© Nicola Pitaro

«Im Vergleich zu heute waren wir Amateure»

Dumeng Giovanoli war 1968 der beste Slalomfahrer der Welt. Auch wegen eines Materialwechsels, der in einem Nachtlokal aufgegleist wurde. Heute schwärmt der 79-Jährige von seiner Heimat Sils – und blickt auf sein Leben als Sportler, Koch und Hotelier zurück.

Interview: Fabian Rottmeier, Fotos: Nicola Pitaro

Früher fuhren Sie um Hundertstelsekunden, heute haben Sie alle Zeit der Welt. Vermissen Sie das Kribbeln?
Nein, nicht wirklich. Aber ich brauche noch heute ein Ziel, um etwas zu erreichen – und Zeitdruck. Mein Ehrgeiz zeigt sich eher beim Langlauf, Ski- und Velofahren. Ich muss immer an meine Grenzen gehen, um zufrieden nach Hause zu kommen. Mein Sohn sagt, ich wirke zehn Jahre jünger, sobald ich die Skier angeschnallt habe. Aber ich fahre kontrolliert. Zumindest, solange ich keine Startnummer trage. Deshalb habe ich bald damit aufgehört, in Skiclubrennen gegen meine Kinder anzutreten.

Sie sind bis heute der einzige Schweizer Skifahrer, der nacheinander die Slaloms von Wengen und Kitzbühel gewonnen hat. Erstaunt es Sie manchmal, wie viele Leute sich 52 Jahre später noch daran erinnern?Ich sagte kürzlich zu meinen Kindern, dass mich die Journalisten nun, da ich auf die 80 zugehe, wieder aus den Schubladen hervorkramen. Oder es kommen Jubiläen wie zuletzt «90 Jahre Lauberhorn», zu denen ich eingeladen werde.

Was war der alpine Skisport Ende der 60er-Jahre für eine Welt?
Ab 1960 gehörte ich zehn Jahre lang zum nationalen Kader. Ich war gelernter Koch und arbeitete im Sommer im Betrieb meiner Eltern in Sils, dem heutigen Hotel Seraina. Im Vergleich zu heute waren wir Amateure, die gut, aber einseitig trainierten. Wir mussten dauernd die Hänge hinunterrennen. Das gebe kräftige Oberschenkel, hiess es, was bei Rennläufen mit einer Länge von über zwei Minuten gewiss nicht unwichtig war. Bei Waldläufen umkurvten wir die Bäume wie Slalomstangen.

Interviewbild: Dumeng Giovanoli im karierten Hemd an einem Holztisch in seinem Hotel.
© Nicola Pitaro

«Wenn man im Starttor steht, gibt es kein Zurück»

Sie gehörten 1967 zu den ersten Fahrern, die von Lederschuhen auf harte Schalenschuhe umstiegen. Wie entscheidend war dieser Schritt
Er wurde zum wichtigsten Materialwechsel in meiner Zeit. Lederschuhe waren einfach zu ungenau, denn je härter der Schuh, desto präziser lassen sich Skier steuern. Ich war der erste Europäer, der mit den Schuhen der amerikanischen Marke Lange, die den Wechsel vorantrieb, unterwegs war – dank eines Zufalls: Während einer Vorbereitungswoche in Aspen lernte ich Bob Lange, den Firmengründer, kennen – an der Bar des Nachtclubs «Red Onion». Ein Schweizer Hotelier hatte uns miteinander bekannt gemacht. Zwei Wochen später schickte Lange mir massgefertigte Schalenschuhe ans Rennen in Waterville Valley. Ich testete sie im Training, auf einer Piste, wo mich niemand sah.

Und, wie gross war der Unterschied?
Gewaltig! Es fühlte sich auch bei pickelharten Pisten an, als wäre man im Pulverschnee unterwegs. Meine erste Saison in Schalenschuhen, 1967/1968, wurde meine erfolgreichste überhaupt!

