© Gerard Visser

Teil 4: My way Tagebuch einer Sterbenden

Mir ist seit jeher gewiss, zum Leben gehören Licht und Schatten. Wer geboren wird, wird auch sterben. Das ist die einzige Gewissheit, mit der wir alle leben. Und doch wollen wir sie meist nicht wahrhaben. Wir leben, als würde unser Dasein ewig dauern. Meine Hirntumore mahnen mich aber dazu an, es anders zu machen. Ich kann meinen Lebensabend nicht wie andere auf die Zeit «nach der Pensionierung» verschieben. Denn diese werde ich voraussichtlich erst gar nicht erleben. 

Es war schon immer so: Spürte ich einen inneren Wunsch, folgte ich diesem. War ich davon überzeugt, etwas tun zu müssen, folgte ich dem Wunsch konsequent. Ich bin immer meine Wege gegangen, allen Warnungen zum Trotz! So kommt es, dass ich auch nach der Krebsdiagnose nichts bereue. Es gibt nichts zu bereuen, was ich in meinem Leben gemacht habe. Und, genauso wichtig: nichts, was ich nicht gemacht habe.

Ich liege in Olten im Krankenbett, und das Lied «My Way», interpretiert von Frank Sinatra, kreist mir im Kopf. «My Way» heisst für mich: Ich tue etwas auf meine Art. Der Song handelt von Selbstbestimmung, Stärke und der Entscheidungsgewalt im Leben. Wer die Freiheit wählt, muss auch die Verantwortung, die Konsequenzen akzeptieren. Ob diese nun gut oder schlecht sind. Seit ich mich erinnern kann, tue ich genau das. Zum Glück liessen das meine Eltern schon seit jeher zu. Auf meinen inneren Kompass ist Verlass. Ich richte diesen regelmässig neu aus.

Es war schon immer so: Spürte ich einen inneren Wunsch, bin ich diesem gefolgt. War ich davon überzeugt, etwas tun zu müssen, habe ich es getan.

Deshalb kann ich die Krankheit ohne Hadern annehmen – samt der Tatsache, dass ich nicht mehr lange zu leben habe. Ich verschwende keine Energie in den nicht zu gewinnenden Kampf gegen den Krebs. Mein Körper kann dadurch, ohne gestresst zu sein, eher Glückshormone ausschütten. Statt zu hadern, richte ich meinen Blick auf das Gelingende, das Schöne. Für diesen Blick bin ich dankbar. Er ist weit zuträglicher als das Negative, das Störende. Das Sterben lässt die Uhr einzig lauter ticken. 

Ich habe keine lange «Bucket List», was ich noch tun möchte, bevor ich sterbe. Die Häkchen setzte ich bereits in gesunden Jahren. Sei es in der Ausbildung, in der Stellenwahl, im Reisen, in der Wahl meines Ehemannes und so weiter. Manchmal brauchte es etwas Mut, seinem Weg zu folgen – und sich nicht durch die Ängste anderer verunsichern zu lassen. Mir hat die Natur offenbar diese Kraft mitgegeben. Glück gehabt.

Bronnie Ware, eine australische Krankenschwester und Sterbebegleiterin, fasst in ihrem Buch «Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen» zusammen: Viele stellen ihre eigenen Wünsche hintan. Menschen arbeiten oft zu viel, nehmen sich zu wenig Zeit für Familie und Freunde. Und – vor allem – sie erlauben es sich nicht, glücklich zu sein.

Auch ich arbeitete vielleicht etwas zu viel und nahm mir zu wenig Zeit für meine Familie, meine Liebsten, die Freunde. Das hat sich durch den Krebs grundlegend verändert. Ich kann jetzt nicht mehr arbeiten, habe folglich mehr Zeit für meine Nächsten. Was aber bereitet mir sonst noch Freude? 

Heute ist ein sonniger Tag. Im Park des Claraspitals überlege ich mir, welche Dinge ich noch gerne erleben würde. Mir kommt als erstes (Improvisations-)Theater in den Sinn. Ich möchte gerne nochmals mit meinem Liebsten herzhaft lachen. Nicht über einstudierte Witze, sondern über inszenierte Szenen, die Lieder hören und den Tanz bestaunen, mit denen die Stücke manchmal untermalt sind. Uns gemeinsam an den starken Gesichtsausdrücken erfreuen. Vorstellungen besuchen und uns köstlich darüber amüsieren.

Also schaue ich mir das Theaterprogramm der nächsten Wochen an. Ich weiss nicht, wie lange ich fit genug bin, um an Aufführungen teilzunehmen. Das Theater Basel inszeniert die Zauberflöte von Mozart. Ich erinnere mich, wie ich vor vielen Jahren mit meinem damaligen Freund in Wien die Zauberflöte erleben durfte. Ich war kein Fan der Oper. Doch die Buntheit und Fröhlichkeit dieser Aufführung zog mich in ihren Bann. Das «papa papa gena …» purzelt mir gerade wieder durch die Ohren. 

Eine kulturbegeisterte Freundin begleitet mich in die Vorstellung. Ich erkenne plötzlich Botschaften, die ich beim ersten Mal in Wien nicht gehört hatte. Es geht in dieser Oper auch ums Sterben und um den Sinn des Lebens. Fast jede Strophe hält für mich neue unterschwellige Botschaften bereit. Ich bin fasziniert davon, dass meine Freundin diese Botschaften nicht hört oder sieht. Das zeigt mir einmal mehr, dass das Leben nicht nur eine Wahrheit kennt. Unsere Wahrnehmung kann immer nur das aufnehmen, wozu wir bereit sind. Sie ist darauf ausgerichtet, wo wir im Leben aktuell stehen.

Nun will ich all meine Nächsten wieder sehen. Darauf freue ich mich sehr.


Aktuell tourt die Basler Psychologin durch die Schweiz und liest in diversen Städten aus ihrer Autobiografie. Eine Übersicht ihrer Auftritte finden Sie unter psyche-staerken.ch/autobiografie

Mehr über Ihr Buch «Volle Pulle leben – Lebe Deins, jetzt», in dem Michèle Bowley über Ihr Leben und Sterben schreibt, finden Sie hier.

Beitrag vom 03.04.2023

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