Vom Wallis in die «Üsserschwiiz»

Geborgenheit und viel Arbeit prägten Anna-Luise «Sisy» Hofmann-Furrers Kindheit. Zusammen mit vier Schwestern wuchs sie im Vispertal im Wallis auf und lebt heute in Derendingen SO.

Kirche, Schule, schaffen – dies war der Dreiklang meiner Kindheit im Walliser Weiler «zur Tanne» in Staldenried. Auf 1100 Metern über Meer hatten wir vor dem Bau der Seilbahn anfangs der 1950er und der Strasse anfangs der 1970er Jahre kaum Kontakte mit der Aussenwelt. Erinnere ich mich zurück, lebte ich in jenen Jahren in einer Art Kokon – geborgen in der Dorfgemeinschaft und meiner Familie, in die ich 1954 als zweite von fünf Töchtern geboren wurde.

Anna-Luise «Sisy» Hofmann-Furrer aus Derendingen SO mit ihren Schwestern im Vispertal.
© zVg

Während die Männer im Tal in den Fabriken von Alusuisse oder Lonza arbeiteten, besorgten die Frauen und wir Kinder die Landwirtschaft und alles, was in Haus und Garten anfiel. Die Selbstversorgung gebot, dass alle mit anpackten, von den Jüngsten bis zu den Ältesten. Drohte ein Gewitter, arbeiteten wir Hand in Hand, bis das letzte Heu eingebracht war. Früh lernte ich, was es bedeutet, wenn man seine Pflichten vernachlässigt. Holte ich kein Holz, so froren wir. Vergass ich, die Ziege zu melken, gab es keine Milch. So wurde uns direkte und unmissverständlich erfahrene Lebensschulung zu teil.

Tröstliches Ritual

Meine Eltern, die uns viel Liebe schenkten, erlebte ich fast immer am Arbeiten. Mein Vater wäre gern Zimmermann geworden, doch dafür fehlte das Geld. So übte er seine Leidenschaft abends nach der Fabrikarbeit daheim in seiner kleinen Werkstatt aus. Er schreinerte alle unsere Möbel, flickte Dinge fürs ganze Dorf und brachte sich später auch das Drechslerhandwerk bei. Ich besuchte ihn gern in der Werkstatt und lernte in unseren Gesprächen viel von ihm. In jungen Jahren hatte er eine Weile in Zürich gearbeitet. Das hatte seinen Horizont erweitert und sein Interesse an der Welt geweckt.

Auch die Hände meiner Mutter ruhten kaum je, gab es doch im Garten, beim Einmachen, Einkellern, Kräuter- und Holzsammeln oder Kochen ständig zu tun. War im Dorf jemand krank oder lag im Sterben, holte man unsere Mutter wegen ihres grossen Wissens, auch über Heilpflanzen. Meine Grossmütter, die beide ihren Mann früh verloren und die Familie alleine durchbringen mussten, lebten ihre letzte Lebensphase bei uns in der Stube. Die Verstorbenen bahrten wir jeweils drei Tage daheim auf, damit alle im Dorf Abschied nehmen konnten. Während dieser Zeit wurde ein Rosenkranz nach dem anderen gebetet. Dieses Ritual erlebte ich als sehr tröstlich. Ich lernte so schon als Kind, dass das Ende ganz selbstverständlich zum Leben gehört.

Schwere Lasten transportierten wir in der «Tschifra», der Rückentrage. Wer viel tragen konnte, wurde gelobt und bewundert. Besonders anstrengend war es im Frühling, wenn wir die fruchtbare Erde, die der Regen das steile Gelände hinabgeschwemmt hatte, wieder den Berg hinaufbuckeln mussten. Jedes Fleckchen Garten wurde gehegt und gepflegt, trug es doch zu unserer Ernährung bei.

Während reichere Familien eine oder mehrere Kühe besassen und mit ihnen von Weide zu Weide zogen, hatten ärmere Familien wie wir eine Ziege für die Milch und pro Jahr ein Schwein für das Fleisch. Ich erinnere mich, wie ich litt, wenn unser Säuli geschlachtet wurde. Obwohl die Würste meiner Mutter als die besten im Dorf galten, brachte ich es nie über mich, selbst gemetzgetes Fleisch zu essen. Gab es sonntags Fleisch, legte mir die Mutter jeweils ein Stück Käse auf den Teller – eine Geste, die mich glücklich machte und ich ihr nie vergessen werde.

Vor der Schule in die Messe

Die Kirche und der Glaube spielten eine wichtige Rolle in unserem Leben. Jeder Tag begann mit dem Gang in die Kirche, mit einer halben Stunde Rosenkranzbeten für die Verstorbenen und dem Besuch der anschliessenden Messe. Am Sonntag, dem einzigen Tag, an dem wir Freizeit genossen, war die Kirche der Ort, wo sich unser Sozialleben ausserhalb der Familie abspielte. Auf dem Weg zum Gottesdienst und danach plauderte man miteinander und wir Kinder machten «Fangis». Am Nachmittag spielten wir oft Völkerball und die Erwachsenen sahen uns zu.

Bei schlechtem Wetter hörten wir Volksmusik am Radio und unsere Mutter brachte uns in der Küche das Tanzen bei. Diese Nachmittage liebte ich ebenso wie die Abende, wenn uns die Eltern Geschichten aus ihrer Kindheit und von unseren Vorfahren erzählten. Davon konnte ich nie genug bekommen. Auch mit den Patres der Mission aus Afrika, die uns manchmal besuchten, unterhielt ich mich gerne über ihre Erfahrungen in der grossen weiten Welt.

