Indien, meine zweite Heimat

Ann Mantel kam 1932 in Bombay zur Welt und verbrachte ihre Kindheit im britisch beherrschten Indien und in der Schweiz. Wegen der vielen Umzüge wurde sie früh selbstständig. Heute lebt sie in Flims und spricht manchmal englisch, so wie früher.

Der Rauch vieler kleiner Feuer, die neblige Morgen- und Abendlandschaft, das Gekrächze der unzähligen Krähen – an diese Gerüche, Bilder und Klänge erinnerte ich mich sofort wieder, als ich mit meinem Mann Willy auf Geschäftsreise Indien besuchte. Es sind Eindrücke aus meiner frühen Kindheit, die ich in Bombay verbrachte.

Auch den Duft frischgebackener Chapatis rieche ich bis heute. Als Kinder genossen wir das Fladenbrot noch warm und dick mit Butter bestrichen. Dawood Khan, der langjährige oberste «Diener» meiner Familie, der auf dem Foto aus den 1930er Jahren zu sehen ist, war für meine ältere Schwester Dina und mich fast wie ein Kindermädchen. Er nannte uns seine «chota babas», seine kleinen Kinder. Eigene Kinder hatte er keine. Wenn er uns morgens weckte und die Moskitonetze hochzog, brachte er uns als kleines Frühstück immer eine liebevoll geschälte Frucht ans Bett.

Indien in den 1930er Jahren: zwei Schweizer Mädchen sitzen in Rikscha, daneben ein Indischer Hausangestellter mit Turban.
© zVg

Wir Kinder beachteten die strengen Klassenunterschiede nicht und verbrachten viel Zeit im Hausteil des Personals. Dass man «Diener» beschäftigte, die einem im Haus alle Arbeiten abnahmen, war für europäische Familien im Indien der englischen Kolonialzeit völlig selbstverständlich. Meine Mutter stand dem Haushalt als «Memsahib» vor, als Herrin des Hauses. Jeden Abend besprach sie mit dem Personal das Menu und die Arbeiten des nächsten Tages. Kochen und haushalten lernte ich deshalb erst später, als ich eine eigene Familie hatte.

Damenwahl auf Heimaturlaub

Meine Eltern stammten beide aus Zürich und kannten sich erst wenige Wochen, als sie heirateten. Mein Vater arbeitete damals in Bombay und war auf Heimaturlaub, um eine Frau zu finden. Weil wir oft umzogen und unsere Eltern manchmal lange nicht sahen, wurden Dina und ich früh selbstständig. Wir lernten, uns immer wieder an eine neue Umgebung anzupassen. Dina als die Ältere musste sich oft um mich kümmern, was sie wohl manchmal überforderte. «Take care of little Ann», hiess es einfach.

Als wir vier und fünf Jahre alt waren, schickten uns die Eltern in die Schweiz nach Ägeri SZ ins Kinderheim. Die Gründe habe ich nie ganz verstanden, hätte ich doch meine eigenen Kinder nie wegschicken wollen. Aber wir fühlten uns im Heim wohl und waren gut aufgehoben. Mummy und Daddy sahen wir wegen der langen und teuren Reise selten und hielten sie mit wöchentlichen Briefen und Fotos auf dem Laufenden. An Heimweh erinnere ich mich nicht – aber manchmal hätte ich mir gewünscht, dass meine Eltern da waren, wenn ich heimkam, wie bei anderen Kindern auch.

Der Krieg bricht aus!

Der nächste Umzug 1939 kam überstürzt: Der Krieg war ausgebrochen und die Eltern liessen uns nach Indien kommen. Drei Tage lang waren Dina und ich betreut von der Crew mit einem der letzten Flugzeuge unterwegs, das noch Zivilisten beförderte. Als wir endlich landeten, war alles wieder fremd und exotisch: Die Sprache, die Gerüche, die Menschen und sogar die Eltern …

Wie die englischen Kinder kamen auch Dina und ich in ein Internat in die Berge. In Darjeeling war das Klima im Gegensatz zur Hitze des Tieflandes sehr angenehm und die Aussicht auf die Himalayas atemberaubend. Auf den Teeplantagen rundherum konnten wir die Pflückerinnen mit ihren grossen Körben beobachten, die sie mit einem Stirnband befestigt am Rücken trugen.

Nach Kriegsende brachten uns Mummy und Daddy zurück nach Europa. Auf der «SS Strathaird», die von drei Minensuchbooten begleitet wurde, reisten auch 500 kanadische Offiziere in die Heimat. Während die Eltern noch bis zur Pensionierung meines Vaters 1958 in Indien lebten, wohnten Dina und ich in Zürich in einer Pension bei lieben Schlummereltern. An das Leben in der Schweiz mussten wir uns erst wieder gewöhnen. Unterdessen sprachen wir besser Englisch als Deutsch. Wir vermissten die Wärme Indiens – und ich weiss noch, wie ich staunte, als ich hier zum ersten Mal einen «Weissen» eine Strasse fegen sah.

Die grosse Liebe

Meine Schwester absolvierte das Gymnasium und ich die Frauenbildungs- und später die Handelsschule. Mein Vater war der Meinung, dass Mädchen aus der «Fraueli» sowieso bald heiraten würden. Und genau so kam es: Ich lernte Willy kennen und heiratete sehr früh und sehr glücklich. Wir bekamen zwei Söhne und eine Tochter.

Heute lebe ich in Flims im Wohnheim. Gerne schaue ich in die verschneite Landschaft hinaus. Auf meiner Fensterbank sitzt Mischka, mein Teddybär, der mich schon mein ganzes Leben lang begleitet. Manchmal spreche ich Englisch, so wie früher. Die Sprache ist mir geblieben, aber die Erinnerungen verblassen mehr und mehr. Zum Glück habe ich alles in einem dicken Ordner für meine Kinder und Enkel aufgeschrieben.

Aufgezeichnet von Annegret Honegger

Beitrag vom 03.02.2023

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