© Renate Wernli

Happy Birthday, Franz Hohler!

Wir gratulieren dem Oltner Schriftsteller, Kabarettist und Liedermacher zum 80. Geburtstag – und kramen zum Nachlesen ein spannendes Interview von 2004 aus dem Zeitlupe-Archiv hervor.

Dieses Interview stammt aus einer Zeitlupe-Ausgabe aus dem Jahr 2004


Interview: Usch Vollenwyder, Foto: Renate Wernli

Sie schenkten sich zum 60. Geburtstag letztes Jahr eine Pause und zogen sich aus der Öffentlichkeit zurück. Warum?
Aus einem Bedürfnis heraus, einen Schritt zurück aus dem organisierten Alltag zu machen und mir eine Zeit ohne berufliche Abmachungen und ohne Terminkalender zu gönnen. Ich nahm solche Auszeiten schon früher – etwa alle zehn Jahre.

Worin unterschied sich die jetzige Auszeit von früheren Pausen?
Die Frage, was ich in meinem Leben noch machen möchte, ist wichtiger geworden. Doch eigentlich tut es einem zu jedem Zeitpunkt gut, den Tod als Ratgeber zu haben und sich zu fragen: Was würde ich tun, wenn ich nur noch ein Jahr lang zu leben hätte?

Und welche Antwort geben Sie?
Darauf habe ich keine Blitzantwort. Vielleicht würde ich einen Teil der schon eingegangenen Verpflichtungen wieder rückgängig machen. Vielleicht würde ich aber auch gar nichts ändern. Ich habe ja nur Abmachungen getroffen, die mir Spass machen: Lesungen in der Schweiz, im November trat ich in den USA auf, im Januar ist eine Auftrittsreise in Lateinamerika geplant.

Hat Ihre Pause von der Öffentlichkeit Ihre Erwartungen erfüllt?
Es ist mir nicht alles so gelungen, wie ich mir das vorgestellt hatte. Ich hoffte eigentlich, dass ich nach diesem Jahr meine Bibliothek aufgeräumt, alle meine Manuskripte versorgt, mein Archiv geordnet und viele Dinge weggeworfen hätte. Ich wollte mehr aufräumen – und das tatsächlich im Hinblick aufs Alter.

Warum im Hinblick aufs Alter?
Weil ich sehe, dass viele Leute beim Älterwerden den Moment verpassen, sich von materiellen Dingen zu entlasten und sich zu fragen: Was ist zu viel? Was brauche ich noch davon? Jetzt habe ich diese Aufgabe noch vor mir.

«Es tut gut, zu fragen: Was täte ich, wenn ich nur noch ein Jahr zu leben hätte?»

Sie haben in dieser Zeit auch gearbeitet.
Ja, vor allem hier in meinem Arbeitszimmer, meiner Denkfabrik, in meiner Wortwerkstatt. Eigentlich tat ich das, was jeder Schriftsteller tut: Ich traf möglichst wenig Abmachungen, um in Ruhe bei mir und meiner Arbeit bleiben zu können. Und dabei ist ein neues Buch entstanden. Es war am ersten schönen Tag nach meinem 60. Geburtstag. Ich machte eine Wanderung, schrieb darüber, hielt meine Eindrücke fest und dachte: So etwas könnte ich eigentlich jede Woche machen. Etwa von der vierten Woche an war ich sicher, dass dies ein Jahresprojekt werden würde. Vorgesehen war es nicht, es hat mich selber überrascht.

Sie haben also einfach das Wandern und das Schreiben miteinander verbunden?
Mir gefielen die literarischen Möglichkeiten, die sich durch die Wanderungen ergaben. Aber ein eigentliches Wanderbuch im Sinn von «nach zwei Stunden erreicht man die Meglisalp, dann auf der ersten Brücke nach rechts, anschliessend die Geröllhalde überqueren …» ist es nicht geworden.

Die 52 Wanderungen in diesem Buch lassen sich also nicht nachwandern?
Doch. Aber wichtig ist, was ich an einem solchen Tag festhalten wollte. Die kürzeste Wanderung in diesem Buch ist ein Gang durch Olten, wo ich aufgewachsen bin. Sie dauerte eine halbe Stunde und führte vom Bahnhof zurück in mein Elternhaus. Ich beschrieb sie unter dem Titel «Nach Hause». Eigentlich wurde sie zu einem Gang durch meine Jugend.