Sie waren auf Ihrem Zenit, hatten jedoch beim Olympia-Slalom 1968 in Grenoble viel Pech.
Der Slalom von «Grenebel», wie wir ihn verspotteten, war wegen des Wetters immer wieder verschoben worden. Die Veranstalter waren deshalb gezwungen, das Rennen am letzten Tag der Spiele durchzuboxen. Am Renntag sah man meist bloss zwei Tore weit. Als ich im zweiten Lauf am Start stand, hiess es, ich müsse warten, weil Karl Schranz nochmals starten wolle. Er sei unterwegs behindert worden. Es gab ein Hin und Her, das mich viele Nerven kostete. Man muss dazu wissen: Wenn man im Starttor steht, dann ist es, als würde man bei einer Bombe die Zündschnur entfachen. Dann gibt es kein Zurück mehr – oder der Knall verpufft.

Sie wurden undankbarer Vierter.
Schmerzhafter war hingegen, dass die Veranstalter der Rangverkündigung der alpinen Kombination, in der ich Silber gewann, keine Zeit mehr einräumten. Wohl auch, weil die Disziplin noch nicht olympisch war. Alle übrigen Rennen zählten gleichzeitig als Olympia- und Weltmeisterschaftsrennen. Der Präsident des internationalen Skiverbandes überbrachte mir die Medaille auf dem Heimweg am Berner Bahnhof. En passant. Das war enttäuschend. Kurz darauf kam eine Putzfrau, die soeben den Waggon gereinigt hatte, auf mich zu, drückte mir einen Fünfliber in die Hand und sagte, sie habe sich enorm über meine Medaille gefreut. Dieser Batzen war wertvoller als die Medaille.

Giovanoli radelt zu Yule

Daniel Yule hat im Januar Historisches vollbracht: Der Walliser gewann als erster Schweizer Slalomfahrer den dritten Slalom seiner Karriere. Wenige Tage später siegte er in Kitzbühel ein viertes Mal. Der letzte Schweizer Slalomgewinner dort: Dumeng Giovanoli im Jahr 1968. Giovanoli hat Yule mit einem SMS gratuliert und will seinen Nachfolger – wie vor Jahren im «Blick» versprochen – per Velo besuchen. «Jetzt habe ich bis im Sommer Zeit, um in Form zu kommen», sagt er. «Die kürzeste Route wäre via Tessin und Simplonpass: 330 Kilometer. Das würde mich schon reizen.» Vielleicht treffe er Yule aber auch einfach während seines Sommertrainings im Bündnerland.

Einst sollen Sie sogar einen Fernseher als Rennpreis gewonnen haben. Ist diese Anekdote wahr?
Ja, das war 1963, bei einem Abfahrtssieg in der Lenzerheide. Das Rennen war nach einem Fernsehhersteller benannt. Naturalpreise waren damals üblich. Als Gewinner durfte ich mir bei der Siegerehrung etwas aussuchen. Man wies mich sofort zu einem riesigen Fernsehklotz. Da wir in Sils aber noch gar kein TV-Signal hatten, entschied ich mich für ein Radio-Plattenspieler-Kombigerät. Es tat seinen Dienst sehr lange.

Ihr Grossvater war einer der ersten Skilehrer der Region, Ihr Vater leitete die Skischule. Wer brachte Ihnen das Skifahren bei?
Mein Grossvater war leider in meinem Geburtsjahr verstorben. Und an Skifahrten mit meinem Vater erinnere ich mich auch nicht. Wir erlernten das Skifahren selbst – spielend. Sobald wir gehen konnten, schnallten wir uns im Winter die Skier an, auch für den Schulweg. Erst als ich neun Jahre alt war, gab es den ersten Handseil-Skilift, ein Skitraining gar erst sieben Jahre später. Unseren Wettkampfgeist weckten wir beim Springen über selbstgebaute Schanzen. So brockte ich mir auch meinen ersten Gips ein. Wir nutzten jede freie Minute dafür, sogar in den Schulpausen. Je weiter, desto besser. Der Rekord betrug 27 Meter. Die Besten erhielten unsere mitgebrachten Preise, etwa einen Schokoriegel.

