Ein Leben mit allen Sinnen

Die Leidenschaft fürs Tanzen und fürs Unterrichten prägt das Leben von Lilo Elias-Seiler aus Zürich. Heute helfen ihr Gedichte, das Singen, Freundschaften und die Meditation, den Alltag zu meistern.

Vielleicht habe ich bereits im Bauch meiner Mutter getanzt. Das Bedürfnis, mich zu Musik zu bewegen, spürte ich schon ganz früh. Wie ein kleines Zebra oder Kamel, das – kaum geboren – aufstehen und auf seinen zittrigen Beinchen laufen kann.

Als kleines Mädchen durfte ich am Konservatorium Zürich die musikalisch-rhythmische Früherziehung bei Mimi Scheiblauer besuchen, einer Pionierin ihres Fachs. Wenn wir zu Musik improvisierten, blühte ich richtig auf. Beim Tanzen war ich ganz bei mir, ganz ich selbst.

Die Tage mit den Tanzstunden waren mir die liebsten der Woche. Zuhause übte ich stundenlang vor dem Spiegel. Ich liebte es auch, mich zu kostümieren, Theater zu spielen, oder in den Worten meiner Eltern «de Löli» zu machen. Herr Kupfer, mein Sechstklass-Lehrer, sagte mir eine Karriere beim Cabaret Cornichon voraus: «Aus dir wird sicher einmal eine Trudi Schoop.»

Kein Beruf für eine junge Frau aus gutem Hause

Daheim mahnte man mich ständig, stillzusitzen und mich zu benehmen. Meine Eltern hatten klare Vorstellungen, was richtig war und was falsch. Oft passte ich da mit meiner Wildheit und meinem Bewegungsdrang nicht ins Bild. In der Kunst zählte nur das Klassische. Tanzen hingegen hielten Mutter und Vater für unseriös, für verrucht und anstössig.

Als ich ein Engagement als Elevin am Stadttheater Luzern annahm und die Schule verliess, entzogen mir meine Eltern ihre Unterstützung. Tänzerin als Beruf? Unvorstellbar für ein junges Mädchen aus gutem Hause, Tochter eines ETH-Professors und einer klassischen Sängerin. So hauste ich in einem kleinen Kämmerlein und lebte mehr schlecht als recht von meinem Monatslohn von 75 Franken.

Ich litt unter dem Bruch mit meinen Eltern, aber vielleicht war ihr Widerstand auch wichtig. Er spornte mich an, es erst recht alleine zu schaffen. Als Friedensangebot lud ich sie zum ersten Ballettabend ein, bei dem ich auftrat. Bis heute weiss ich genau, welche Schritte ich damals tanzte. Und wie meine Eltern endlich verstanden, dass das, was ich liebte, etwas Schönes war. Das bedeutete mir viel.

So erfüllte sich mein grosser Traum: Eine Ausbildung an der «Sigurd Leeder School of Dance» in London, zu jener Zeit «the place to be» für Modern Dance. Denn diese Form des Tanzes faszinierte mich: weg vom Spitzentanz, weg von der Leichtigkeit, vom Streben nach oben – hin zum Ausdruckstanz mit Power, zur Schwerkraft und zum Boden, der einen trägt.

London nach dem Krieg war ein Schock für mich als 17-Jährige aus der verschonten Schweiz. Die Stadt war völlig zerbombt, Lebensmittel gab es nur mit Marken, für alles musste man Schlange stehen. Was litten wir Hunger bei unserem strengen Training! Aber die Schule war genau, was ich mir gewünscht hatte: mit jungen Leuten aus aller Welt zu tanzen, die ebenso besessen waren von ihrer Leidenschaft wie ich.

Tanzen ist Schwerstarbeit

Das «feu sacré», das in uns loderte, liess uns die Strapazen ertragen, die die Ausbildung als Tänzerin und Tänzer mit sich bringt. Denn so leicht es aussehen mag: Tanzen ist Schwerstarbeit. Und es verlangt eine körperliche und seelische Robustheit, die mir wohl nicht gegeben war. Immer wieder erlebte ich während meiner Karriere gesundheitliche Einbrüche. Meine Grenzen anzunehmen, lernte ich erst später. Damals biss ich auf die Zähne, lächelte und tanzte weiter.

