92 Jahre, 7 Geschwister, 4 Sprachen und unzählige Geschichten
Eine liebevolle Grossmutter, Kriegsnächte im Keller, die Jahre bei der UNO in Rom oder die Zeit als Musiklehrerin und «Klassen-Grosi»: Béatrice Romano aus Zürich blickt auf ein erinnerungsreiches Leben zurück.
Michaele, Danilo, Cirillo, Debora, Livio, Mirio, Beatrice, Ivano – unsere klingenden Namen verdanken wir unserem italienischen Vater. Im Alltag wurde daraus natürlich Dani, Mica oder Bea. Ich wuchs in Zürich mit sieben Geschwistern und drei Sprachen auf. Mein Vater stammte aus Apulien, meine Mutter aus der Romandie. Auf dem Foto, das mein Vater wohl etwa 1935 knipste, fehlt mein kleiner Bruder noch und ich sitze als Jüngste im Wägeli.

Meine Eltern leiteten eine Sprachschule – eine der ersten in Zürich nach der Migros Klubschule. Im Erdgeschoss wurde in unseren Wohnräumen unterrichtet und am Sonntag Gottesdienst gefeiert, weil mein Vater auch Pfarrer der Waldensergemeinde war. Selbstverständlich hatten wir Kinder immer mucksmäuschenstill in der Predigt zu sitzen. Dagegen half meist ein Trick: Ich kniff meinen jüngeren Bruder einfach so lange, bis wir wegen des Lärms hinausgewiesen wurden. Dann schlichen wir in die Küche und tunkten Brot in die Sonntagsbratensauce.

Wir Kinder wuchsen sehr frei auf, spielten in den umliegenden Höfen und Gärten oder gingen im nahen See schwimmen. Im Winter schlittelten wir, im Sommer flitzten wir mit dem Velo, auf Rollschuhen oder auf einem grossen Bernhardinerhund mit Rädern die Gartenstrasse hinunter – mitten in der Stadt Zürich.
Velotour auf die Rigi
Schon als kleines Mädchen hatte ich eine lebhafte Fantasie. Stundenlang spielte ich mit meinen Plüschtieren Schule oder Gottesdienst. Den Pfarrer gab jeweils meine Lieblingspuppe Pierrot. Obwohl ihm Arme, Füsse und sogar die Augen fehlten, liebte ich ihn innig. Einmal organisierte ich eine Schulreise, die den ganzen Nachmittag dauerte, da ich jede Figur von Hand vorwärtsschieben musste – selbstverständlich in ordentlicher Zweier-Reihe. Abends legten wir uns alle ins Kinderbett, in dem kaum Platz für mich blieb.
Als mein Bruder und ich etwa zwölf und zehn waren, fuhren wir allein mit dem Velo nach Arth-Goldau und wanderten auf die Rigi. Ich erinnere mich, dass die Velofahrt viel länger dauerte, als wir gedacht hatten, und wie sehnsüchtig wir in der Hitze die Werbetafeln für «Agis-Limonade» ansahen. Auch der Heimweg war eine Herausforderung, weil ich auf einem zu grossen Velo eines meiner Brüder pedalte.

