig darauf gewartet, zu zeigen, was sie konnten. Die Erzählung eines Schweizer Flugoffizier illustriert ihre Stimmung:

Eines Tages war ich in Dübendorf am Flugplatzrand und übte mit meinem Zug Gewehrgriff und Taktschritt. Ein deutscher Bomber flog in diesem Moment aus geringer Höher über unseren Flugplatz und drehte nach Norden ab. Unsere Staffel hatte an diesem Tag ausnahmsweise keinen Pikettdienst. Voller Wut und Scham schauten wir dem Heinkel nach. Da fuhr ein Bäckergeselle mit einer riesigen Wegglihütte am Rücken mit seinem Fahrrad vorbei und rief, ohne abzusteigen: «Ihr Schyss-Chaibe, worum schüsset ihr dä Schwob nöd ab.»

Die Nachricht über die neusten Luftkämpfe dringt zu Hitler, der am 9. Juni «selbst die Weiterbearbeitung der Angelegenheit» in die Hand nimmt. Alles eingehende Material über die Luftkämpfe mit Schweizer Fliegern «soll unmittelbar dem Führer zugeleitet werden». Der erzürnte Hitler befiehlt den kommandierenden General des hauptsächlich beteiligten «Fliegerkorps 1» zum mündlichen Vortrag zu sich. Unterlagen über diesen Vortrag existieren keine. Angesichts des in jenen Tagen stattfindenden blitzartigen Vormarschs seiner Truppen gegen Paris hat Hitler als Oberkommandierenden der Wehrmacht kaum Zeit gehabt, um sich mit strategisch bedeutungslosen deutschschweizerischen Luftscharmützeln abzugeben. Beide Seiten, die schweizerische und die deutsche, vermeiden nach dem unglücklichen 6. Juni tunlichst neue Zwischenfälle.

Die Stimmung entspannt sich. Der telefonische Bericht, den der Gehilfe des deutschen Luftattachés aus Bern nach Berlin übermittelt, rückt die Zwischenfälle in ein neues, für das Reich ungünstiges Licht:

Während der Überfliegung des Schweizer Gebiets wurde ein Schweizer Aufklärungsflugzeug mit dem Kennzeichen C-35 von einem deutschen Flugzeug abgeschossen. Das Flugzeug ist am Boden zerschellt. Beobachter und Pilot tot. Die Untersuchung der Trümmer ergab, dass alle Waffen gesichert waren. Der Schusszähler zeigte nichts an. Hieraus ergab sich, dass das Schweizer Flugzeug keinen Schuss abgegeben hat. Nach Mitteilung von Oberstdivisionär Bandi soll dieser Vorfall in der Schweiz besonders grosse Erbitterung hervorgerufen haben.

In Rom staunt man über die kühnen Taten der Schweizer Flieger. Schon am Tag nach den Luftkämpfen vom 4. Juni hat der italienische Gesandte Tamaro seinem Aussenminister Ciano berichtet:

Die Schweizer liegen auf der Lauer, und kaum überfliegt ein deutsches Flugzeug die Grenze (die doch von oben schwer zu erkennen ist), so geht die Schiesserei los. Wie die Gefühle sind, beweist die Tatsache, dass in Payerne, wo ein Militärflugplatz existiert, die Leute den Sieg mit einer grossen Orgie mit Damen, nächtlichem Ball und reichlichem Sektverbrauch gefeiert haben.

Die Nachricht von der ausgelassenen Feier ist Tamaro von einem «Vertrauensmann » zugetragen worden, der im Zug ein Gespräch von drei Mädchen belauscht hat, von denen zwei an der Feier teilgenommen haben sollen. Der deutsche Botschafter in Rom, H. G. von Mackensen, gibt die Mär von der «Orgie mit Damen» nach Berlin weiter. Divisionär Bandi untersucht die Angelegenheit. Er kann feststellen, dass solche Feierlichkeiten «weder angeordnet noch stattgefunden haben». Dies stimmt nur bedingt. Die Chronik der beteiligten Fliegerstaffel schreibt zum 8. Juni:

Am Abend stieg ein mächtiges Fest … Als männiglich schon recht geladen hatte, die Uhr zeigte fast ein Uhr morgens an, kam ein Regimentsbefehl, der sofortige Alarmbereitschaft befahl.

