© Pia Neuenschwander

«Ich bin mir stets treu geblieben»

Erika Hess hat seit dem Tod ihres Ehemanns Jacques Reymond zwei schwere Jahre hinter sich. Die Nidwaldner Skigrösse beeindruckt im Gespräch mit viel Freude und Lebenskraft, blickt auf ihre Anfänge und ihre Karriere zurück – und erzählt, wie ihr die Familie Halt gab. 

Interview: Fabian Rottmeier

Sie waren einer der grössten Skistars der 1980er-Jahre, gewannen 31 Weltcuprennen und sechs Weltmeistertitel – blieben jedoch stets bescheiden. Woher hatten Sie diesen Siegeswillen?
Ich blieb mir stets treu und verstellte mich nie, bloss um alle zufriedenzustellen. Dass ich zurückhaltend und schüchtern war, lag wohl auch daran, dass ich sehr jung zum Skizirkus gestossen bin. Woher mein Siegeswille kam, kann ich mir auch nicht ganz erklären. Als Mädchen hoffte ich, endlich Skikleider zu erhalten, wenn ich so schnell wie die Besten fahre. Meine Eltern konnten sich keine Ski für mich leisten und liehen jeden Winter für fünf Franken ein Paar bei der Armee aus. Vielleicht begründet dieser materielle Nachteil meinen Ehrgeiz. Ich wollte schnellere Ski – und wie eine Rennfahrerin aussehen.

Sie haben stets betont, in der Gegenwart zu leben und nach vorne zu schauen. Leben Sie gut damit, dass Sie Aussenstehende immer noch als Skifahrerin wahrnehmen?
Heute ist es angenehmer als früher. Ich werde nicht mehr so häufig auf diese Zeit angesprochen. Und wenn, dann von Menschen, die den Skisport damals mitverfolgt oder -erlebt haben. Das sind schöne Begegnungen. Manchmal sind es Erwachsene, die als Kind an einem der vielen Skicamps teilnahmen, die mein Mann und ich geleitet haben. Wir haben diese Trainingswochen 30 Jahre lang organisiert. Ich kann mit viel Freude auf meine Vergangenheit zurückblicken. Trotzdem habe ich mich nie auf meinen Lorbeeren ausgeruht und stets in der Gegenwart gelebt. Heute bin ich voll und ganz für meine Enkel da. Eine wunderschöne Aufgabe.

«Es ist mir wichtig, dass meine Enkelkinder spüren, dass ich immer Zeit für sie habe.»

Im vergangenen Sommer wurden Sie von der zwei- zur vierfachen Grossmutter. Erleben Sie Ihre Enkel anders als Ihre eigenen Kinder?
Ja. Vielleicht, weil ich mir bewusst Zeit für sie nehmen kann und alles andere liegen lasse, wenn sie bei mir sind. Keine Haushaltarbeiten, kein Computer, so wenig Handy wie möglich. Ich nehme meine Rolle ernst, damit ihnen auch ja nichts zustösst. Wir spielen, spazieren oder unternehmen gemeinsam sonst etwas. Die älteste Enkelin möchte mir in der Küche bei allem helfen und fährt bereits Ski. Es ist mir wichtig, dass sie spüren, dass ich immer Zeit für sie habe.

Lange war Ihre Freizeit rar. Das Leben eines Skiprofis ist durchgetaktet. Welches Gefühl hatte sich breitgemacht, als Sie mit 25 Jahren beschlossen, dem Rummel ein Ende zu setzen?
Als Siegfahrerin will man sich nicht mit einem siebten Platz zufriedengeben. Dieses Image und den damit verbundenen Druck wird man nicht mehr los. Viele vergessen, dass ich bereits mit 15 Jahren zur Elite gestossen bin – also zehn Jahre lang als Profi fuhr. Zum Rücktrittsentscheid haben verschiedene Faktoren beigetragen. Die Aussicht auf eine weitere Olympia-Teilnahme 1988 war mit ein Grund, 1987 aufzuhören. Meine Plätze 5 und 7 an den Spielen von 1984, als ich die grosse Favoritin war und man sich vorab nur fragte, ob ich Bronze, Silber oder Gold gewinnen würde, blieben die grösste Enttäuschung meiner Karriere. Diesen Stress und all die kräftezehrenden Randgeschichten, die mich als öffentliche Person begleiteten, wollte ich mir nicht länger zumuten. Und ich wollte mit Freude am Skifahren abtreten. Die WM 1987 in der Schweizer Heimat war mein letztes grosses Ziel.

