Eine Woche auf Tiktok
Im Auftrag des Magazins «Beobachter» erstellte ich im vergangenen Herbst ein Konto für meinen Hund Pankraz und war eine Woche auf Tiktok unterwegs. Ziel war es, ihn zum Star zu machen. Kein einfaches Unterfangen, aber ein erhellendes und gleichzeitig ernüchterndes.
Text: Marc Bodmer
Tag 1
Ich erstelle das Tiktok-Konto für meinen Hund Pankraz und stelle auch gleich das erste Video online. Reaktionen bleiben aus. Zum «Trost» abonniere ich die Beiträge von Tom Cruise, schiesslich muss ich eine Referenz haben.
Unterwegs auf Tiktok fallen mir schnell die Comedy-Clips auf. Ein Wort: ernüchternd. Nur weil jemand eine Kamera hat, sollte er oder sie sich nicht zum Chefkomiker berufen fühlen. Das ist ein knochenharter Job. Die Möchte-gern-Spassmacherinnen werden dicht gefolgt von bis an den Anschlag operierten und gespritzten Damen, die entweder lustig sein wollen oder ihre Brüste in der Gegend herumschaukeln. In der Hoffnung, dass sich die Auswahl verbessert, abonniere ich verschiedene Kochvideo-Kanäle.
Der Algorithmus macht sich schnell bemerkbar und schiebt Kochvideos nach, 2 Likes hat das Dudelsack-Video mit Pankraz auch erhalten. Noch keine Followers. Unter den Empfehlungen erscheint noch nichts. Der Prozentsatz an gespritzten Schlauchbootlippen ist erschreckend. Wie bei einem Unfall tue ich mich schwer, nicht hinzuschauen. Die Videos sind lokalisiert und Schweiz- und Deutschland-lastig.
Kurz bevor ich zu Bett gehe, hat das Video sechs Likes erhalten. Ich versuche aus den mir vorgeschlagenen Themen eines zu finden, das mir zusagt. Fehlanzeige.
Tag 2
Das Video hat 14 Likes, aber immer noch keine Followers, sprich Abonnenten oder Abonnentinnen, die den «Abenteuern» von Pankraz folgen möchten. Ich richte Tiktok auf dem iPad ein. Tiktok will Zugriff auf meine Kontakte, was ich aber verweigere. Stattdessen abonniere ich weitere Online-Köche und lade ein neues Pankraz-Video hoch samt Musik und mit diversen #-Referenzen versehen.
Trotz meiner Vorliebe für Kochvideos schlägt mir Tiktok auffallend viele Videos mit Damen vor, die ihr Hinterteil schütteln. Auf Amerikanisch nennt man das «twirken». Silikonisierte Brüsten und Lippen scheinen im Trend zu liegen. Gaffe ich weitere Clips dieser Wunderwelten der plastischen Chirurgie an, merkt das der Algorithmus und schlägt mehr solche vor.
Gegen Abend wurde das erste Video 487 Male angeschaut, das zweite über 170 Male und ein drittes findet mit fast 60 Clicks auch Anklang. Ich habe die Clips von einer gutaussehenden Karate-Kämpferin abonniert. In der Flut von Comedy-Clips stosse ich auf einen Typen, der zwei chinesische Restaurants gleichzeitig angerufen hat. Diese unterhalten sich nun gegenseitig über die zwei Handys, die mit eingeschalteten Lautsprechern einander gegenüberstehen. Wirklich lustig.
Eine Freundin erzählt mir von ihrer achtjährigen Patentochter, die zusammen mit ihren Kolleginnen immer wieder auf Tiktok unterwegs ist und bereits erste Anzeichen entwickelt, dass sie mit ihrem Körper nicht zufrieden ist. Die leicht abstehenden Ohren helfen nicht. Sie wird deswegen auch gehänselt. Auffallend in diesem Kontext ist die Normierung der Schönheit auf Tiktok. Für Frauen heisst das: grosse Brüste, gepumpte Lippen und Bleistiftnase. Bei den (jungen) Männern: superfit, Waschbrettbauch, perfekt sitzende Frisur, strahlendes Lächeln.
Aus meiner Jugendzeit kenne ich die Erwartungshaltung, dass man dem Mainstream entsprechen sollte. «Man trägt Jeans.» Oder: «Solche Pullover sind total aus der Mode.» Oder: «Kennst du denn diese Musikgruppe nicht? Die sind super.» Oder was immer gerade das Diktat der Stunde war. Diese aufgebrezelten Frauen zu sehen und das männliche Pendant wecken Erinnerungen. Der grosse Unterschied: Der Konformitätsdruck ist global. Über Tiktok wird – wie durch die anderen (a)sozialen Medien – die Botschaft verbreitet: Das sind die Ideale, so musst du auch aussehen, wenn du Erfolg haben möchtest.
