26. Fingerspitzengefühl Aus «Staatsmann im Sturm»

Bereits am Tag seines Amtsantritts als Aussenminister ist Pilet von Minister Stucki vertraulich auf eine Personalie aufmerksam gemacht worden, die ihn in den nächsten beiden Monaten beschäftigen wird. Der wohlgelittene bisherige Botschafter in Bern Charles Alphand ist gesundheitlich angeschlagen und soll aus Altersgründen abgelöst werden. Ministerpräsident Daladier hat Raymond Patenôtre, den er im September als Wirtschaftsminister ersetzte, die Berner Stelle als Trostpflaster versprochen. Patenôtre besitzt eine Gruppe von Regionalzeitungen, ist sehr reich und einflussreich.

Stucki nimmt an, dass der Zeitungsmagnat, dem es in erster Linie um den begehrten Ambassadorentitel geht, bereits nach sechs Monaten den Berner Posten wieder verlassen werde, um sein ruhendes Abgeordnetenmandat nicht zu verlieren. Im Quai d’Orsay, dem Aussenministerium, will man den Quereinsteiger nicht und erzählt Stucki Böses über ihn. Patenôtres Schwiegervater, der auch Pilet bekannte Millionär James H. Hyde, hat Stucki anvertraut, dass der entlassene Wirtschaftsminister unfähig und so faul sei, dass er kaum je vor Mittag aufstehe.

Stucki weiss auch, dass der Quai d’Orsay viel lieber den erfahrenen Berufsdiplomaten Robert Coulondre in Bern sähe. Coulondre war Botschafter in Moskau und Berlin, wo er mit den Diktatoren Stalin und Hitler umgehen musste. Stucki über ihn:

Ich bin mit ihm seit vielen Jahren befreundet. Er ist für unser Land sehr gut eingestellt und namentlich bedeutend solider und zuverlässiger als die meisten Franzosen. Ich bin sicher, dass wir uns keine bessere Ernennung wünschen können. Herr Coulondre, der bekanntlich Kabinettschef bei Daladier war [der als Ministerpräsident zurückgetreten ist], wollte diese Situation bei keinem anderen beibehalten, befindet sich gegenwärtig im Urlaub und ist disponibel.

Pilet und Stucki stellen sich die Frage, wie man Coulondres Ernennung fördern und diejenige von Patenôtre hintertreiben könne. Keinesfalls will man den der Schweiz wohlgesinnten Immer-noch-Kriegsminister Daladier verärgern. Fingerspitzengefühl und Diskretion sind gefordert. Pilet ist sich dessen bewusst, als der französische Legationsrat Héloise, den er von früher kennt, sich bei ihm meldet. Héloise berichtet, er komme im Auftrag seines bettlägerigen Chefs Alphand und mit Instruktionen aus Paris. Dort wäre man froh, wenn man einen Vorwand hätte, um sich aus der gegenüber Patenôtre eingegangenen Verpflichtung zu befreien.

Könnte Herr Stucki in Paris nicht diskret andeuten, dass die Schweiz den Berufsdiplomaten Coulondre dem Politiker Patenôtre vorziehen würde? Pilet lässt sich nicht aufs Glatteis führen. Er finde es amüsant, dass man ihn, den Schweizer Bundespräsidenten, ersuche, gewissermassen den nächsten französischen Botschafter in Bern zu ernennen. Pilet sagt klipp und klar, dass dessen Nachfolger «glücklicherweise» nur von der französischen Regierung bezeichnet werden könne. Fügt jedoch hinzu, er wolle die ganze Frage noch mit Stucki besprechen.

Brieflich mahnt Pilet Stucki zu Vorsicht. Wenn man eine Vorliebe für Coulondre ausdrücke – und geschehe dies noch so diskret – dann riskiere man, sich den Groll eines beleidigten Abgeordneten [Patenôtre] zuziehen, der sehr wohl zukünftige Regierungsbildungen beeinflussen oder bei ihnen beteiligt sein könnte. Pilet und Stucki einigen sich auf das weitere Vorgehen.