Herzlich lachende Erika Hess im Interview mit der Zeitlupe.
© Pia Neuenschwander

Sie gewannen in Crans-Montana gleich zwei WM-Goldmedaillen, eine davon in Ihrem letzten grossen Medaillenrennen überhaupt, dem Slalom.
Diese WM war eine überwältigende Erfahrung. Wir wussten, dass das frenetische Heimpublikum anspornend, aber auch belastend werden könnte. Beim Slalom nahm ich nicht nur die lauten Fans wahr, sondern auch den Speaker und die Zwischenzeiten. Mein erster Lauf gelang nicht besonders gut. Für den zweiten habe ich mich komplett abgekapselt. Während der Fahrt wähnte ich mich ganz alleine auf der Piste. Das war der Schlüssel zum Sieg.

In einem früheren Interview sagten Sie, der Spitzensport sei eine Parallelwelt, in der die normalen Probleme erst wieder spürbar würden, wenn man zurücktrete. Können Sie genauer darauf eingehen?
Ein Leben als Skiprofi bedeutet, in einer anderen Welt zu leben und ständig unterwegs zu sein. Alles wird organisiert: die Reisen, die Pisten, die Übernachtungen, der Tagesablauf oder die Mahlzeiten. Weil ich im Skizirkus quasi in Gegenrichtung zum Alltag anderer lebte, spielte ich in den Überlegungen von Freunden und Bekannten selten eine Rolle.

«Ich lernte als öffentliche Person früh, meine Gefühle zu verbergen.»

Sie mussten sich danach auch ein privates Umfeld erarbeiten.
Genau, aber auch das war motivierend. Ich habe mich darauf gefreut, erstmals tun und lassen zu können, wonach ich gerade Lust hatte. Ich erhielt ein neues Leben. In der Öffentlichkeit zu stehen, war Teil des Berufes und völlig in Ordnung – aber nicht immer einfach. Ich lernte früh, meine Gefühle zu verbergen.

Etwa, als Sie sich in Ihren Konditionstrainer Jacques Reymond verliebten, Ihren späteren Ehemann. Verraten Sie uns, wie alles begann?
Als Jacques 1980 in unser Team kam, wurde er rasch zu meinem Mentor. Was ich als 18-Jährige noch nicht wusste: Er sollte mich durch mein Leben führen. Wir haben uns schrittweise angenähert. Der Sport hat uns verbunden. Wir fuhren oft Rad, Wasserski oder surften. Doch uns beiden war klar: Eine teaminterne Beziehung durfte es nicht geben. Trotzdem kamen wir uns immer näher und trafen uns in der Freizeit zum Sport. Es kam der Tag, an dem wir unsere Gefühle nicht länger verdrängen wollten. Wir wollten uns eine Chance geben und sassen mit dem ganzen Team und den Betreuern an einen Tisch. Alle haben sehr professionell reagiert, obwohl ich mir zu Beginn schon wie die Tochter des Lehrers vorkam. Vor meiner letzten Saison wechselte Jacques dann ins Herrenteam.