Am nächsten Tag, 9. Juni, sind Pilet und das Politische Departement weiter bemüht, die gefährliche Krise mit dem Reich zu entschärfen. Pilet redet mit Guisan und Bandi und lässt sich alle einschlägigen Unterlagen geben. Wie seine Notizen zeigen, hält er es für möglich, dass bei den Luftkämpfen schweizerische Piloten, wie dies Deutschland behauptet, auf französisches Gebiet eingedrungen sind. Die Grenze sei sehr gewunden und schwer ausmachbar, weshalb ein in einer Höhe von über 3000 Meter fliegender, schwierige Flugmanöver durchführender Pilot sie überqueren könne, ohne sich dessen gewahr zu werden.

An der Wilhelmstrasse nimmt Weizsäcker den neuerlichen Luftzwischenfall nicht besonders ernst. Sein Chef Ribbentrop ist von Berlin abwesend und hat Wichtigeres zu tun, als sich mit Protestnoten an die Schweiz abzugeben. Ihn beschäftigen der eben erfolgte Kriegseintritt Italiens, der Druck Moskaus auf verschiedene Balkanstaaten, die Ausarbeitung der Bedingungen für den erwarteten Waffenstillstand mit Frankreich. Angelegenheiten, welche die geopolitische Strategie nicht betreffen, überlässt Ribbentrop Weizsäcker, der sie im eigenen Sinn erledigen kann.

Der Staatssekretär hat kein Interesse an einer Verschärfung der Beziehungen mit der Schweiz. Aus seiner Zeit als Gesandter in Bern hat er in der Bundesstadt immer noch zahlreiche Freunde. Sein Sohn Richard (der spätere Bundespräsident) hat am Literargymnasium Kirchenfeld die Schulbank gedrückt und dort Bärndütsch gelernt. Nach einer Aussage von Jacques Pilet schwärmte seine Mutter, Mme Pilet-Golaz, für die «blauen, preussischen Augen» Weizsäckers (der zwar in Baden-Württemberg beheimatet ist).

Am Nachmittag des 12. Juni besucht der Chef der Kriegstechnischen Abteilung, Oberst Robert Fierz, der in Berlin Kriegsmaterial einkaufen will, Weizsäcker privat. Wie Fierz seinem Vorgesetzten Minger berichtet, habe sich Weizsäcker «mit einem feinen Lächeln», aber doch sehr ernst, über die internationale Lage der Schweiz geäussert:

Die Schweiz werde doch wohl kaum nur ein Museumsstück aus der guten alten Zeit bleiben und es dürfte doch wohl notwendig sein, dass mit der Zeit auch einige Änderungen eintreten.

Als Fierz sich verabschiedet, lässt der Staatssekretär die Bemerkung fallen:

Und nun sagen Sie dem Frölicher, er soll nur so weiter arbeiten wie bisher, dann wird alles, alles gut werden. Ich habe dies Herrn Frölicher mitgeteilt und er sagte, er hoffe, dass ich dies auch in Bern weitersagen werde, was hiermit geschieht.

Weizsäcker hat Frölicher absichtlich drei Tage hingehalten, bevor er ihn empfängt. Als Frölicher am 12. Juni endlich vorsprechen kann, drückt er «Besorgnis, Beileid und Bedauern» über die Luftzwischenfälle aus. Weizsäcker notiert:

Aus dem Gespräch, das der Gesandte bei mir führte, war die Absicht unzweideutig zu erkennen, die Behandlung der bisherigen Zwischenfälle nicht zuzuspitzen und nur für die Zukunft vorzubeugen.

Tags darauf, 13. Juni, informiert Pierre Bonna, Chef der Abteilung für Auswärtiges, General Guisan: Frölicher habe bei seinem Gespräch mit Weizsäcker den Eindruck erhalten, dass die schweizerisch-deutschen Luftzwischenfälle keine ärgerlichen Konsequenzen haben werden. Vorausgesetzt sei allerdings, neue Zwischenfälle werden vermieden. Guisan erlässt sofort einen neuen Befehl an seine Flieger. Bei unbedeutenden Verletzungen des schweizerischen Luftraums würden sie nicht mehr alarmiert. Schweizer Jäger sollen über Schweizer Gebiet zurückfliegende Flugzeuge nicht mehr beschiessen, es sei denn, sie eröffneten das Feuer selber. Im Pruntruterzipfel übernimmt die Flab anstelle der Flieger den Luftraumschutz.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm 

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne,12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv  

 

 

Beitrag vom 27.08.2023

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