Im Quai d’Orsay erklärt Stucki formell, dass die Schweiz gegen keinen der beiden Kandidaten Einwendungen habe, dass sie beide Ernennungen «als für sie ehrenvoll » betrachten würde. Dann fügt er hinzu:

[Die Schweiz] möchte sich lediglich gestatten, den Wunsch auszudrücken, dass der neue Botschafter in Bern nicht nur kurze Zeit bleibt, sondern dass ein längerer Aufenthalt vorgesehen wird, der es dem Postenchef gestattet, die Schweiz und die mannigfaltigen und komplizierten schweizerisch-französischen Beziehungen eingehend kennen zu lernen.

Das von Pilet und Stucki ausgeheckte Vorgehen führt zum Erfolg. Patenôtre sieht ein, dass der Berner Posten nichts ist für ihn. Die französische Regierung sucht um das Agrément für Coulondre nach, der Anfang Juni sein Amt antreten wird.

Ende April 1940 liest Pilet aufmerksam einen Bericht von Professor William G. Rappard, des Gründers des Genfer Institut des Hautes Etudes Internationales und langjährigen Berater des Bundesrats. Rappard, der in Amerika aufgewachsen und eben von einer Reise aus den Staaten zurückgekehrt ist, rapportiert über die dortige Stimmung. Er spricht von einer allgemeinen Feindseligkeit gegenüber den Diktaturen, die besonders gegenüber Deutschland als beinahe «universell und leidenschaftlich » erscheine:

Dies ist nicht erstaunlich angesichts der Geschichte und der politischen Traditionen eines Landes, das zu einem grossen Teil von Flüchtlingen bevölkert ist, die von den religiösen, politischen und wirtschaftlichen Zwängen der Alten Welt geflohen sind und in der Neuen Welt ein Regime von beinahe unbegrenzter politischer Freiheit geniessen.

Allgemein sei man überzeugt, dass Grossbritannien und Frankreich für eine Sache kämpften, die definitiv auch die der Vereinigten Staaten sei. Trotzdem stellt Rappard in den USA einen starken Isolationismus fest: «Wenn man sich auf den äusserlichen Schein begrenzt, stellt sich das amerikanische Volk zur gegenwärtigen Stunde beinahe einmütig gegen eine militärische Intervention in Europa.» Dies, meint Rappard, könnte sich rasch ändern, falls die deutschen Waffen siegten, Paris und London zerstört und der Nazismus sich in Kanada, Mexiko oder Brasilien aggressiv zeigen würde.

Die Meinung, die er hier ausdrücke, sei wahrscheinlich nicht diejenige der Mehrheit der Amerikaner, aber sie sei ihm von den «bestinformierten und intelligentesten» seiner Gesprächspartner auseinandergesetzt worden und werde von unserem Minister in Washington [Carl Bruggmann] geteilt. Zu dieser Bemerkung Rappards setzt Pilet zustimmend zwei Randstriche.

Rappard verweist auf eine Gallup-Umfrage, wonach die Schweiz unmittelbar hinter Grossbritannien und Frankreich von allen europäischen Ländern die grösste Sympathie geniesse. Diese Sympathie erkläre sich aus den Erfahrungen, die von den Amerikanern mit «unserer zahlreichen, aktiven, intelligenten und ehrlichen Schweizer Kolonie» gemacht worden seien. Man habe eine sehr hohe Meinung von «unseren wirtschaftlichen Fähigkeiten und unserer kommerziellen Moral». Dazu gelte es Sorge zu tragen. Rappard rät von jeder aufdringlichen Propaganda, etwa durch die Entsendung von Vortragsreisenden ab. Höchste Diskretion sei angebracht. Diese Bemerkung verdient zwei Randstriche Pilets.

Zum Autor

Schriftsteller Hanspeter Born

  

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Innenpolitisch gibt es für den Bundesrat und ganz besonders für Minger in der zweiten Aprilhälfte Ärger. Am 17. des Monats ist der Sekretär und juristische Berater des Militärdepartements, Oberstleutnant Dr. Hans Trüeb, wegen Spionageverdachts verhaftet worden. Der Fall ist noch ernster als die Festnahme von Oberstdivisionär a. D. Fonjallaz, denn er zeigt, dass selbst im Herzen der Bundesverwaltung im Trüben gefischt wird. Die sozialistische Presse, die schon seit ein paar Jahren die Entfernung frontistischer Offiziere aus hohen Armeestellen fordert, schreitet zu einem Frontalangriff.

