21. Wieder vollzählig Aus «Staatsmann im Sturm»

Am 19. März – am Tag, nachdem Hitler und Mussolini sich am Brenner getroffen haben – findet eine fast fünfstündige Bundesratssitzung statt, an der Neuling Celio und Rekonvaleszent Obrecht dabei sind. Zur Besprechung militärischer Dinge hat Pilet den General an die Sitzung eingeladen: 

Herr Bundespräsident Pilet-Golaz entwickelt folgende Grundsätze, die seines Erachtens wegleitend sein müssen: Integrale Neutralität des Staates; Gedanken- und Meinungsfreiheit ohne jegliche Gleichschaltung. Freiheit, die in ihrer Betätigung vom schweizerischen Standpunkt durchdrungen ist und stets mit objektiver Würdigung dessen betätigt wird, was im Auslande vorgeht, wobei jegliche Beleidigung, jegliche Leidenschaft sowohl in der Presse wie im Radio vermieden werden müssen; unbedingter Wille, die Freiheit des Landes unter allen Umständen zu verteidigen. Der Rat und der Herr General schliessen sich diesen Ausführungen an. 

Pilet hat sich – so darf man annehmen – die Erklärung, die er erstmals als Aussenminister im Bundesrat abgibt, genau überlegt. Sich auf eine «sichere Quelle» berufend, berichtet der General, man befürchte in Deutschland, die Schweizer Regierung könne «angesichts einer derart deutschlandfeindlichen öffentlichen Meinung nicht neutral bleiben». Die Schweizer Presse werde im Ausland viel gelesen und könne deshalb die Meinung von gewissen Ländern wie Rumänien oder Jugoslawien, aus denen Deutschland einen Teil seiner Rohstoffe beziehe, beeinflussen:

Es ist klar, dass unsere Presse ein gefährliches Spiel spielt, wenn sie von den Gegnern Deutschlands zu Propagandazwecken verwendet werden kann. Viele Schweizer schreiben mir im gleichen Sinn und verlangen sogar die Vorzensur.

Es sei eine allzu verbreitete Meinung, dass die Haltung unserer Presse und öffentlichen Meinung keinen Einfluss auf die Sicherheit des Landes habe. «In dieser Illusion zu verharren könnte uns teuer zu stehen kommen.» Guisan teilt die von Masson beharrlich vertretene «Blutschuldthese». Im Anschluss an die Diskussion beschliesst der Bundesrat, dass die Abteilung Presse und Funkspruch bei der Armee bleibt. Aber: 

Der Bundesrat behält von sich aus oder auf Antrag eines seiner Mitglieder die Befugnis, sich mit einer bestimmten Angelegenheit zu befassen und selbst einen Entscheid zu treffen, wenn die Wichtigkeit des Falles vom diplomatischen Standpunkte aus oder mit Rücksicht auf die allgemeine Politik dies rechtfertigt.

Zum Autor

Schriftsteller Hanspeter Born

 

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997);Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

In seiner nächsten Sitzung behandelt der Bundesrat den ersten wichtigen Spionagefall seit Beginn des Kriegs. Im Januar ist der 65-jährige Journalist und Oberstbrigadier a. D. Dr. phil. Arthur Fonjallaz verhaftet worden. Die gerichtliche Voruntersuchung ergab, dass Fonjallaz ein Agentennetz aufgezogen und Nachrichten zum Nachteil von Frankreich und England an den deutschen Nachrichtendienst übermittelt hat. Bei Fonjallaz’ Verhaftung sind eine Menge von Aktenstücken konfisziert worden, darunter seine gesamte Korrespondenz mit dem Schweizer Nachrichtenchef Oberst Masson. Darunter befand sich ein Brief Massons vom 25. Oktober 1939, in dem dieser sein Interesse an einer von Fonjallaz geplanten Reise nach Süddeutschland und seinen dort gemachten Beobachtungen bekundete. Es ging Masson um «die Dichte der Truppen zwischen der Schweizer Grenze und München (wenn möglich Zusammensetzung und Identifizierung)», und mehr allgemein um den «materiellen und geistigen Zustand der Bevölkerung sowie die verschiedenen politischen Strömungen in Deutschland.»

Als mögliche strafbare Handlung – «zum mindesten ein Versuch der Verletzung militärischer Geheimnisse» – sehen die Untersuchungsbehörden das Mitnehmen seiner Korrespondenz mit Masson nach Deutschland. Weiter heisst es im Sitzungsprotokoll des Bundesrats:

Ein Ausspähen und Weitergeben militärischer Geheimnisse an das Ausland liegt darin, dass Fonjallaz über den im Dienste der Nachrichtensektion stehenden Hauptmann Hausamann, insbesondere über sein Verhältnis zum Exchange Telegraph Erhebungen durchführte und hierüber nach Deutschland berichtete oder dort anlässlich der durch seine Verhaftung unterbrochenen Reise berichten wollte.

