© Pia Neuenschwander

«Ich werde ganz bestimmt kein Turborentner»

Unter dem Bandnamen Stiller Has gab Endo Anaconda mit wechselnder Besetzung gegen zweitausend Konzerte, er veröffentlichte sechzehn Alben und verkaufte über eine Viertelmillion Tonträger. Am 2. Februar verstummte die Stimme des Poeten und Sängers für immer. Die Zeitlupe traf den grossen Schweizer Künstler im September 2021 zu einem Interview.

Text: Usch Vollenwyder, Fotos: Pia Neuenschwander

Sie sind mit Ihrem sechzehnten und letzten Album mit dem Titel «Pfadfinder» auf Abschiedstournee. Woher der Name?
Die Menschheit muss neue Pfade suchen. Wenn ihr das nicht gelingt, riskiert sie ihre Existenz. Der Kapitalismus ist ausser Kontrolle geraten. Ökonomische Überlegungen stehen über moralischen Bedenken. An Boden, Luft und Wasser wird Raubbau betrieben. Die Wissenschaft warnt schon lange vor der drohenden Klimakatastrophe. Wir wollen einfach nicht wahrhaben, dass wir unsere Lebensgrundlage zerstören. Es ist wie beim Untergang der «Titanic»: Einem grossen Teil der Menschheit steht das Wasser bereits bis zum Hals. Ein anderer Teil versucht sich rudernd noch darüberzuhalten. Bei uns hingegen spielt nach wie vor die Bordkapelle und wir weigern uns, unsere Komfortzone zu verlassen.

Warum?
Das Geld kommt regelmässig, das Auto, die Karriere, das Haus, der Verwaltungsratssitz. Wo dieses Wirtschaftssystem funktioniert, gibt es keinen Grund, etwas zu verändern. Bis wir privilegierten Länder auf unsere Vorteile verzichten, muss auch bei uns der Wald brennen, das Land in den Fluten untergehen oder der Schweinshals wegen der grossen Hitze auf der Motorhaube des SUV gegrillt werden können. Wir müssen endlich handeln, wir müssen die Zukunft anders gestalten. Warum? Weil wir die Verantwortung für diejenigen tragen, die nach uns kommen.
Wir sind uns nur einig, dass die nachfolgenden Generationen es schwer haben würden. Doch ändern tun wir nichts. Das ist ja wie im Katholizismus, in dem eine Erbschuld weitergegeben wird.

© Pia Neuenschwander

Wo sehen Sie Hoffnung?
Bei der Jugend. Die Jugend darf noch radikal sein. Sie trägt noch keine Scheuklappen. Sie bewegt sich auch noch nicht in festgefahrenen materiellen Strukturen. Die heutigen jungen Menschen sind eine breite intellektuelle Elite, die an unseren guten Schulen und Universitäten ausgebildet werden. Sie haben eine komplexere Vorstellung der Welt, als unsere Eltern oder wir in unserer Jugend es noch hatten. Sie wissen mehr als viele Politiker und drücken sich gekonnt aus. Diese gescheite Jugend gilt es zu unterstützen. Ich hoffe auf den Zusammenschluss der jungen und alten Menschen: dass es ihnen gelingt, die im Erwerbsleben gefangene mittlere Generation von den dringend notwendigen Veränderungen zu überzeugen.

Warum sollte ausgerechnet die älteste Generation die Jungen unterstützen?
Weil wir Alten nichts mehr, die Jungen hingegen alles zu verlieren haben. Deshalb müssen wir uns auf ihre Seite stellen und sie in ihrem Kampf ermutigen. Ich habe noch Hoffnung, und ich empfinde viel Zuneigung für junge Menschen. Ich gab kürzlich ein Privatkonzert, wo es unter dem Publikum auch Sechzehn- und Siebzehnjährige hatte. Ich sagte zu ihnen: «Ich werde euch dereinst – wenn ich über den Jordan gegangen bin – als unbequemes Gespenst begleiten und euch zur Seite stehen, wenn es brenzlig wird. Und ich werde darauf achten, dass ihr es besser macht, als unsere Generation es gemacht hat.»

Ihre zurzeit vierköpfige Band Stiller Has wird nach der Abschiedstournee aufgelöst. Warum?
«Trau keinem über dreissig» lautete einst das Motto. Wegen des Lockdowns verzögert sich die Abschiedstournee bis 2023, aber dann ist nach 34 Jahren mit Stiller Has Schluss. Ich finde es lächerlich und vor allem nicht glaubwürdig, mit siebzig auf der Bühne noch eine Hardrock-Grätsche hinkriegen zu wollen, wenn einen bereits die Bandscheibe plagt. Aber ich werde weiterhin auftreten. Ich stelle mir eine kleinere Bühne vor, vielleicht sitzend wie in einem Theater, und der Text steht im Mittelpunkt.