Tag 3
Auf Tiktok sind Kürzestvideos zu sehen: 15, 60 und 180 Sekunden schnell. Das hat etwas Attraktives. Die Macher müssen/sollten sich auf das Wesentliche konzentrieren. Es gelingt in seltenen Fällen. Ich habe ein Gefühl der Macht, wenn ich das Video einfach wegwischen kann, das jemand vielleicht mühsam erstellt hat. Es ist einfach nicht gut genug. Daumen runter. Fort damit.
Während ich mich durch die Flut von Videos und Eindrücken wische, geschieht etwas Erstaunliches. Ich optimiere meine Auswahl laufend. Ich bin stets getrieben vom Gedanken, dass es eine noch attraktivere Tänzerin oder Fitnessinstruktorin, einen besseren Koch gibt als die, die ich bereits abonniert habe. Der Feind des Guten ist das Bessere. Erschreckend dabei ist, dass durch diese laufende Optimierung auch mein Anspruch steigt. Nichts scheint mehr zu genügen, weil es wohl immer noch etwas Perfekteres geben muss. Wenn man das in den alltäglichen Kontext setzt, hat das toxische Konsequenzen, die sich auf den Umgang mit dem unmittelbaren sozialen Umfeld auswirken können.
Heute wäre mir fast das Porridge angebrannt, weil ich meiner Frau das lustige Video mit den beiden keifenden chinesischen Restaurantbesitzern gezeigt habe. Tiktok liefert endlos Konversationsobjekte, wobei sich diese dann schnell in die Richtung «Hast du das, dies, jenes gesehen?» entwickeln und damit an der Oberfläche bleiben.
Tag 4
Der Erwartungsdruck an meine Beiträge steigt. Ich möchte, dass mein Hund ebenso viele Followers hat wie Tom Cruise oder zumindest die putzigen Flughörnchen. Was muss ich machen, damit ich bzw. er mehr Aufmerksamkeit erhält? Ich muss extremer werden, nur so schaffe ich es aus der Masse zu treten. Doch kann sich mein geliebter Hund mit einem Schäferhund messen, der via Baumstamm sich in fünf Metern Höhe an einen Beissring hängt?
Die Kochvideos sind teils inspirierend. Wenn ein Koch ein Rosenkohl-Rezept vorstellt, dann lohnt es sich schon hinzuschauen, ist es doch ein schwieriges Gemüse.
Die Zeit, die beim Swipen vorbeigeht, ist beträchtlich. Schnell sind zehn Minuten vorbei und man hat den Eindruck gar nicht vorwärts gekommen zu sein. Wer Tiktok öffnet, wird gleich von einem Strom aus Videos bestürmt wie auf Instagram. Da ist nicht wie bei Youtube eine Auswahl zu treffen, sondern «Bam!» – es geht gleich los. Hektisch, dynamisch. Ich bleibe bei einem 52-jährigen Franzosen hängen, der ein Six-Pack hat, das Fussballstar Ronaldo erblassen liesse. Wird abonniert. Und schon wieder sind zehn Minuten verstrichen, und bei mir gärt ein schlechtes Gewissen, dass ich des dem Franzosen gleichtun sollte.
Neuer Clip gepostet mit Pankraz, der durchs Wasser watet, mit Musik unterlegt.
Am Abend entdecke ich die Live-Funktion, bei der man mit den Gastgeberinnen/-gebern (hosts) über Chat direkt interagieren kann. Das ist gewöhnungsbedürftig, weil es unangenehm ist, mitzuerleben, wenn die Gastgeberin angegriffen wird, wenn auch nur verbal. Es gibt aber auch die Möglichkeit, Geschenke zu übermitteln. Dafür erhalten die Hosts «Diamanten», die zum einen zeigen wie beliebt sie sind, zum anderen eingetauscht werden können gegen richtiges Geld.
Tagesbilanz: 13 Followers. 93 Likes. 39 Abos. Das lustigste Video Nr. 3 stagniert. Pankraz im Wasser aber verfängt. Es wurde 946 Mal angeschaut. Warum? Keine Ahnung. Tiktok-Zeit: 122 Minuten
Tag 5
Keine Zeit für Tiktok. Ich abonniere schnell einen Kanal mit einem Spinnenäffchen, das zusammen mit einem Dogo Argentino, einer Harlekin Dogge und einem Baby Argentino wohnt. Ich bewundere die Geduld der Hunde im Umgang mit dem Affen. Sie werden ihrem üblen Ruf als Kampfhunde überhaupt nicht gerecht, sondern zeigen vielmehr, dass der Besitzer das Problem ist und nicht der Hund.