Fiel es Ihnen schwer, nach diesem Jahr in den Alltag zurückzukehren?
Ich bekam noch mehr Lust auf Zeiten, die ich ganz für mich allein habe – ohne Verpflichtungen. Deshalb fiel mir der Wiedereinstieg in den beruflichen Alltag tatsächlich nicht leicht. Er fiel mit der Veröffentlichung meines Buches «Die Torte» zusammen. So bin ich jetzt vor allem für Lesungen unterwegs. Das mache ich gern. Doch die vielen Abmachungen bringen es mit sich, dass ich schon bald wieder überlegen muss, wann ich endlich neue Schuhe kaufe.

Die Kurzgeschichten im neuen Buch sind Gratwanderungen zwischen Fantasie und Wirklichkeit. Dabei ist die Frage: Was ist Fantasie und was ist Wirklichkeit?
Ist Fantasie nicht einfach Teil unserer inneren Wirklichkeit? Wir hören oder lesen ein paar Worte, zum Beispiel: ein grosses altes Haus. Aus diesen paar Worten erschaffen wir uns im grossen inneren Welttheater, das wir zur Verfügung haben, alle ein anderes Bild von einem grossen alten Haus. Und schon sind wir mittendrin in unserer inneren Wirklichkeit.

Eine Trennung zwischen Realität und Fantasie ist also manchmal schwierig?
Die Fantasie lauert hinter oder unter der Realität – und wie durch Klapptüren kann man sehr schnell hineinfallen. Manchmal ist zwischen Fantasie und Wirklichkeit aber auch eine grüne Grenze, über die wir laufend hin und her verkehren. Selten kommt ein Grenzbeamter und will unseren Ausweis sehen.

Loten Sie diese Grenze ganz bewusst aus?
Natürlich, das ist wie ein Spiel. Häufig beginnen meine Geschichten im Alltag. Dann kommt irgendwann der Übergang, und man realisiert: Hoppla, jetzt ist diese Grenze überschritten. Das macht Spass. Ich erzähle gern das Unwahrscheinliche so, dass es wahrscheinlich scheint.

Machen Sie für Ihre Geschichten ein Konzept?
Am Anfang steht fast immer ein eigenes Erlebnis, ein Motiv, das mich manchmal schon jahrelang begleitet hat. Dann fange ich an zu schreiben und weiss meistens nicht, wie sich die Geschichte entwickeln und wie sie ausgehen wird. Man muss aber auch offen durch die Welt gehen, um zu merken, was alles der Anfang einer Geschichte sein könnte.

In Ihren Geschichten, in den Bühnen-Programmen, den Radio- und Fernsehbeitragen schimmert auch immer Ihre politische Haltung durch. Sind Sie nicht langsam müde, gegen Windmühlen zu kämpfen?
Ich betrachte mich nicht als hauptberuflichen Kämpfer, sondern als Fantasieverarbeiter. Diese Fähigkeit bringt es mit sich, dass ich mir etwas anderes als den Normalbetrieb vorstellen kann – und schon ist der Schritt in die politische Landschaft hinein getan. Auch in der Politik gibt es die Reibungsfläche zwischen der Welt, wie wir sie vorfinden, und der Welt, wie sie sein könnte.

Was erhoffen Sie sich von Ihrem Engagement?
Ich erwarte keine Wunder mehr. Ich bin inzwischen alt genug, um zu wissen, dass die Welt nicht anders läuft, nur weil sie meiner Meinung nach anders laufen sollte. Ich kann vielleicht Leute ermutigen, die ähnlich denken wie ich. Und manchmal gelingt es mir, mit einer Aussage Menschen zu erreichen, die in einer bestimmten Frage noch unentschieden sind.

In einem Interview vor zwanzig Jahren sagten Sie, eigentlich sollten wir uns über den Wahnsinn um uns herum täglich wundern. Wo orten sie heute den grössten Wahnsinn?
Da ist es schwierig, eine Hitliste zu machen. Vielleicht in der Globalisierung. In Sekundenschnelle können wir miteinander kommunizieren, in 24 Stunden erreichen wir praktisch jedes Land auf der Welt. Und trotzdem haben wir unsere Konflikte in keiner Weise gelöst, hat sich unser Verhalten nicht geändert. Wir kennen einander überhaupt nicht besser. Wir hinken unserer eigenen Entwicklung hinterher.

Haben Sie denn Hoffnung für die Zukunft?
Ich kann es immer noch nicht besser sagen als Luther, der meinte: «Wenn ich wüsste, dass die Welt morgen untergeht, würde ich heute noch ein Bäumlein pflanzen.» Das ist das Prinzip Hoffnung: irrational – bis dort und äne use.