Ihre Texte beschreiben kleine und grosse Alltagsgeschichten. Wie kommen sie zustande?
Viele ergeben sich aus meiner eigenen Situation. Sie entstehen aus meiner Befindlichkeit, meiner Perspektive und aus der Beobachtung. Dieser Prozess läuft ständig. Ich schreibe alles auf, was mir begegnet oder in den Sinn kommt. Meist entstehen verschiedene Texte parallel. Manchmal fliegen mir die Worte sofort zu, manchmal erst später. Manchmal versuche ich mich an einem Text, und er gelingt mir nie.

Sie singen vom «Moudi» und von der «grüene Aare», im neuen Album von Lippenstift am Zigarettenstummel oder von Krähen im Schnee. Sind Sie ein Geschichtenerzähler?
Ja, das bin ich. Diese Fähigkeit habe ich wohl von meiner Grossmutter, die eine begnadete Erzählerin war. In meiner Kindheit verbrachte ich alle Ferien bei meinen Grosseltern im Emmental und liebte es, ihre Geschichten zu hören! Doch meine Welt hört nicht in Schaffhausen oder Chiasso auf. Das hat auch mit meinem Werdegang zu tun, der sich zwischen einer nationalistisch geprägten Internatsschule im erzkatholischen Kärnten und der späteren Begegnung mit dem Marxismus bewegt. Dadurch habe ich ein differenzierteres Bild von der Welt bekommen.

Auf der Bühne geben Sie immer alles. Woher haben Sie diese starke Bühnenpräsenz?
Das ist vielleicht eine Begabung. Ich versuche, wahrhaftig zu sein, indem ich das verkörpere, was ich singe. Ich leide, hinterfrage, reflektiere. Dann merkt das Publikum: «Das ist ja einer von uns.» Auch in den Proben verlange und gebe ich immer alles. Ich habe die gleiche Haltung, ob ich nun vor zehn oder vor hundert Leuten singe. Ich freue mich, wenn meine Musik das Publikum inspiriert und zum Denken anregt.

«Ich hatte viel Zeit für Selbstgespräche, die können heilsam sein»

Während des Lockdowns mussten Sie ohne Publikum auskommen. Wie war diese Zeit für Sie?
Auf eine Art hat sie mich entspannt. Ich hatte viel Zeit für Selbstgespräche – und die können heilsam sein. Ich war schliesslich auch froh, habe ich jeden meiner verdienten Franken versteuert und für die AHV abgerechnet. Auf dieser Basis wurde die Corona-Entschädigung ausbezahlt. Wer vorher seriös abgerechnet hat, wurde unterstützt. Ich bin allerdings lieber unabhängig. Ich bin kein Staatskünstler und möchte auch nicht vom Staat leben. Trotzdem war ich froh um das Geld. Ich bin noch für zwei Kinder unterhaltspflichtig und schon deshalb auf regelmässige Einkünfte angewiesen.

Seit zwei Jahren trinken Sie keinen Alkohol mehr. Haben sich Ihre Beziehungen seither geändert?
Meine Kinder – sie sind 13, 20 und 28 Jahre alt und von drei verschiedenen Frauen – hatten mich auch vorher gern. Ich glaube, sie nahmen mich schon immer so, wie ich bin. Und umgekehrt ist es ja gleich. Aber ich hatte mich selber nicht mehr gern. Ich war vergesslich, gestresst, verzweifelt, finanziell am Ende und sah keine Perspektive mehr. Ich wollte zwar weiterhin Musik machen, aber so konnte es nicht mehr weitergehen. Also musste ich mich aufrappeln – es war höchste Zeit. Bis heute fehlt mir der Alkohol nicht. Für unerwartete Besuche habe ich eine Flasche Weisswein, eine Flasche Champagner und zwei Bier zu Hause. Sie sind immer noch unangetastet. Doch wer weiss, ob ich nicht später wieder einmal eine Flasche Bordeaux trinken oder ein Opiumpfeifchen rauchen werde? Das Alter kann auch schön sein.

Endo Anaconda steht vor einer Scheune und schaut nach oben links in den Himmel.
© Pia Neuenschwander

Welches sind seine schönen Seiten?
Ich erlebe schon jetzt selige Momente – wenn ich zum Beispiel bei schönem Wetter draussen unter dem Moskitonetz liegen und nachdenken, ein Buch lesen oder schlafen kann. Ich hätte gern mehr solcher Momente in meinem Leben gehabt. Eine weitere gute Seite des Alters ist, dass ich mich nicht mehr verrenken muss, um jemandem zu gefallen oder als Künstler gut dazustehen. Zudem kann ich es mir leisten, mich den digitalen Medien zu verwehren. Ich habe eine tiefe Abscheu davor.