Erika Hess im Interview mit der Zeitlupe. Sie trägt einen weissen sportlichen Pullover, im Hintergrund hängt ein Paar Ski an der Wand.
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Sie heirateten 1988 und zogen in Jacques’ Waadtländer Heimat, ins Vallée de Joux, später nach St-Légier bei Vevey. War die Romandie, weit weg von Nidwalden, ideal für einen Neustart?
Ja, auch wenn dieser Umzug nicht im Voraus geplant war. Das Leben ist wie ein Fluss, der einen mitzieht. Wir haben uns treiben lassen. Es war mein Wunsch, mir nach vielen reiseintensiven Jahren eine neue Heimat zu gestalten. Ich fühlte mich sofort wohl in der Westschweiz. Hier konnte ich Freundschaften schliessen, deren Wert sich auch in der schweren Zeit vor zwei Jahren gezeigt hat, als Jacques verstarb. Im Leben eines Skiprofis ist es schwierig, Freundschaften fernab der Sportwelt zu pflegen. Das war schade, aber so ist das Leben. Man kann nicht an zwei Orten gleichzeitig sein.

Ihre drei Söhne sind längst erwachsen. Mutter zu sein, sei das Schönste auf der Welt, sagten Sie einmal. Weshalb?
Eine Familie zu haben, ist eine grosse Befriedigung und Aufgabe. Eltern möchten alles richtig und gut machen. Es ist eine Verantwortung, der man sich zu Beginn nicht in ihrem ganzen Ausmass bewusst ist. Zum Glück, würde ich rückblickend sagen.

Welche Werte haben Sie ihnen weitergegeben?
Respekt vor den Mitmenschen, aber auch Sorgfalt im Umgang mit Gegenständen sind mir wichtig. Schätzen, was man hat, auch die Natur. Alle meine Kinder haben einen eigenen Garten, aus dem sie Gemüse und Früchte ernten. Den familiären Zusammenhalt zu pflegen, ist ebenfalls zentral. Wenn wir zusammenkommen, dann richtig. Wir nehmen uns Zeit füreinander, kochen und essen zusammen. Das hat uns auch in der schweren Zeit während Jacques’ Erkrankung getragen.

«Die intensive letzte Begegnung mit meinem Mann Jacques half mir später zu akzeptieren, dass ich ihn nicht in den Tod begleiten durfte.»

Ihr Mann starb im Frühling 2020 an einer Covid-19-Infektion. Sie durften ihn während sechs Wochen nur dreimal im Spital besuchen und erfuhren am Telefon von seinem Tod. Wie haben Sie diesen Verlust ohne Abschied verkraftet?
Die Verarbeitung begleitet mich bis heute. Ich spürte jedoch bereits, als es nicht gut um ihn stand, dass ich geradlinig meinen Weg weitergehen muss. Auch meine Kinder habe ich dazu ermutigt: «Wir machen weiter, wir leben weiter», sagte ich. Ich verlor rasch an Gewicht und musste auch selbst zu mir schauen. Ich merkte: So darf es nicht weitergehen.

Wie schwer fiel Ihnen dieser Entscheid?
Weil ich Jacques fast nie in Lausanne besuchen durfte, sah ich mich fast dazu gezwungen, so zu handeln. Ich war 24 Stunden am Tag erreichbar, wusste aber auch, zu welcher Tageszeit im Spital jeweils ein Schichtwechsel anstand. So konnte ich morgens im Wald spazieren gehen. Ich musste einen Rhythmus finden, der mir eine Struktur gab. Sonst wäre es mir noch schlechter gegangen. So egoistisch es auch war: Ich musste mir selber Sorge tragen.