Ein gross aufgemachter polemischer Leitartikel von Nationalrat Ernst Reinhard in der Tagwacht nimmt Bundesrat Minger persönlich aufs Korn, auf dessen Sitz die Berner Sozialdemokraten spekulieren. Reinhard weist darauf hin, dass Oberst Trüeb «in unmittelbarer Nähe des Departementschefs arbeitete und oft seine rechte Hand war». Dieser, obschon als «moralisch nicht sauber» bekannt, habe bleiben können, weil er die vielen Fröntler im Instruktionskorps beschützt und einen «grimmigen und unnachsichtigen Krieg gegen die Sozialisten» geführt habe.

Reinhard spricht von einem «System im Bundeshaus und auf dem Militärdepartement», das «den Fall Trüeb gebar» und nun in jeder Beziehung «Schiffbruch gelitten» habe. Jetzt müsse aufgeräumt werden:

Mit dem eisernen Besen sind die Frontisten, die Trüeb beschützte und die das deutsche Propagandaministerium besser kennt als der Bundesrat, aus Armee und Verwaltung wegzufegen.

Der Ruf nach Säuberung erschallt nicht nur in der sozialdemokratischen Parteipresse, sondern wird auch von anderen Blättern, die gerne Opposition gegen den Bundesrat machen, aufgenommen. Dazu gehören die linksfreisinnige National-Zeitung, Duttweilers Tat und die am Zürcher Bahnhofkiosk viel verkaufte, aufsässige Wochenzeitung Die Nation. Das Blatt publiziert eine Namensliste von angeblichen «Fröntler-Offizieren», worauf die APF die Nummer konfisziert.

Am 29. April rückt eine Presseorientierung durch Armeeauditor Oberst Trüssel den Fall Trüeb in ein neues Licht. Die Untersuchung hat ergeben, dass ein Zürcher Hotelangestellter von einem Engländer angefragt wurde, ob er ihm nicht militärische Nachrichten aus Deutschland verschaffen könne. Dieser erinnerte sich, dass der Ehemann seiner Cousine, eben Trüeb, beim Militärdepartement arbeite und über solche Nachrichten verfüge. Der Hotelangestellte reiste nach Bern und unterbreitete dem Ehepaar Trüeb den Vorschlag des Engländers. Darauf missbrauchte Trüeb seine amtliche Stellung, machte sich Notizen und kopierte Akten – es handelte sich um geheime Nachrichtenbulletins –, die seine Frau gegen Bezahlung an den unbekannten Engländer weiterleitete.

Auditor Trüssel stellt klar, dass Trüeb keine schweizerischen militärischen Geheimnisse verriet und kein «Schutzpatron der frontistischen Offiziere» war. Die Festnahme ist ein Erfolg von Jaquillards Spionageabwehr (SPAB). Der naive Militärdepartementssekretär hatte keine Ahnung gehabt, dass der Herr, der mit ihm abendlich in seinem Tessiner Ferienhotel Karten spielte, ein Agent dieser SPAB war.

Auch wenn Trüeb kein Frontist und kein «Quisling» ist, lässt die Kampagne gegen deutschfreundliche Offiziere in der Linkspresse nicht nach. So muss der Bundesrat auf Anfrage Oprechts Divisonär Birchers Besuch in Warschau rechtfertigen. Eugen Bircher hat als Direktor des Kantonsspitals Aargau an einem deutschen Ärztekongress teilgenommen und dies ausgenützt, um im besetzten Polen Krankenhäuser mit Kriegsverwundeten zu besuchen.

Die schon seit Jahren anhaltende linke Kampagne gegen frontistische oder germanophile höhere Offiziere zeitigt schliesslich Früchte. An einem Armeerapport Ende April erklärt General Guisan: 

Das Armeekommando wird gegenwärtig überschwemmt mit Briefen, welche die Zuverlässigkeit einer ganzen Anzahl von Offizieren in Zweifel ziehen. Gegenwärtig laufen parallel fünf militärgerichtliche Untersuchungen. Die Armeekommandanten werden vom General ersucht, diesen Fällen alle Aufmerksamkeit zu widmen.

Am 10. Mai befiehlt der General die Einleitung einer Untersuchung gegen rechtsextremistische Offiziere in der Armee.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm 

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne,12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv   

Beitrag vom 16.07.2023

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