«Meine Heimat hat mich geprägt»

Eine Knieverletzung zwang Sie mit 30 Jahren zum Rücktritt. Zwei Jahre später übernahmen Sie und Ihre Frau in Sils das Hotel Privata, das ebenfalls in Familienbesitz war. Nach 35-jähriger Erfahrung: Was macht einen guten Gastgeber aus?
Man muss ein wenig dafür gemacht sein, sich aber vor allem Zeit nehmen und auf die Gäste zugehen. Sprachkenntnisse helfen ebenso wie eigene Reiseerfahrungen, um sich in seine Gäste zu versetzen. Ich profitierte auch davon, dass meine Eltern ein Hotel betrieben hatten. Die Arbeit im Privata half mir dabei, mich im Gemeinderat und Kurverein einzubringen – auch aus der Sicht unserer Kundschaft.

Mittlerweile führt Ihre Tochter Corina das Hotel – in vierter Familiengeneration. Waren Sie erleichtert über diese Fortsetzung?
Wir sind sehr glücklich, wie sich 2008 alles ergeben hat. Zwei unserer Kinder haben in einem Hotel eine Ausbildung absolviert. Insofern hatten wir berechtigte Hoffnungen, als wir erklärten, dass wir kürzertreten möchten. Corina arbeitete schon ein paar Jahre bei uns. Das war ideal. Wir bauten uns auf einer Bauparzelle um die Ecke unser «Stöckli» und zogen aus, unsere Tochter übernahm.

Was hat Ihnen als Hotelier am besten gefallen?
Die Rückkehr an den Kochherd. Das war mir wichtig, und ich koche noch heute gerne zu Hause und gelegentlich auch im Hotel. Ich bekam auch ein Job-Angebot als Trainer beim Schweizer Skiverband, doch ich wollte im Engadin bleiben, statt wieder dauernd zu reisen. Meine Heimat hat mich geprägt.

Skifahren mit Dumeng Giovanoli

Wer über 55 Jahre alt ist, kann jeden Dienstag mit Dumeng Giovanoli und drei weiteren «Segliuots» im Skigebiet Furtschellas gratis Skifahren (Skiticket vorausgesetzt).

Skispass mit «Ils segliuots», jeden Dienstag bis 7. April, Treffpunkt um 10 Uhr, Mittelstation Furtschellas, Sils. Ohne Anmeldung. Weitere Infos: engadin.ch

Was macht das von vielen geliebte Sils für Sie so besonders?
Ganz eindeutig die Natur. Wenn ich abends nach Sils-Baselgia spaziere und in Richtung Talabschluss nach Maloja blicke, löst das in mir immer etwas Positives aus, auch bei schlechtem Wetter. Diese Stimmung, diese Weite, dieses Seenplateau! Auch der Philosoph Nietzsche und der Maler Segantini waren fasziniert vom besonderen Licht hier. Gut auch, dass sich Sils nur zurückhaltend entwickelt hat. Die erste Schoggitaleraktion von 1946 kam dem Schutz des Silsersees zugute. Später hat man auf der Silser Ebene viel Bauland ausgezont – manchmal ohne Entschädigung. Beim Naturschutz hat man Erstaunliches vollbracht. Mein geliebtes Fextal wurde zum Glück schon sehr früh geschützt.

Was verbindet Sie so stark mit diesem Tal?
Meine Familie. Mein Grossvater lebte dort, und mein Vater, dessen Mutter kurz nach seiner Geburt starb, wuchs als eines von acht Kindern grösstenteils bei einer Tante im Fextal auf. Es kommt für mich dem Paradies sehr nahe. Die Ruhe ist einmalig! Als Kind verbrachte ich in den Sommerferien jeweils vier Monate dort. In meinen ersten Jahren als Skifahrer habe ich so manchen Zwist mit meinem Vater ausgetragen, weil er kaum Verständnis dafür hatte, dass ich nachmittags ein bis zwei Stunden an meiner Ausdauer trainieren wollte, statt ihm noch länger bei der Arbeit zu helfen. Sobald ich im Fextal angelangt war, verschwand das schlechte Gewissen.