Am Tag vor seinem Tod durften Sie Ihren Ehemann ein letztes Mal besuchen.
Es war unser 32. Hochzeitstag. Mein Besuch war sehr emotional. Wir kommunizierten über unsere Blicke. Sprechen konnte Jacques nicht mehr, seit man ihn aus dem künstlichen Koma geholt hatte. Ich versprach ihm, dass ich alles unternehmen werde, damit er stolz auf seine Familie sein könne. Nachträglich betrachtet scheint es, als hätte ich ihn im Spital loslassen können. Mit Fotos blickte ich mit ihm auf unser gemeinsames Leben zurück. Diese intensiven Momente halfen mir später zu akzeptieren, dass ich ihn nicht in den Tod begleiten durfte. Wir wussten, was wir aneinander hatten. Immer und immer wieder haben wir uns die gegenseitige Wertschätzung gezeigt. Man sollte damit nicht zuwarten.

«Als Mutter habe ich versucht, meinen Kindern Halt zu geben. Nun haben wir die Rollen getauscht.»

Jacques’ Asche wurde auf seinen Wunsch am Lac de Joux verstreut. Als Skiprofi suchten Sie den See oft als willkommenen Ort der Ruhe auf. Und heute?
Ich fühle mich dort Jacques sehr nahe und bin immer noch gerne dort. An seinem Todestag spazierte ich um den ganzen See. Meine Beziehung zum Vallée de Joux ist heute noch intensiver als früher. Lange bevor wir ein Paar wurden, absolvierten wir dort viele Konditionstrainings. Ich konnte mir bereits damals vorstellen, einmal dort zu leben. Unsere erste gemeinsame Wohnung sollte später fast direkt am See liegen.

Auch Skipisten sind stark mit ihm verknüpft. Wie erging es Ihnen am ersten Skitag nach seinem Tod?
Es ist ein Prozess, bis man einen Ort wieder besucht, der in der gemeinsamen Biografie wichtig war. Ich bin das erste Mal ganz bewusst nicht alleine auf die Piste gegangen, sondern mit Trainerkollegen. Anderes wäre noch immer zu belastend, etwa eine Reise an den wunderschönen Ort am Meer, an dem wir oft unsere Frühlingsferien verbrachten. Bei einigen Dingen muss ich noch zuwarten, bis ich bereit dazu bin. Zum Glück ist mir meine Familie eine grosse Stütze. Als Mutter habe ich versucht, meinen Kindern Halt zu geben. Nun haben wir die Rollen getauscht. Heute geben mir meine Söhne und meine Enkelkinder Halt – und einen wichtigen Lebensinhalt. Es braucht viel Zeit, nach dem Tod des Partners seinen eigenen Weg zu finden. Meine Kinder geben mir eine Richtung vor. Beschreiten muss ich den Weg aber selbst. 

© Pia Neuenschwander

Vom Bauernmeitli zum Skistar

Erika Hess wächst mit fünf Geschwistern im Weiler Altzellen ob Wolfenschiessen NW auf. Ein Skilift, direkt vor dem heimischen Bauernhaus von Onkel Walter installiert, sollte ihr Leben prägen. In Walters Frau hat Erika die ideale Skiförderin: Annemarie Waser gehörte in den 1960er-Jahren im Slalom zu den Weltbesten. Mit 15 Jahren wird Erika Hess Skiprofi – und zu einer der erfolgreichsten Skifahrerinnen aller Zeiten. Die Nidwaldnerin gewinnt sechs WM-Goldmedaillen, drei davon 1982 in Schladming – mit knapp 20 Jahren. Hinzu kommen u.a. eine Olympia-Bronzemedaille, 31 Weltcupsiege und zwei Weltcup-Gesamtsiege. Mit 25 tritt die «Schweizer Sportlerin des Jahres 1982» zurück, heiratet ihren Trainer Jacques Reymond und bringt in der Romandie drei Söhne zur Welt. 30 Jahre lang leitet das Ehepaar in der Westschweiz Skicamps für Kinder und Jugendliche. Die knapp 60-Jährige wohnt in Saint-Légier-La Chiésaz oberhalb von Vevey VD. In drei Skigebieten organisiert sie die jährlich stattfindenden «Erika Hess Open» mit, ein Volksskirennen, das ihr am Herzen liegt.


Beitrag vom 07.02.2022