
Maria Walliser: «Ich bin am Leben gewachsen»
Statt über ihre Zeit als Skirennfahrerin redet Maria Walliser heute lieber über das Vitamin Folsäure, ihren Hang zum Rastlosen – und wie sie in den Bergen, mit Yoga und Achtsamkeit einen Ausgleich gefunden hat.
Interview: Fabian Rottmeier
Seit Ihrem Rücktritt sind 35 Jahre vergangen. Inwiefern sind Sie der damals 26-Jährigen treu geblieben?
Indem ich immer noch neugierig bin. Schon als Mädchen ging ich gerne auf Entdeckungstouren. Und mein Gerechtigkeitssinn ist immer noch sehr ausgeprägt. Es gibt auch eine Eigenschaft, die mir eher unangenehm ist: mein Helfer-Gen, obwohl es für mich eigentlich nichts Negatives ist. Als Spitzensportlerin musste ich oft über meinen Schatten springen und egoistisch handeln. Heute tue ich das nur noch, wenn ich ein sportliches Projekt plane. Etwa eine Bergtour, auf der ich alleine sein möchte.
Worüber definieren Sie sich heute?
Das ist eine schwierige Frage. Ich müsste eine sehr nachdenkliche und selbstsichere Person sein, um sie zu beantworten. Aber das kann ich nicht von mir behaupten. Ich hatte nie die Erwartungshaltung, dass ich nach der Skikarriere ein Siegertyp bleiben würde. Gewiss haben mich die vielen Herausforderungen in meinem Leben wachsen lassen. Von der Teenagerin zur Profisportlerin, von der bekannten Persönlichkeit zur Familienfrau oder von der Mutter zur Managerin. Auch wenn diese Übergänge nicht immer selbst gewählt waren, haben sie mir doch aufgezeigt, wie sich Dankbarkeit, Demut, Gesundheit, Liebe, aber auch Abnabelung, Verlust, Treue und Vertrauen auf das Selbstwertgefühl auswirken.
«Manchmal habe ich Mühe, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.»

Was ist Ihnen heute wichtiger als früher?
Mit dem Älterwerden möchte ich nicht mehr bloss auf meine Zeit als Skiprofi reduziert werden. Im Alltag als Skirennfahrerin blieb keine Zeit, um stolz auf meine Leistungen zu sein. Deshalb halte ich heute auch mal inne, bin stolz auf meine Arbeit, meine innere Ausrichtung und meine Begeisterung für Neues. Ich versuche, vermehrt auf mein Herz zu hören und für Ausgleich zu sorgen. Die Lebensschule geht immer weiter – und die Baustellen gehen auch nicht aus.
Zum Beispiel?
Manchmal habe ich Mühe, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Meditieren kann helfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Viele Dinge sind danach nicht mehr so wichtig wie zuvor.
Was macht diese Unterscheidung so schwierig?
Mein Charakter. Ich bin angepasst und möchte es allen recht machen. In Zukunft möchte ich mich nun etwas zurücknehmen. Ich spüre, dass dies zu meinem neuen Lebensabschnitt gehört. Mein 60. Geburtstag hat mich ziemlich beschäftigt. Plötzlich stellte ich mir Fragen wie: Was möchte ich eigentlich? Nun nehme ich mir mehr Zeit für mich. Das ist ein wichtiger Rückzug.
Sie sind ausgebildete Yogalehrerin und kommen gerade aus einer Yogawoche. Was bewirkt eine solche Auszeit?
Sie wirkt auf mein Inneres und meinen Körper. Diesmal fühlte sich sogar das Wetter magisch an. Ich lebe gerne mit den Jahreszeiten. Es geht um Dinge wie Licht und darum, dankbar für meinen beweglichen Körper zu sein. Es ist eine Auszeit von meinem unruhigen Geist. Am Ende hoffe ich jeweils, dass dieses Gefühl anhält.
«Das Ruhelose begleitet mich bis heute.»