Da meine Eltern unterrichteten, führte meine Grossmutter unseren Haushalt – streng, aber voller Liebe für uns alle. An Winterabenden durfte ich sie manchmal mit einer warmen Bettflasche in ihre Dachkammer begleiten. Dort roch es nach alten Möbeln und vergilbtem Papier, an der Wand hingen verblichene Bilder meiner Vorfahren. Ich liebte es, auf dem Kanapee sitzend in ihrem Fotoalbum zu blättern. Am schönsten war es, wenn sie mich ins Welschland in die Ferien mitnahm. Dort wurde ich von der Verwandtschaft verwöhnt und fühlte mich wie ein Einzelkind. Nach diesen Tagen kehrte ich nur ungern nach Zürich zurück.
Schokolade im Luftschutzkeller
Während des Krieges wirkte Grossmutter trotz knapper Lebensmittel Wunder in unserer Grossfamilien-Küche. Am Morgen lag jeweils für jedes Kind ein Säckchen mit der Tagesration Brot auf dem Tisch. Heulte nachts die Sirene auf unserem Hausdach, packte sie warme Decken und eine grosse Tafel Schokolade ein. So war das Zusammensein im Keller nicht nur unheimlich, sondern auch tröstlich und süss.
In jenen Jahren mussten wir unseren Namen auf dem Schild «Sprachschule Romano» abdecken. Die italienischen Faschisten wollten meinen Vater auf ihre Seite ziehen. Mussolini verlieh ihm sogar eine Medaille für die vielen Kinder. Doch Vater holte verbotenerweise Geflüchtete vom Hauptbahnhof ab und unterstützte sie. Später erlangten wir alle die Schweizer Staatsbürgerschaft – auch meine Mutter, die ihr Bürgerrecht mit der Heirat verloren hatte.
Nach der Schule hätte ich gerne eine musikalische Ausbildung gemacht, was leider nicht möglich war. So schloss ich eine Lehre als Buchhändlerin bei der Librairie Payot an der Zürcher Bahnhofstrasse ab und arbeitete später auch für Payot in Genf. Das war keine glückliche Zeit, sodass ich an die Landesbibliothek und schliesslich zur Buchhandlung Haupt in Bern wechselte.
Als junge Frau bei der UNO in Rom
Ein Stelleninserat aus dem Ausland war 1961 ein Wendepunkt: Die UNO-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft FAO öffnete mir mit 29 in Rom eine neue Welt. Ich kam in unterschiedlichen Abteilungen zum Einsatz und war zeitweise auch als Dolmetscherin für die internationale Bibliotheksvereinigung in Europa unterwegs. Die Arbeit war spannend, wir verdienten gut und ich hatte einen kleinen Fiat, mit dem wir oft ans Meer fuhren. Auch als Frau fühlte ich mich in Rom freier als in Zürich – obwohl der Hauswart darüber wachte, ob man abends mit Gesellschaft heimkam.
Als mein Vater starb, kehrte ich 1973 in die Schweiz zurück, um meine Mutter in der Sprachschule zu unterstützen. Zürich kam mir eng vor nach dem Leben in der Grossstadt. Abends unterrichtete ich Englisch und Italienisch, tagsüber machte ich eine Ausbildung am Konservatorium Winterthur für Instrumentalunterricht. Später liess ich mich in Paris zur Musiktherapeutin ausbilden, ein damals in der Schweiz noch völlig unbekanntes Gebiet. Meine pädagogische Ader habe ich wohl von meinen Eltern geerbt.
Daneben betreute ich die Bibliothek im Balgrist-Spital. Mit meinem Wägeli fuhr ich zu den Patientinnen und Patienten, empfahl Bücher und schätzte die schönen Begegnungen. Nach einigen Jahren verbannte mich der neue Direktor jedoch in den Keller: Die Patienten sollten ihre Bücher künftig selbst mitbringen. Das war auch die Zeit, als in den Zimmern die ersten Fernseher mit Schwenk-Armen aufkamen.
Die Neugier als Wegweiser
Erst mit siebzig gab ich das Unterrichten auf. Mit meinem Ensemble «Musikwerkstatt», das ich vor über 25 Jahren gründete, treten wir heute noch auf. In diese Zeit fällt auch mein Engagement als «Seniorin im Klassenzimmer» für Pro Senectute Kanton Zürich – eine äusserst bereichernde Aufgabe. Die Kinder hingen an ihrem «Klassen-Grosi» und ich genoss es, Teil eines Kollegiums zu sein.
Im Alter und wenn man allein ist, muss man offen bleiben und darf sich nicht zurückzuziehen. Da ich gern unter Menschen bin, engagiere ich mich in unserer Kirchgemeinde und treffe dadurch viele Junge – wobei ich mit 92 auch Sechzigjährige zu den Jungen zähle. Natürlich hat mein Alter auch Nachteile. Es schmerzt, dass ich als einzige meiner Geschwister alleine geblieben bin. Manchmal fehlen mir die Gespräche wie «Weisch na…?». Auch das Velofahren mit dem Gefühl von Freiheit und Wind in den Haaren vermisse ich.
In meinem Leben haben sich immer wieder Türen zu interessanten Tätigkeiten geöffnet. Und ich war neugierig genug, hindurchzugehen. Etwa als ich Anfang der 1950er Jahre ein Jahr als «Under Housemaid» im Schloss von Lord Salisbury im englischen Headfield verbrachte. Wir froren zwar erbärmlich und das Essen war knapp – aber ich lernte nicht nur Englisch, sondern begegnete auch Queen Mother und Princess Margaret. «How nice to see you», hauchten die Damen, als wir ihnen – mit perfektem Hofknicks – vorgestellt wurden. Im Rückblick staune ich, was man alles wagt, wenn man jung ist.
Aufgezeichnet von Annegret Honegger