Sie sind Grossvater von zwei Enkelkindern (11 und 13 Jahre). Haben Sie sich als Opa nochmals neu kennengelernt?
Nicht unbedingt. Ein Grossvater ist ja bekanntlich ein alter Mann. Ich habe mich immer als Kumpel der beiden wahrgenommen, beim Sport konnte ich lange mithalten. Wenn wir zusammen spielen, fühle ich mich wie als Kind. Das ist schön. Lustige Randnotiz: Seit ich Grossvater bin, nennen mich auch meine eigenen Kinder «Non», also Rätoromanisch für Opa.

«Mein Vater hat mich früh mit dem Tod konfrontiert»

Wäre das Leben ein Slalomrennen, so würden Sie sich nun dem Ziel nähern. Mit welchen Gefühlen?
Ich würde die letzten Tore genau gleich entschlossen angreifen wie die ersten. Was nach der Ziellinie passiert, lasse ich auf mich zukommen. Ich hatte das Glück, dass mich mein Vater früh mit dem Tod konfrontiert hat. Er war im Rettungsdienst tätig und hat mich einmal zu einem Bergunfalleinsatz mitgenommen. Er näherte sich dem tödlich Verunfallten zuerst alleine, bevor er mich später zu sich bat und sagte: «Schau, so ist es.» Er hat mich nie vor der Realität geschützt. Mein Bruder hat sich mit 59 Jahren das Leben genommen. Er war ein Lebemann gewesen, führte ein Sportgeschäft und den Fextaler Bauernhof meines Grossvaters. Doch er litt zusehends an Depressionen – und hat vergeblich alles dagegen unternommen. Solche Schicksale, so schwer sie einen auch treffen, geben auch einen gewissen Halt.

Haben sie Ihnen auch ein wenig die Furcht vor dem Tod genommen?
Ja, ich habe keine Angst davor. Ich bin dankbar für alles, was ich erleben durfte und noch erleben darf. Obwohl ich mich fühle, als könnte ich noch ewig weiterleben, weiss ich, dass manch einer in meinem Alter morgens nicht mehr aufwacht. Meine Schwester ist 83, hat schon zwei Ehemänner verloren, sich aber trotzdem ihre Lebensfreude bewahrt. Unsere Mutter durfte im Kreis der Familie einschlafen, auch das empfand ich als tröstend.

Sind Sie gläubig erzogen worden?
Ich bete jeden Abend wie meine Eltern das Vaterunser auf Romanisch – auch wenn ich nicht dauernd in die Kirche renne. Sie haben mir vermittelt, dass der Glaube wichtig ist, aber nicht zum Zwang werden sollte. Hie und da eine Stunde in der Kirche tut mir gut. Ich trete jedes Mal geerdet wieder hinaus. Ich wurde mit viel Schwerem konfrontiert, aber ich habe stets einen Weg gefunden, damit umzugehen. Ich kann diese Schicksalsschläge verarbeiten und nach vorne schauen. Es ist schön, wenn man so durchs Leben gehen kann. ❋

Der Skitänzer von 1968

Der Schweizer Dumeng Giovanoli faehrt im Lauberhorn-Slalom 1968 auf den ersten Rang und wird zweiter in der Kombination. 1970 erreichte er den zweiten Rang im Slalom. (KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/Str)

© Keystone

Wegen seines ästhetischen Fahrstils nannte ihn ein Teamkollege einst «Dancer» – Tänzer. Der Engadiner Dumeng Giovanoli schaffte 1968 als Skifahrer das Kunststück, hintereinander die Slaloms von Wengen und Kitzbühel zu gewinnen. Er beendete die Saison als weltbester Slalomfahrer und landete im Gesamt-Weltcup auf Rang 2. Der 79-Jährige gewann in seiner Karriere fünf Weltcuprennen, holte sich 1968 die WM-Silbermedaille in der Kombination und 1970 WM-Bronze im Riesenslalom. Wegen einer Knorpelverletzung im Knie musste der gelernte Koch seine Karriere frühzeitig beenden und übernahm in Sils mit seiner Frau Ursula das Hotel Privata. Seit 2008 führt Tochter Corina den Familienbetrieb. Der Silser ist Vater von vier erwachsenen Kindern und hat sich jahrzehntelang für seine Heimat und den Engadiner Skisport engagiert.

Beitrag vom 10.02.2020