Lilo Elias-Seiler als Seeräuber-Jenny in Brechts Dreigroschenoper

Lilo Elias-Seiler als Seeräuber-Jenny in Brechts Dreigroschenoper © zVg

Mit 22 heiratete ich einen Bühnenbildner und Regisseur, der genauso fürs Theater brannte wie ich. Wir wollten unseren eigenen kreativen Weg gehen und mehr als bloss Klassiker nachspielen. Gemeinsam stellten wir Aufführungen mit Laien und jungen Menschen auf die Beine, bis hin zu grossen Produktionen wie die Tellspiele in Interlaken oder das Welttheater in Einsiedeln.

Das Foto von mir als Seeräuber-Jenny in Brechts Dreigroschenoper entstand wohl in jenen Jahren. Wo, weiss ich nicht mehr genau, manchmal verschwimmen die Erinnerungen. Doch wenn ich das Bild betrachte, spüre ich sofort wieder das Fieber jener Zeit, die Spannung und die Faszination der Bühne, die ich bis heute so liebe. Aber auch das Sich-Verausgaben bis zur Erschöpfung. Tanzen ist nicht nur ein Beruf, sondern eine Berufung – für die viele einen hohen Preis bezahlen.

Als man mich anfragte, am Zürcher Schauspielhaus und Opernhaus als Choreografin einzuspringen, wechselte ich hinter die Kulissen. Und an der Schauspielakademie entdeckte ich meine Leidenschaft fürs Unterrichten. Vierzig Jahre lang gab ich als Dozentin für «Wahrnehmungsschulung» angehenden Schauspielerinnen und Schauspielern weiter, was ich über Bewegung und den Körper gelernt hatte. Meine Methode verband meine Erfahrung als Tänzerin mit meinem Wissen über Körperarbeit, wie sie etwa Elsa Gindler und Heinrich Jacoby oder Moshé Feldenkrais lehrten.

Wahrnehmen mit allen Sinnen

Sensory Awareness nennt man heute, was früher mein Ziel war: die bewusste Wahrnehmung mit allen Sinnen. Je stärker sich Schauspielerinnen und Schauspieler ihrer Körperlichkeit gewahr sind, je wacher sie hören, schauen, riechen, schmecken und tasten, desto intensiver und authentischer wird ihr Spiel. Heute reden alle von Achtsamkeit, von Yoga und Meditation. Damals war das aufregendes Neuland.

Hunderte von Schülerinnen und Schülern durfte ich unterrichten und auf ihrem weiteren Weg begleiten. Wie so viele, die im Bewegungsbereich tätig sind, arbeitete ich bis weit über die Pensionierung hinaus. Die Arbeit an und mit Körper und Geist lassen mich bis heute nicht los, wo ich weit über neunzig bin und nur noch in meinen Gedanken und Erinnerungen tanzen kann.

Umso dankbarer bin ich für Texte und Gedichte, die mir immer wieder den Weg zum Wesentlichen und in die innere Stille weisen. Das Singen, mit dem ich mit über siebzig begonnen habe, tut mir wohl. Wie auch das Zusammensein mit meiner Englisch- und Meditationsgruppe, die mich seit meinem Umzug im Altersheim besuchen. Das ist ein Geschenk.

Ich vermisse meine eigene Wohnung, aber bin dankbar, wie gut wir hier umsorgt werden. Auch dieser neue Lebensabschnitt ist voller Herausforderungen, an denen es zu wachsen gilt. Ich staune einmal mehr, wie verschieden die Menschen und ihre Lebenswege sind, und wie schwer die Schicksale, die so viele so gut meistern. Oft denke ich dann an diese wunderbaren Sätze aus Shakespeares «Hamlet», kurz bevor der Vorhang fällt: «The readiness is all. The rest is silence.» Bereitsein ist alles. Der Rest ist Schweigen.

Aufgezeichnet von Annegret Honegger


  • Weitere Erinnerungen der Zeitlupe-Leserinnen und -Leser finden Sie in der Rubrik Anno dazumal.
Beitrag vom 21.03.2024

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