Mame mit Maria, Fridolin und zwei Freundinnen © privat

Von Gestern sein und darüber schreiben

Maria Galizia-Fischer ist 91 Jahre alt und Jungautorin. Ihr Erstling «Ich bin aus dem Freiamt, wisst ihr, wo das ist?» erschien im April im Limmat Verlag. Darin entführt sie in eine Schweiz, die so nur noch wenige kennen.

Text: Maximilian Jacobi

Der Titel müsste eigentlich anders lauten. Nicht: «Ich bin aus dem Freiamt, wisst ihr, wo das ist?» – sondern: «… wisst ihr, wo das war?» Klar, das Freiamt als Region besteht noch immer, im Südosten des Kantons Aargau. Doch das Freiamt, das Maria Galizia-Fischer in ihrer Autobiographie beschreibt, existiert nicht mehr.

Das Buch beginnt in der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember 1933, mit der Geburt der heute 91-jährigen Autorin. Von dort arbeitet sich die Handlung vor, immer schön chronologisch: frühe Kindheit, Schulzeit, Ausbildung, Kennenlernen des künftigen Ehemannes. Alles wirkt geradlinig und übersichtlich, wie ein frischgepflügter Acker.

Doch im Gegensatz zu nackter Erde ist die Handlung nicht öde. Dafür birgt die Erzählung zu viel Exotik. Ältere Leserinnen und Leser erinnern sich vielleicht noch. Doch von Jüngeren verlangt es einiges an Fantasie, sich vorzustellen, dass das alles im Land spielt, in dem wir heute leben – vor keinen hundert Jahren.

Heimathof, Südfassade und Treppenaufgang in die obere Wohnung
Heimathof, Südfassade und Treppenaufgang in die obere Wohnung © privat

Die Tochter wird weggegeben

Diese Kleinräumigkeit: Mit fünf Jahren verlässt Maria erstmals das Freiamt per Postauto. Und Tante Frida, die sie begleitet, sagt zu ihr: «Bald sind wir auf der Brücke über die Reuss, da musst du gut achtgeben, ennet der Reuss sind alle reformiert.»

Diese Umstände: Marias Schwester Julia wird weggegeben. Sie kommt zu Onkel Anton, einem Priester. Da der nicht heiraten darf, hat er seine Schwester Anna verpflichtet, bei ihm zu leben, ihn zu bekochen und hauszuhalten. Dabei wünscht Anna sich nichts sehnlicher, als eine eigene Familie zu gründen. Um Tante Anna den Kinderwunsch doch irgendwie zu erfüllen, übergeben Marias Eltern die Tochter Julia in die Obhut von Tante Anna und Onkel Anton.

Diese Heilmethoden: Seit sie 18 Jahre alt ist, leidet Tante Babette an Gicht. Da die Medikamente nicht wirken, versuchen es die Ärzte mit einer neuen Methode. Sie brechen Babette alle Gelenke an Händen und Füssen. Mit dem Resultat, dass Babette nicht mehr stehen und kaum noch durch eine Zeitung blättern kann. Sie lebt in einem Sessel im Obergeschoss von Marias Zuhause, hört Radio und schluckt täglich vier Schmerztabletten mit Malagawein.

Maria Galizia-Fischer sagt, sie habe das Buch für ihre Enkelinnen und Urenkel geschrieben. Das merkt man. Sie spinnt keine Erzählstränge, die Lesende ins Buch ziehen. Sie erzählt, wie es eine Grossmutter am Küchentisch tut. Man muss sich schon darauf einlassen. Aber sie macht es einem leicht. Die Kapitel sind nicht zu kurz und nicht zu lang. Und enden oft mit subtilen Pointen.


Interview mit Maria Galizia-Fischer

Frau Galizia-Fischer, wie fühlt es sich an, ein Stück des eigenen Lebens festzuhalten?
Ich habe dabei viel über mich herausgefunden: Wie die Dinge waren, wie ich heute darüber denke, wie ich damals reagierte. Meine Gross- und Urgrosskinder lesen das Buch derzeit. Es ist eigenartig. Ich habe ihnen immer wieder von meiner Kindheit erzählt. Aber ich merkte, dass nicht immer viel Interesse vorhanden war. Aber jetzt, wo ich es geschrieben habe, schon.

Buchautorin Maria Galizia Fischer
© Ayse Yavas

Zuhören fällt nicht immer leicht …
Ja, es läuft immer viel, alles ist in Bewegung. Aber jetzt können sie das Buch in Ruhe lesen.

Hatten Sie bereits Erfahrung darin, längere Texte zu schreiben?
Bis auf Briefe überhaupt nicht, zum Schreiben fehlte mir früher die Zeit. Wir hatten fünf Kinder, mein Mann starb mit 61 Jahren. Ich war damals 52. Vier Kinder waren noch in Ausbildung. Ich war Lehrerin und musste viel arbeiten. Da bin ich nicht auf die Idee gekommen, zu schreiben.

