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Ministry of Climate Change 29. Juni 2022

Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag. Heute: vom verlorenen Paradies.

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Wir fahren mit dem Glasbodenboot zu den kleinen Inseln, die Victoria – der Hauptstadt der Seychellen – vorgelagert sind. Es ist ein richtiger Touristenausflug: Schnorcheln über dem Riff, Mittagessen auf der «Ile Moyenne», Baden am Strand der «Ile Ronde». Das Boot verlangsamt seine Fahrt, die Touristen starren aufgeregt durch die im Boden eingelassenen Fenster. Nichts ist zu sehen. Die Crewmitglieder verteilen Toastbrot. Kleine Stückchen werden ins Wasser geworfen, ein Schwarm Zebrafische schnappt danach. Das Touristenvolk ist entzückt. Über dem Riff stoppt das Boot. Maske, Schnorchel und Flossen werden verteilt. 

Ich bleibe an Bord. Ich will mir die wenigen Fische in der kaputten Korallenlandschaft nicht ansehen. Schnorcheln und Tauchen waren vor mehr als vierzig Jahren mein Freizeitvergnügen. Die Erinnerung daran hüte ich als kostbaren Schatz: Wie in einem Riesenaquarium hatte ich mich unter den unzähligen Clown-, Anemonen-, Falter- und Papageienfischen getummelt. Mit ihren verschiedenen Formen und Farben glich die Korallen-Landschaft einem Blumengarten, der von grossen und kleinen Schnecken und Muscheln, Seesternen, Tintenfischen und allerlei Krebstieren bewohnt war. Vor Muränen, Haifischen und den giftigen Steinfischen nahm ich mich in Acht. Einmal sah ich drei Manta-Rochen. Wie in einem langsamen Tanz bewegten sie sich durch das Wasser. Sie berührten mich so sehr, dass mir die Tränen kamen.

Klimawandel und Tourismus haben der Unterwasserlandschaft zugesetzt. Rund um die Hauptinsel sind die Korallenriffe ausgebleicht und die bunte Flora und Fauna ist verschwunden. Plastik und Wegwerfartikel haben längst Einzug gehalten. Um zahlreiche Häuser herum motten ausgediente Kühlschränke, Waschmaschinen und Klimaanlagen vor sich hin, an anderen Orten stapeln sich leere Pet-Wasserkanister. Die Regierung versucht, die Inselbevölkerung für Nachhaltigkeit und Artenvielfalt zu sensibilisieren. Im Fernsehen wird sie aufgerufen, am kommenden Wochenende ihren Sperrmüll an den Strassenrand zu stellen, wo er gratis abgeführt wird. In der Schule ist Umweltschutz ein ständiges Thema.

An unserem letzten Sonntag besuchen wir den Botanischen Garten am südlichen Stadtrand. Im sechs Hektar grossen Gelände finden sich ein Gehege mit einheimischen Riesenschildkröten und eine Vielzahl von tropischen Pflanzen, die nur auf den Seychellen vorkommen. Die berühmteste ist die «Coco de Mer», die grösste Kokosnuss überhaupt. Lange galt sie als Aphrodisiakum – der männliche Blütenstand und der Po-förmige Samen befeuern noch heute die Phantasie. Neben dem Botanischen Garten befindet sich das Ministerium für Umwelt, Energie und Klimawandel. «Ministry of Environment, Energy and Climate Change» steht neben dem Eingangstor.

Ob es sonst noch irgendwo auf der Welt ein Klimawandel-Ministerium gibt? Die Seychellen jedenfalls sind von der nahenden Klima-Katastrophe direkt betroffen. Mehr als die Hälfte der 115 Inseln sei vom Untergang bedroht, warnte Präsident Wavel Ramkalawan Ende letzten Jahres im deutschen ZDF: «Es geht für uns ums Überleben, um unsere Existenz. Wir spüren die Auswirkungen dessen, was in den Industrienationen geschieht und womit diese ihre Milliarden erwirtschaften. Beim Klimawandel sind wir hier die Opfer.»


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Beitrag vom 29.06.2022

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