Pilet kennt seinen Waadtländer Landsmann Fonjallaz. Nach einer raschen militärischen Karriere trat dieser im Streit aus der Armee aus, dozierte dann an der ETH und machte unglückliche Geldgeschäfte. Ursprünglich Mitglied der Bauernpartei, gründete er in Rom die «Schweizerische Faschistische Bewegung» und lancierte die Volksinitiative gegen die Freimaurerei, für die im Nationalrat nur der Frontist Tobler und Gottlieb Duttweiler stimmten und die vom Volk wuchtig verworfen wurde.

Pilet hat den faschistischen Oberst nie ernst genommen. Schon 1934 liess er gegenüber Feldmann die Bemerkung fallen, es sei kein Wunder, dass Fonjallaz in einer Irrenanstalt zur Welt gekommen sei, wo seine Mutter eingewiesen worden war. Nachdem die Spionageaffäre aufflog, bemerkte Pilet – wiederum zu Feldmann –, wenn Masson sich von Fonjallaz wirklich fahrlässig habe brauchen lassen, «sei er allerdings ein schlechter Nachrichtenchef».

Propaganda – geistige Landesverteidigung – wird immer wichtiger. Mit Stolz und Wehmut erinnern Redner im Parlament an die grossartige «Landi», als sich ein einig Volk seiner Geschichte, seiner Bräuche, seiner Errungenschaften und Leistungen bewusst wurde. Wie können Geist und Mut hochgehalten werden, wenn die Eintönigkeit des Aktivdienstes, die Trennung der Väter und Söhne von den Lieben, die Störungen von Handel und Geschäftsleben die Stimmung trüben? Nach dem Willen des Bundesrats sollen patriotische Veranstaltungen und Vorführungen die Öffentlichkeit bei Laune halten.

In der ersten Aprilwoche wird der mit Unterstützung des Militärdepartements gedrehte Film «Die Schweiz in Waffen» von Hauptmann Hans Hausamann, Fotounternehmer und Nachrichtenoffizier, vorgestellt. «Didaktisch und mit der unseren Confédérés lieben Genauigkeit und Gründlichkeit» – so leicht spöttisch die Gazette – wird darin unsere Armee von den Rekrutenschulen bis zu den Wiederholungskursen, von der Infanterie bis zur Luftwaffe vorgestellt. Der Film ist lang, nach «unverbesserlich welschem Geschmack» – goût de «Welche» impénitent – enthält er zu viele wortreiche Vorträge:

Hier das Défilé einer Infanterieeinheit, Musik an der Spitze. An den Fenstern der benachbarten Schule drängen sich die Kinder, um die Soldaten zu beklatschen. Der Lehrer, ein Aktivdienstler, benützt die Gelegenheit, um an die berühmten Daten der helvetischen Geschichte zu erinnern und zu bestätigen, dass unsere militärische Vorbereitung es unserem Volk gestattet hat, «sein Recht auf Leben und Unabhängigkeit zu bewahren».

Fraglich, ob der Film ein ähnlicher Renner wird wie das gleichzeitig in Lausanner Kinos laufende englische Rührstück Au revoir M. Chips oder die neuste Disney-Trickfilmsammlung La grande parade. Einen «Triumph!» (Gazette) hingegen feiert im Berner Kursaal Schänzli die Erstaufführung des dramatischen Singspiels La Gloire qui chante von Gonzague de Reynold, in dem anhand alter Soldatenlieder «in grossen Zügen die Geschichte der Schweiz und der Schweizer» auflebt. Die von Soldaten einer jurassischen Brigade aufgeführte Neufassung des Werks von 1920 «ist von einem ausserordentlichen Hauch beseelt, der einem im Laufe des Abends immer wieder die Tränen an den Rand der Augenlider treibt». Langanhaltender Beifall der anwesenden Bundesräte Pilet, Etter, Minger, des Generals und der «höchsten militärischen, politischen, musikalischen und literarischen Persönlichkeiten bis zu den extra hergereisten ausländischen Journalisten». Zuvor konnten die Berner ein von einem berittenen Militärspiel angeführtes militärisches Défilé bestaunen. Begeisternder Applaus für General Guisan, hoch zu Ross.



«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm 

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne,12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv  

Beitrag vom 11.06.2023

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