25. Aprilwetter Aus «Staatsmann im Sturm»

Der Bundespräsident und neue Aussenminister Pilet-Golaz ist zur dominierenden Figur im Bundesrat geworden. Er leitet die Bundesratssitzungen souverän und in umstrittenen Fragen setzt er sich fast immer durch.

So im Fall des über ein halbes Jahr diskutierten und schliesslich im April von den Räten genehmigten Finanzprogramms. Ursprünglich plante der Bundesrat dieses der Volksabstimmung zu unterstellen. Angesichts der verschärften internationalen Lage ändert er seine Meinung und beschliesst, die wichtigsten Teile des Projekts – Wehrsteuer, Wehropfer, Warenumsatzsteuer – durch Bundesbeschluss in Kraft zu setzen. Damit wollte er einen das Land spaltenden Abstimmungskampf vermeiden.

Die Umgehung des Volksentscheids war im Bundesrat umstritten, und Pilet musste abstimmen lassen. Die einzige Gegenstimme kam entweder von Baumann, der es mit den Sozialdemokraten nicht verderben will, oder von Obrecht, der notrechtliches Regieren prinzipiell ablehnt. Die Sozialdemokraten sind über den autoritären Entscheid empört.

Zum Autor

Schriftsteller Hanspeter Born

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Die Linke hat einen weiteren Grund zur Entrüstung. Nach Kriegsausbruch begann sich im Parlament und im Bundesrat die Ansicht durchzusetzen, dass im Interesse der nationalen Einheit die sozialistische Opposition in die Regierungsverantwortung eingebunden werden sollte. Grundsätzlich sind vor allem deutschschweizerische Freisinnige für eine sozialistische Regierungsbeteiligung. Aber wie soll sie in der Praxis zustande kommen? Die Freisinnigen sind bereit, einen, jedoch nicht zwei, ihrer vier Bundesratssitze zu opfern. Da die Sozialisten aber mindestens zwei Sitze beanspruchen, hätten die Konservativen auf einen ihrer beiden oder die Bauern auf ihren einzigen Sitz verzichten müssen. Beides ist politisch unmöglich. Die Sozialisten verheimlichten selber nicht, dass sie dem Bundesrat «nur mit dem Gedanken beitreten würden, in der Opposition zu verbleiben».

International steht der Monat April ganz im Zeichen des Kriegsgeschehens in Norwegen. Beide Parteien, vor allem aber die vom deutschen Überfall überraschten Engländer, übertreiben in ihrer Informationspolitik die eigenen Erfolge. In der Schweiz fällt es schwer, sich ein Bild über den Verlauf der Kämpfe zu machen. Am 23. April glaubt der Militärexperte der Gazette immer noch, dass die Alliierten mit ihren kraftvoll und methodisch geführten Landeunternehmen an verschiedenen Punkten der Küste die «erste Runde gewonnen haben». In London sieht man die Lage realistischer. Am 26. April beschliesst das Kabinett, die Truppen aus Mittelnorwegen abzuziehen. Unterstaatssekretär Cadogan im Tagebuch: «Es ist ein schreckliches Debakel. But there it is, it must be faced.»

Der Schweizer Nachrichtenchef Masson ist pessimistisch. Am 21. April trifft er «in einem Ecksalon des Hotels Savoy, 1. Stock» Nationalrat Feldmann zu einer über zwei Stunden dauernden Besprechung unter vier Augen. Er teilt ihm vertraulich mit, wie sein Nachrichtendienst die Gefahrenlage einschätzt:

In Deutschland sei die Situation gegenüber der Schweiz so: Von Brauchitsch und Keitel sei bekannt, dass sie der Schweiz und ihrer Armee lebhafte Sympathien entgegenbringen. Sie erklären aber, dass der Entscheid nicht bei der Armee liege, sondern bei der NSDAP, und dass man dort von der Schweiz bis obenhinaus genug habe. Man betrachte die Schweiz als «Feind Nr. 1» des deutschen Volkes, und zwar nicht nur wegen der Haltung unserer Presse, sondern wegen einer Reihe von Zwischenfällen, die sich in der letzten Zeit ereignet hätten und in deren Verlauf Deutsche in der Schweiz durch Zivil- und Militärpersonen offen belästigt worden seien; man könne in der Schweiz nicht mehr hochdeutsch sprechen, ohne angeödet zu werden.

Dies zeigt, dass Masson den Oberkommandierenden der Wehrmacht falsch beurteilt. Der Führer führt Krieg nach strategischen Überlegungen und nimmt keine Rücksicht auf die Volksstimmung.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm 

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne,12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv   

Beitrag vom 09.07.2023

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