Tag 6
Ich war übers Wochenende unterwegs und habe Tiktok nicht vermisst. Daür habe ich aber mit der 11-jährigen Tochter von Freunden über Tiktok gesprochen. Sie selbst hat noch kein Handy, aber ihr sechs Jahre älterer Bruder, der sehr aktiv auf dem Smartphone unterwegs ist, macht sich Sorgen, dass sich seine Schwester unter Druck gesetzt fühlen könnte wegender Tiktok-Clips. Er hat sie auch schon präventiv darauf hingewiesen, dass sie überhaupt nicht so sein muss, wie die Mädels auf Tiktok.
Auch ein anderer 15-Jähriger ist skeptisch gegenüber dem sozialen Netzwerk und hat sich selbst ein Tiktok-Verbot während der Schultage auferlegt. Er ist nur an Wochenenden oder in den Ferien dort unterwegs. Er findet, dass es sehr viel Zeit braucht, die bestimmt sinnvoller eingesetzt werden könnte.
Tag 7
Neues Pankraz-Video hochgeladen mit Musik und Titel «Down we go», auf dem der Hund eine Kinderrutschbahn heruntergleitet.
Am Abend hat der Clip noch keine Klicks.
Tag 8
Der letzte Tag meines Tiktok-Experiments. Das neue Video hat immer noch keine Klicks. Ich frage mich, ob der Algorithmus mich abstraft, weil ich übers Wochenende keine grosse Aktivität gezeigt habe.
Ein paar Stunden später hat sich immer noch nichts getan. Was ist los? Habe ich etwas falsch gemacht? Ich bin aber auch verunsichert, wenn ich mir die Fitness-Clips anschaue. Da gibt es verschiedene Muskelmänner, die propagieren, dass man voll in die Hocke gehen soll, um die Beine zu trainieren. Bis dato und auch bei meinem Turn-Club wird immer betont, dass die Knie nicht weiter vorgelagert sein sollten als die grosse Zehe. Was stimmt nun? Ich halte mich an das bisherige, da mache ich bestimmt nichts falsch.
Am Nachmittag hat das Hunde-Video immer noch niemanden interessiert. Dafür erhalte ich von Tiktok den Hinweis, dass ich die Funktion «Q&A» aktivieren könnte, um Kommentare bei meinen Videos zuzulassen. Ich habe den Verdacht, dass Tiktok will, dass diese Funktion aktiviert wird, um die Bindung zu verstärken. Ich aktiviere die Funktion. Mal schauen, was passiert.
Nichts. Es kommt mir vor, als würde ich abgemahnt für meine Inaktivität.
Fazit:
Tiktok ist ein riesiger Fomo-Generator (Fear of missing out). Die Angst, etwas verpassen zu können, ist gross. Das kurze Format, das endlose Scrollen verleiten dazu, dass man immer wieder online geht, um «alles» zu sehen. Man will ja schliesslich mitreden können. Der Druck hängt von der Relevanz von Tiktok im Umfeld ab, in der sogenannten Peer-Gruppe. In meinem Alterssegment nutzt kaum jemand Tiktok. Das relativiert den Erwartungsdruck sehr.
Wenn ich aber die Situation der Teenager anschaue, die der ständigen Optimierung und Normierung von Schönheitsidealen und den Fitness-Herausforderungen ausgesetzt ist, sieht die Sache ganz anders aus. Hier wird ein erheblicher Erwartungsdruck aufgebaut, der dazu führen kann, dass man sich minderwertig fühlt.
Selbst bei mir machte sich nach dieser Woche eine gewisse Enttäuschung breit. Es ist, als hätte Tiktok mich oder besser gesagt Pankraz’ Profil vergessen. Seit 24 Stunden hat sich nichts mehr getan. Das jüngste Video hat keinen einzigen Klick zu verzeichnen und die 1000er Grenze haben wir auch nicht durchschlagen. Ich sehe ein, dass Pankraz in Sachen Beliebtheit es nicht Tom Cruise und den silikonisierten Ladys aufnehmen kann. Doch im Vergleich zu diesen Herrschaften definieren wir uns nicht über Tiktok und konnten das Konto gelassen löschen.
- Haben Sie auch schon Erfahrungen mit Tiktok gesammelt? Oder benutzen Ihre Enkelinnen oder Enkel Tiktok? Erzählen Sie uns doch davon. Wir würden uns freuen!