Warum?
Das Internet ist ein unkontrollierbares Medium. Kindsmissbrauch, Waffen- und Drogenhandel, Steuerhinterziehung, Geldwäsche, anonyme Hassbotschaften – alles lässt sich darin verbreiten. Es entzieht sich den Gesetzen unseres Rechtsstaates. Das nimmt man als Bürger einfach hin – ich kann das nicht verstehen und will es auch nicht unterstützen. Gottseidank bin ich in einem Alter, wo ich in gewissen Sachen stur sein darf.

Eine Ihrer CD heisst «Böses Alter». Damit meinen Sie die Gebresten, die mit der Zeit kommen. Wie merken Sie Ihr Alter?
Ich merke es an meinen schmerzenden Gelenken. Ich habe eine künstliche Kniescheibe, hatte einen Nebennierentumor, wurde an der Leber operiert, die Gallenblase wurde entfernt, ich hatte mehrere Knochenbrüche … Ich versuche, nicht wehleidig zu sein, und verstehe mich gut mit meinem Hausarzt.

Sie sind dem Tod auch schon ein paar Mal von der Schippe gesprungen. Ist er Ihnen ein guter Kollege?
Ich habe keine Angst vor ihm. Manchmal möchte ich sogar raus aus diesem Körper, wenn das Wetter wechselt und mir alles weh tut. Aber dank der Pharmazie wird es dann wieder erträglich. Aber ja, ich denke, dass der Moment kommt, wo man einfach nicht mehr mag. Ich hätte gern ein angenehmes Nahtoderlebnis, einen richtigen Flash. Am liebsten schön langsam, vielleicht mit einer Überdosis an Opiaten. Wo das dann endet, weiss man ja nicht. Höchstwahrscheinlich irgendwo im Sternenstaub.

Das denken Sie?
Als rational denkender Mensch nicht, aber als Künstler schon. Alles ist doch eine Frage, wie man mit dem Tod umgeht. Künstlerinnen und Künstler dürfen ein bisschen esoterisch sein, wenn sie sich mit dem unausweichlichen Ende auseinandersetzen. Medizinerinnen und Mediziner kämpfen gegen den Tod an – doch letztlich sind sie chancenlos. Wieder andere suchen in der Theologie mögliche Erklärungen – aber Gott ist ein unsicherer Kumpel. Das Göttliche sind wir Menschen, unsere Seelen. Jeder von uns acht Milliarden Erdenbewohnern ist ein achtmilliardstel Teil von Gott.

Wie stellen Sie sich Ihre Pensionierung vor, wenn Sie einmal nicht mehr Geld verdienen müssen?
Ich werde ganz bestimmt kein Turborentner und werde auch nicht auf ein Rennvelo steigen. Die Vorstellung, sich im Alter noch optimieren zu müssen, finde ich abstrus. Ich versuche auf keinen Fall mehr jung zu sein, wenn ich es schon lange nicht mehr bin. Ich werde in den Tag hineinleben und mich treiben lassen. Ich möchte endlich so faul sein, wie ich mir das schon ein Leben lang gewünscht habe: Lesen, Gedichte schreiben, Freude haben an der Jugend, vielleicht noch ein bisschen Reisender sein, eventuell sogar Grossvater werden.

Und weiterhin abgeschieden im Emmental leben?
Ich könnte mir auch eine Wohngemeinschaft vorstellen mit inspirierenden Menschen, älteren und jüngeren. Mit allerdings genügend Rückzugsmöglichkeiten. Für ein Leben zu zweit eigne ich mich nicht, deshalb wohnen meine Freundin und ich auch nicht zusammen. Ich bin ein wenig grantig und gerne zeitweise allein. Aber ich pflege meine Freundschaften, ich liebe meine Kinder und ich liebe Frauen, ich liebe alte Menschen, junge Menschen – ja, ich glaube, ich bin ein Menschenfreund.❋

© Pia Neuenschwander

Tiefgründiger Mundartpoet

Endo Anaconda wurde als Andreas Flückiger am 6. September 1955 in Burgdorf geboren. Sein Vater starb, als er vier Jahre alt war. Die Mutter, eine gebürtige Österreicherin, zog mit ihren drei Söhnen nach Klagenfurt in Kärnten. Nach einer Lehre als Siebdrucker in Wien kehrte Endo Anaconda Anfang der Achtzigerjahre in die Schweiz zurück und gründete 1989 zusammen mit Balts Nill das Duo Stiller Has. Verschiedene Auszeichnungen folgten – unter anderem der Salzburger Stier sowie der Berner und der Schweizer Musikpreis.Endo Anaconda hat drei Kinder zwischen 13 und 28 Jahren. Der Künstler lebt und arbeitet im Emmental.

  • CD und Tournee: Das letzte Album von Stiller Has «Pfadfinder» erschien am 6. März 2020. Angaben zur CD und zu den Konzerten bis Ende 2022 finden Sie auf stillerhas.ch
Beitrag vom 30.08.2021