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Wir Angsthasen

Die englische Sachbuch-Autorin Kate Summerscale hat ein Lexikon der Phobien und Manien erstellt. Wovor wir uns fürchten, sagt viel über unsere Seelenlandschaft aus – und über die Verwerfungen und Umbrüche der Gesellschaft.

Text: Claudia Senn

Wir Menschen sind zerbrechliche Geschöpfe, unter deren Seelenschale allerlei Ängste und Sehnsüchte vor sich hin blubbern, bereit, überraschend an die Oberfläche zu schiessen wie ein dampfender Geysir. Nicht selten wächst sich eine ehemals harmlose Furcht zu einer voll entwickelten Phobie aus. Doch machen uns solche unheroischen Momente des Kontrollverlusts nicht erst recht zum fühlenden Wesen, das eben nicht immer alles im Griff hat?

Die englische Autorin Kate Summerscale widmet sich in ihrem «Buch der Phobien und Manien» diesen herausfordernden Seiten des Menschseins. Jede zehnte Frau und jeder zwanzigste Mann, so hat die WHO ermittelt, leiden im Laufe ihres Lebens mindestens einmal an einer phobischen Störung. Bei Kindern tritt sie gehäufter auf als bei Erwachsenen, bei Älteren nur noch halb so oft wie bei Jüngeren. Zudem scheinen nicht alle Gesellschaften gleich empfänglich für übertriebene Furcht zu sein. Als Welt-Zentrum der Paranoia können wohl die USA gelten, wo ganze 70 Prozent der Bevölkerung angeben, an unverhältnismässigen Ängsten zu leiden. 

Geholfen werden könnte den meisten heute gut. Die Kognitive Verhaltenstherapie gilt als Wunderwaffe gegen Arachnophobie (die Angst vor Spinnen) oder Aerophobie (Flugangst), gegen Mysophobie (die Angst vor Krankheitskeimen) oder Urinophobie (die Angst vor öffentlichen Toiletten). Nur sucht bloss einer von acht Angstpatientinnen und -patienten überhaupt professionelle Hilfe. Die anderen leiden im stillen Kämmerlein und weichen dem Gegenstand ihrer Panik aus, so gut es eben geht.

Woran sich unsere Angst festmacht, sagt viel über unsere individuelle Seelenlandschaft aus, ist aber auch Spiegel des Zeitgeists und aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen. So ist die Nomophobie – eine scherzhafte Verkürzung des Ausdrucks «no-mobile-phone-phobia» (die Angst, kein Handy dabeizuhaben) – eine relativ neue Erscheinung, die immer mehr Menschen befällt. Eine Studie der britischen Postbehörde aus dem Jahr 2008 ergab, dass 53 Prozent der Befragten nervös wurden, wenn sie ihr Handy vergessen hatten, wenn der Empfang schlecht war oder der Akku zur Neige ging. Inzwischen dürfte sich der Prozentsatz der Nomophobiker noch einmal deutlich erhöht haben. Eine Studie aus dem Jahr 2012 bezeichnete Mobiltelefone als «die vermutlich grösste nicht-drogenbedingte Abhängigkeit des 21. Jahrhunderts».

Wie Kate Summerscale in ihrem ebenso detailreich wie unterhaltsam und empathisch verfassten Buch aufzeigt, kann sich der Mensch grundsätzlich vor allem fürchten. Selbst vor Knöpfen (Koumpounophobie), Bärten (Pogonophobie), Watte (Bambakomallophobie) oder langen Wörtern (Hippopotomonstrosesquippedaliophobie). 

Auch vermeintlich Angstfreie sollten sich ihrer Sache nicht allzu sicher sein. Als die Autorin mit den Recherchen zu ihrem Buch begann, glaubte sie noch, an keinerlei Phobien zu leiden. «Doch als ich fertig war, hatte ich mich in so gut wie alle hineingesteigert.» Manche Schrecken braucht man sich eben nur vorzustellen, und schon verspürt man sie am eigenen Leib.

Kate Summerscale: Das Buch der Phobien und Manien.


Kate Summerscale: Das Buch der Phobien und Manien.
Klett-Cotta-Verlag 2023, 352 Seiten, ca. 35 Franken.

Beitrag vom 25.11.2023

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