Fiel Ihnen das Schreiben schwer?
Am Anfang gar nicht. Ich ging zum Schreiben des Buches einfach immer ins Bett. Ich schrieb alles von Hand, ganz bequem. Und meine Grosskinder haben mir den Text dann auf dem Computer eingetippt.

Schrieben Sie vor dem Schlafengehen?
Nein, durch den Tag hindurch. Türe zu, dann fühlte ich mich geschützt. Ich habe das Telefon nicht abgenommen und anderthalb Stunden lang geschrieben.

Immer zur gleichen Tageszeit?
Nein, sehr unregelmässig und mit Unterbrüchen. Als eine meiner Töchter starb, habe ich ein Jahr lang gar nichts geschrieben. Da ging es mir zu schlecht. Aber spontan bekam ich wieder Lust dazu. Manchmal musste ich mich aber auch zwingen.

«Es müsste vorgeschrieben sein, dass jeder seine Geschichte aufschreibt.»

Wie oft schrieben Sie in den aktiven Phasen. Täglich?
Nein, einmal in der Woche. Ich habe ja auch sieben Jahre an dem Buch geschrieben. Ich habe dabei nie gedacht, dass man es veröffentlichen würde.

Hatten Sie sonst keine Schwierigkeiten beim Schreiben?
Doch, Ruhe zu finden war schwierig. Ich lebe in einem lebendigen Haus. Das kommt noch von meinem Mann Rico Galizia, er war Bildhauer. Ihn besuchten immer viele Freunde. Auch jetzt kommen noch viele vorbei, denn sein Werk ist nach wie vor im Haus. Aber sobald ich in meinem Bett lag, war es wunderbar zum Schreiben. Dann kam es wie von selbst.

Fiel es Ihnen nicht schwer, sich zurückzuerinnern?
Nein. Ich glaube, das verdanke ich meiner Mutter: Wir haben uns sonntags immer so viel erzählt. Auch später noch, als ich erwachsen war. Für das Buch fielen mir die Geschichten wieder ein. Ausserdem habe ich meine jüngere Schwester Julie oft gefragt: Erinnerst du dich auch daran, fantasiere ich nicht? Um die Gespräche mit ihr war ich sehr froh.

Wie fanden Sie einen Verlag für Ihr Buch?
Das verdanke ich meinem jetzigen Partner Ernst Halter. Er ist Schriftsteller und hat schon viele Bücher in verschiedenen Verlagen herausgegeben, auch im Limmat Verlag. Er hat dann gesagt: «Du, das schicken wir jetzt einfach dorthin.» Und sie haben sofort zugesagt. Da bin ich etwas erschrocken.

Hat Ernst Halter Ihre Texte gegengelesen?
Ja. Und beim ersten Mal, als ich etwas aufgeschrieben hatte und es ihm vorlas, sagte er: «Also da musst du noch zünftig dahinter.» Er war ja jahrelang Lektor bei Orell Füssli. Er war es auch, der mich zum Schreiben ermunterte.

Würden Sie auch anderen Menschen raten, ihre Geschichte aufzuschreiben?
Unbedingt. Wie wichtig das ist, fiel mir erstmals auf einer Reise nach Tschechien auf, in der Stadt Eger, nahe der deutschen Grenze, in ehemaligem Sudetenland. In der Kirche hingen Briefe an Wäscheleinen. Darin schilderten die Leute der Stadt den Hunger und die Vertreibungen, die sie im Verlauf des Zweiten Weltkriegs erlebt hatten. Die Leinen wären leer gewesen, hätten die Leute es nicht aufgeschrieben. Ich sehe das ähnlich wie mein Partner. Er sagt oft: «Es müsste vorgeschrieben sein, dass jeder seine Geschichte aufschreibt.»

Wollen Sie noch ein Buch schreiben?
Das würde ich gerne. Vielleicht glückt es. Aber ich habe viel zu tun zurzeit. Auch mit meinem Partner. Er leidet an Depressionen und ich besuche ihn viel – wir wohnen nicht zusammen. Ich weiss also nicht, ob ich noch ein weiteres Buch schaffen werde. Irgendwann endet eben auch meine Geschichte.

Biografie

Maria Galizia-Fischer kam 1933 im aargauischen Freiamt zur Welt. Mit neun Geschwistern wuchs sie auf einem Bauernhof in Merenschwand auf. Obwohl von Bauerntöchtern im katholischen Freiamt anderes erwartet wurde, liess sie sich zur Lehrerin ausbilden. Später heiratete sie den Bildhauer Rico Galizia. Die beiden bekamen fünf Kinder. Als Galizia-Fischer 52 Jahre alt war, starb ihr Mann, woraufhin sie ihre Kinder allein aufzog. Ihr heutiger Partner, der Schriftsteller Ernst Halter, ermutigte sie dazu, ihre Kindheitserinnerungen aufzuschreiben. Mit 91 Jahren hat sie nun ihr erstes Buch veröffentlicht.


Maria Galizia-Fischer: Ich bin aus dem Freiamt, wisst ihr, wo das ist? Limmatverlag 2025, 208 Seiten, ca. Fr. 32.-

Beitrag vom 28.05.2025

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