Sie haben sich schon als 20-jährige Athletin mit Yoga beschäftigt.
Mentaltraining wurde damals vom Skiverband noch nicht gefördert. Wir waren selbst dafür verantwortlich, wie wir uns mental stärkten. Ich entdeckte Yoga durch ein Buch – als Sportlerin ergab darin vieles Sinn. Nicht nur, weil Yoga beweglicher macht und dadurch vor Verletzungen schützt, sondern auch, weil es sich beim Sitzen und Atmen positiv auf die Psyche auswirkt.
Yoga und Skifahren haben viel mit Gespür zu tun. Weshalb ist dies auf der Skipiste entscheidend?
Weil sich jeder zurückgelegte Meter anders anfühlt. Es gibt so viele Faktoren: der Schnee, die Temperatur, der Kurvenansatz, die Körperhaltung. Der Körper muss an gleichen Stellen stets unterschiedlich reagieren. Skifahren bedeutet permanente Veränderung. Es ist eine koordinativ wertvolle Sportart – für alle.
Zur Person
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Maria Walliser (* 27. Mai 1963) wächst im toggenburgischen Mosnang auf einem Bauernhof auf. Alle vier Kinder helfen beim angrenzenden Skilift aus, den die Familie betreibt.
- Mit 16 Jahren verdient sie als KV-Lernende bei der Blockfabrik Lichtensteig ihr erstes Geld mit Skirennen. Mit 17 folgt ihr Weltcup-Debüt, mit 18 gehört sie zum Nationalteam. Es folgen: 25 Weltcup- und 2 Gesamtweltcupsiege, 4 WM- und 3 Olympia-Medaillen.
- 1990 tritt Walliser mit 26 zurück. 1991 heiratet sie Guido Anesini, im Herbst folgt Tochter Siri, die mit Spina bifida geboren wird. 1996 stösst Noemi zu Anesinis, die in Malans leben.
- 2000 wird Maria Anesini-Walliser Präsidentin der Stiftung Folsäure Schweiz. Auf stiftung-folsäure.ch klärt diese über die positiven Effekte des Vitamins auf. Die 61-Jährige engagiert sich auch für das SOS-Kinderdorf und die Ronald-McDonald-Kinderstiftung.
Wie gelingt es, besser auf den eigenen Körper zu hören?
Indem man die Stille aufsucht. Deshalb zieht es mich in die Natur, in die wunderbare Bergwelt, in den Wald, auf verschneite Hügel und Pisten.
Dies scheint sich ideal mit Ihrem Bewegungsdrang zu ergänzen.
Schon als Kind wollte ich immer nach draussen. Ich sage heute jeweils spasseshalber, dass ich auf unserem Bauernhof im «Aussendienst» tätig war: im Stall, auf dem Heustock oder im Winter am angrenzenden Skilift, den wir als Familie betrieben. Dieses Ruhelose begleitet mich bis heute.
Betrachten Sie diesen Drang als Stärke?
Ich schon, meine Familie hingegen findet das Ruhelose manchmal bemühend. An ausgleichender Balance mangelt es mir nicht. Ich kann problemlos eine Stunde meditieren und habe mich auch in Achtsamkeit oder im Waldbaden ausbilden lassen.
Sie haben einmal gesagt, dass Sie in den Bergen der Antwort, wer Sie sind, am nächsten kommen. Weshalb?
Je anstrengender der Berg, je höher der Puls, desto weniger denke ich an Sorgen oder Pendenzen. Da gibt es nur mich, meinen Atem, meine Schritte, meine Erschöpfung – und meinen Mut und Stolz.
Zu Ihrem 60. Geburtstag wünschten Sie sich die Besteigung eines 6000er-Gipfels in den Anden – nur für sich.
Ich wählte nicht den höchsten Berg der Region, um die Chance zu erhöhen, niemandem zu begegnen. Wo genau, behalte ich für mich. Eine Woche lang war ich alleine mit drei lokalen Guides unterwegs. Ich holte Gletscherwasser, zeltete auf 5000 Metern, freute mich über das Wetterglück – und sprach fast kein Wort. Eine wahnsinnig schöne Erfahrung.