Im Sommer gingen wir manchmal wandern, im Winter fuhren wir Ski, die uns der Vater selbst schreinerte. Ich liebte das Skifahren sehr, aber bei der Erinnerung an die gefrorenen Zehen in den Bergschuhen, die wir trugen, klappern mir bis heute die Zähne. Die Schmerzen des «Kuhnagels» linderten nur die Bratäpfel vom Holzofen, mit denen die Mutter uns wieder auftaute.

Eine Badewanne erntet Bewunderung

Mein Vater und sein Bruder bauten anfangs der 1950er-Jahre das Doppelhaus, in dem ich aufwuchs. Dass es darin bereits eine Badewanne und eine Zentralheizung mit Holz gab, war typisch für meinen fortschrittlichen Vater und fand im Dorf Bewunderung. Davor badeten wir zwei Mal im Jahr in einem Zuber: An Weihnachten und vor Fronleichnam, um sauber und frisch frisiert an der Prozession teilzunehmen.

Schon als kleines Mädchen war es mir ein Anliegen, anderen Menschen zu helfen. Zum Beispiel einer Klassenkameradin, die in der Schule einfach nicht weiterkam und Klasse um Klasse wiederholen musste. Oder meiner behinderten Cousine, die ganz selbstverständlich in unserer verwandtschaftlichen Grossfamilie lebte und überall dabei war. Dass es einen Beruf namens Sozialpädagogin gab, wusste ich damals noch nicht. Üblich war, dass die Familien ihre Töchter zur Arbeit in fremde Haushalte, ins Spital oder ins Welschland schickten. Auch ich hatte bereits mit neun Jahren meine erste Stelle und arbeitete in den langen Sommerferien bei Bauersleuten für Speck und Käse für unsere Familie. Ab 11-jährig schickten mich die Eltern während vier Jahren den Sommer über als Haushalthilfe nach Zermatt zu einer Familie mit vier Kindern.

Nach dem Ende der Schulzeit arbeitete ich ein Jahr in Sion und anschliessend als Haushälterin in einem Geschäftshaushalt in Naters. Für meine Zukunft hatte ich jedoch andere Pläne und wollte Kindern mit Einschränkungen beistehen. Als ich von einer Schule für Behinderte hörte, wanderte ich zu Fuss nach Glis und klopfte bei der heilpädagogischen Schule an die Tür. Bald durfte ich als Praktikantin in meinen Traumberuf einsteigen. Während meine Mutter traurig war, dass mich mein Berufswunsch weg von daheim führte, unterstützte mich mein Vater von Anfang an.

Trotzdem fiel es mir schwer, meine Familie und die vertraute Umgebung zu verlassen. Die «Üsserschwiiz» empfand ich anfangs als fremd und kalt. Ich vermisste die Wärme und den direkten Umgang, den man im Wallis untereinander pflegt. Als ich meinen späteren Mann kennenlernte – einen Maler aus Zürich, der sich ebenfalls zum Sozialpädagogen weiterbildete – zogen wir nach Basel. In der Stadt war es möglich, unverheiratet zusammenzuleben, womit meine Mutter grosse Mühe hatte.

Hochzeit mit Sheriff

Bereits als junge «Erzieherin für Behinderte» – so nannte man Sozialpädagoginnen früher – konnte ich als Heimleiterin viel Verantwortung übernehmen. Nach anstrengenden Berufsjahren bereisten mein Lebensgefährte und ich Anfang der 1980er-Jahre mit einem Ford-Bus die USA. Wir entschieden uns dort zu heiraten – jedoch nicht auf die konventionelle Art, sondern ganz spontan in einem hübschen Dorf. Da wir keines fanden, suchten wir auf der Landkarte einen Ort mit einem schönen Namen: Virginia City im Bundesstaat Nevada. Die Trauung nahm der Friedensrichter vor, als Trauzeuge sprang spontan der Sheriff aus dem Nachbarbüro ein, der für die Hochzeit sogar seinen Colt ablegte. Danach speisten wir als einzige Gäste im einzigen Saloon des Städtchens und genossen den seltenen Komfort des einzigen Motels vor Ort.

Blicke ich zurück, so habe ich eigentlich drei Leben gelebt. Nach der Kindheit im Bergdorf zogen mein Mann und ich 25 Jahre lang in unserer heilpädagogischen Pflegefamilie neben unserer leiblichen Tochter sechs Pflegekinder gross. Als alle ihre Ausbildung abgeschlossen hatten, verliessen wir unser grosses Haus mit viel Umschwung auf den Jurahöhen und zügelten nach Derendingen SO.

Hier leben wir seit vier Jahren in einer geräumigen Wohnung im obersten Stock mit Lift und geniessen die Nähe zur Stadt Solothurn. Ich bildete meine heilerischen und spirituellen Fähigkeiten weiter aus, die ich bereits als Kind spürte. In meiner Praxis biete ich Meditationen und Massagen an und stehe Menschen als «Seelenbegleiterin» im Leben und im Sterben zur Seite. Diesen dritten Abschnitt nenne ich mein «Dessert-Leben». Der Existenzkampf, der mich seit meiner Kindheit prägte, ist vorbei. Dank der AHV kann ich einfach das tun, was mir Freude macht.

Aufgezeichnet von Annegret Honegger


  • Weitere Erinnerungen der Zeitlupe-Leserinnen und -Leser finden Sie in der Rubrik Anno dazumal.
Beitrag vom 20.02.2024

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