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Carmen im Kino 29. Januar 2024

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von ersten Erinnerungen und einem Opernbesuch im Filmtheater.

Usch Vollenwyder
© Jessica Prinz

Zu meinem Geburtstag hat mich mein Mann in die Metropolitan Opera eingeladen. Nein, nicht nach New York, aber doch nach Luzern. Dort wird im Filmtheater im Verkehrshaus die Oper Carmen von Georges Bizet gezeigt. Da die Direktübertragung bis 23 Uhr dauern soll, bekomme ich eine Übernachtung im historischen Hotel Rebstock mitgeschenkt. Ich freue mich auf das Wiedersehen mit früheren Freunden bei der traditionellen Lozärner Chügelipastete, auf die Oper am Abend und auf das reichhaltige Frühstück am nächsten Morgen. Ich freue mich auf Luzern, denn Luzern ist meine Geburtsstadt. Vielleicht gefällt sie mir deshalb so gut.

In der St. Anna-Klinik bin ich vor 72 Jahren auf die Welt gekommen. Mein Vater soll dabei gewesen sein. Das kann ich mir ja überhaupt nicht vorstellen. An meine ersten Kindheitsjahre in Luzern habe ich nur fernste Erinnerungen. Ich weiss noch, dass mein kleines Herz jeweils überquoll vor Mitleid mit dem sterbenden Löwen auf dem Denkmal in Luzerns Zentrum. Ich erinnere mich auch noch an eine dunkle Parterrewohnung – und wie mich meine Mutter einmal kurzerhand zum Fenster herein hob, als ich aus Angst vor einem drohenden Gewitter nicht mehr zum Eingang zu laufen wagte. Und ich höre die Stimme meiner Mutter, wie sie den Anfang des damaligen Gassenhauers «Auf in den Kampf, Tore-e-e-ero» vor sich hinsang.

Meine Mama hatte eine grosse Herzensbildung, aber kaum eine Schulbildung genossen. Im kleinen Walliser Weiler, indem sie aufgewachsen war, hatte sie bestimmt nie etwas von Georges Bizet und seiner berühmtesten Oper Carmen – aus der diese Zeile stammt – gehört. Zudem liebte sie Jodeln und bestimmt keine Opernmusik. Aber «Auf in den Kampf, Tore-e-e-ero» war ihr Motto, wenn es ein Problem zu lösen galt. Natürlich denke ich an sie, als ich mich im weichen Sessel vor der grössten Leinwand der Schweiz zurücklehne und die Stierkampf-Melodie schon in der Ouvertüre erklingt. Dann werde ich von der Musik fortgetragen.

Zwischen den einzelnen Akten und in der Pause schwenken die Kameras in den Saal und hinter die Bühne. Von Luzern aus schauen wir den Mitarbeitern in New York zu, wie sie das Bühnenbild ab- und umbauen. Wir sehen die Zuschauerinnen und Zuschauer, wie sie in der Pause den grossen Saal des Opernhauses verlassen. Andere bleiben sitzen, zücken das Handy oder plaudern mit den Sitznachbarn. Einige haben eine Maske auf, viele sind opernmässig elegant gekleidet, andere tragen Jeans und Pulli. Der Gedanke fasziniert mich, dass in anderen Städten und Ländern ebenfalls Menschen in Kinosälen sitzen und sich im gleichen Augenblick von der gleichen Musik verzaubern lassen. Ich fühle mich wohl und seltsam verbunden mit diesem weltweiten Publikum.

Applaus brandet den Sängerinnen und Sängern entgegen, als sich der Vorhang in der Metropolitan Opera schliesst und wieder öffnet. Hand in Hand stehen sie auf der Bühne, lachen, winken und verbeugen sich – in den Hauptrollen ein polnisch-schweizerischer Tenor, ein amerikanischer Bariton, ein chinesischer Bass, eine afro-amerikanische Sopranistin und in der Titelrolle Aigul Akhmetshina als Carmen. Die erst 27-jährige Mezzosopranistin stammt aus der russischen Republik Baschkortostan – ich muss den Namen erst googeln, bevor ich ihn verorten kann. Die Regie führte eine Britin, und der junge Italiener Daniele Rustioni dirigierte das Orchester.

Mein Herz fliegt der bunten Truppe auf der Bühne zu. Unterschiedliche Herkunftsländer, Sprachen, Kulturen, Hautfarben. Sie halten sich an den Händen. «Es geht doch», denke ich. Was im Kleinen so selbstverständlich scheint, müsste doch auch im Grossen möglich sein.


  • Hören Sie auch hier und da Musik, die mit Erinnerungen an die Kindheit verbunden ist? Was für Gefühle löst das in Ihnen aus? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon erzählen oder die Kolumne mit anderen teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
  • Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»

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Beitrag vom 29.01.2024

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