Mit der Geburt Ihrer Tochter Siri, die mit Spina bifida, einem offenen Rücken, zur Welt kam, lag mit 28 Jahren eine grosse Herausforderung vor Ihnen. Wie wächst man in eine solche Aufgabe hinein?
Mit der Kraft der Liebe. Auch Siri half uns enorm. Sie ist ein Sonnenschein und empfindet ihre Beeinträchtigung oftmals als weniger gravierend als ihr Umfeld. Sie lässt uns spüren, was Lebensfreude bedeutet. Traurig stimmt uns aber, dass die Inklusion, also die natürliche Zugehörigkeit und Integration von Menschen mit einer Beeinträchtigung, in der wohlhabenden Schweiz noch immer stiefmütterlich behandelt wird.
Als Folge von Siris Geburt engagierten Sie sich 2000 für die neu gegründete Stiftung Folsäure Schweiz. Ein Mangel des Vitamins B9 begünstigt bei Embryos die Bildung eines offenen Rückens. Was bringt Ihr Amt als Präsidentin mit sich?
Ich pflege Kontakte und bin sowohl Botschafterin als auch Managerin. Im Fokus steht unser Stiftungszweck: Wir klären die Schweizer Bevölkerung und insbesondere Paare mit Kinderwunsch darüber auf, wie wichtig das Vitamin Folsäure/B9 ist. Die Aufgabe beschäftigt mich täglich. Ich akquiriere neue Partner, betreue alle Projekte und Gesuche und tausche mich mit dem Stiftungsteam aus.
«Ich möchte ein bisschen ausgefallen bleiben und mir Dinge, die ich noch kann, nicht nehmen lassen, bloss weil ich älter geworden bin.»
Unser Körper nimmt künstliche Folsäure besser auf als natürliche. Spricht dennoch etwas dafür, Folsäure übers Essen einzunehmen statt per Nahrungsergänzung?
Nein, denn Folsäure ist sehr sensibel. Sie ist wasserlöslich, lichtempfindlich und nicht hitzeresistent. Nach dem Kochen oder Backen bleibt davon wenig übrig. Eine ausgewogene Ernährung mit viel Gemüse, Rohkost und Hülsenfrüchten genügt für den Tagesbedarf von 200 Mikrogramm. Bei Kinderwunsch und im Alter reicht das aber nicht. Da braucht es das Doppelte. Das erreicht man am besten mit Multivitaminpräparaten oder Nahrungsergänzungsmitteln.
Weshalb sollten sich auch ältere Menschen für Folsäure interessieren?
Weil sie beim Älterwerden essenziell wird: Folsäure ist an der Zellteilung beteiligt, ein Vorgang, der wichtig für Wachstum und Heilung ist. Demenz, Gehirnleistung oder Hautalterung stehen mit der Zellteilung in Verbindung. Spannend: In knapp 90 Ländern wird Folsäure staatlich verordnet und im Mehl beigemischt. Aus diesen Staaten zeigten mehrere Studien einen Rückgang von Geburten mit Spina bifida um mehr als die Hälfte auf. Eine weitere Untersuchung aus den USA verzeichnete einen Rückgang von Schlaganfällen bei älteren Menschen.
Wie möchten Sie selbst alt werden?
Ich möchte ein bisschen ausgefallen bleiben und mir Dinge, die ich noch kann, nicht nehmen lassen, bloss weil ich älter geworden bin. Solange mich meine vom Skisport geplagten Füsse tragen, plane ich weiterhin meine Projekte in den Bergen. Sie tun mir gut. Es geht auch um eine aktive Haltung, die ich mir erarbeitet habe – und bewahren möchte.
Die fast perfekte Skikarriere

Toggenburger Skimode Das Bild zeigt die achtjährige Maria Walliser (Startnummer 3) mit ihrer drei Jahre älteren Schwester Prisca. Nicht nur die umgehängten Startnummern für das Schulskirennen in Mosnang sind selbstgemacht. Maria Walliser: «Lange strickte uns meine Mutter Skipullover und schneiderte Skihosen. Als ich meine ersten Nachwuchsrennen fuhr, schämte ich mich immer ein wenig dafür.»

Heim-WM mit Doppelgold An der WM 1987 in Crans-Montana gewinnt die Schweiz acht von zehn möglichen Rennen. Pirmin Zurbriggen, Erika Hess und Maria Walliser brillieren mit je zwei Goldmedaillen. Die Toggenburgerin siegt in der Abfahrt und im erstmals ausgetragenen Super-G. Zudem holt sie Bronze im Riesenslalom. «Obwohl der Druck enorm war, war ich recht entspannt und plauderte sogar mit den Armeeangehörigen, welche die Pisten präparierten und sich riesig über unsere Siege freuten. Zur Feier nach Mosnang flog man mich per Helikopter – wofür mich der ‹Blick› als Umweltsünderin abtat.»

WM-Titel verteidigt – und wie Die WM 1989 im amerikanischen Vail sollte der letzte Grossanlass für Maria Walliser bleiben. In der Abfahrt verteidigt sie ihren Titel mit einem sensationellen Vorsprung von eineinhalb Sekunden auf die Zweitplatzierte. «Ich war sehr gut drauf. Es wären mehr Medaillen möglich gewesen. Stattdessen wurde ich noch zweimal Vierte. Unvergesslich auch, wie intensiv der Schnee dort wegen der klirrenden Kälte glitzerte.»