«Das Älterwerden bedeutet für mein Schreiben eine grosse Qualität.»

Sie sind auch bekannt als Umweltschützer …
Ich fühle mich in meiner Haltung gegenüber unserer Umwelt nicht einem strengen Gesetz unterworfen; ich folge vielmehr einer Leitlinie. In allen Bereichen sind Entscheidungen für die lebensfreundliche Variante möglich – sei es beim Briefpapier, beim Kleiderkauf, der Hausrenovation oder beim Essen. Doch ich würde nicht neben einem Skilift mit den Fellen hochsteigen. Und ich habe kein Auto – aber ich fahre auch viel lieber im Zug.

… und als Gesellschaftskritiker. 1982 wurde Ihnen aus politischen Gründen der Literaturpreis verweigert, Ihre Sendung «Denkpause» verschwand vom Bildschirm. Wäre so etwas heute immer noch denkbar?
Zurzeit dünkt mich das eher unwahrscheinlich. Gerade die Mediensituation hat sich sehr verändert, das Fernsehen hat seine Monopolstellung verloren und ist nicht mehr ausschliesslich auf Ausgewogenheit bedacht. Doch man weiss es nicht und soll nie zu sicher sein. Meinungsfreiheit und Pressefreiheit sind nicht einfach garantiert …

Woran denken Sie?
Im September 2001 war jeden Nachmittag nach den Vieruhrnachrichten eine Kurzgeschichte von mir am Radio zu hören. Den Text für den 12. September musste ich neu schreiben, denn die ganze Welt war damals auf das Geschehen in New York konzentriert. Dieser Beitrag wurde mit fünf Minuten Verspätung gesendet: Die Redaktion hatte bis zuletzt diskutiert, ob sie ihn so ausstrahlen könne.

Was haben Sie gesagt?
Ich dachte von den Opfern aus und sagte: Niemand hätte an diesem 11. September etwas Böses geahnt, es sei ein schöner Morgen gewesen, wahrscheinlich ein Morgen wie damals, als die Atombombe auf die ahnungslose Bevölkerung von Hiroshima fiel. Dieser Vergleich tat weh. Erlaubt wäre der Vergleich mit Pearl Harbor gewesen.

Sie sind regelmässig am Radio zu hören. Ist das Radio Ihr liebstes Medium?
Im Moment liegt mir Schreiben am nächsten. Aber ich mache auch gerne Radiobeiträge, die samstägliche «Zytlupe» etwa. Radioarbeit macht mir wirklich sehr viel Spass. Das Radio ist ein ungleich stärkerer Appell an die Fantasie als etwa das Fernsehen. Dieses liefert das Bild immer gleich mit, das Radio hingegen sendet nur Worte und eine Stimme – die Bilder dazu muss man sich mit der Fantasie selber erschaffen.

Welches sind Ihre nächsten Projekte?
Im Moment habe ich noch nichts Neues angepackt. Aber ich habe immer nächste Ideen, das hat sich auch mit sechzig nicht geändert. Die Frage ist eher, wie ich die Warteschlaufe mit meinen eigenen Projekten organisiere.

Wie lange möchten Sie noch arbeiten?
Ich arbeite gern so lange weiter, wie ich kann, noch gesund bin, auch Lust habe und mir noch etwas in den Sinn kommt. Doch zunehmend habe ich ein Gefühl, das man vielleicht so umschreiben könnte: «Es muss nicht mehr unbedingt sein.»

Macht Ihnen der Gedanke an die Endlichkeit des Lebens Mühe?
Dieser Gedanke begleitet mich schon länger, seit vielleicht zehn Jahren. Etwa mit fünfzig sagte ich mir: «Ab jetzt ist alles geschenkt, was ich noch erlebe.» Sagen wir es so: Wenn ich morgen sterben müsste, dann wäre ich zufrieden mit dem, was ich getan habe. Wenn mir aber noch ein bisschen Zeit bleibt, würde ich ganz gern noch ein paar Dinge nachliefern. Ich merke, dass das Älterwerden auch für mein Schreiben eine grosse Qualität bedeutet.

Worin sehen Sie diese Qualität?
Ich habe einen grösseren Lebensvorrat zur Verfügung, auf den ich jederzeit zurückgreifen kann. Zu diesem Vorrat gehört alles, was ich erlebt und erfahren habe, was ich geträumt, gedacht und fantasiert habe. Diesen Reichtum empfinde ich als ausgesprochen anregend fürs Schreiben. Als jüngerer Mensch hätte ich eine solche Bereicherung gar nie erwartet. Hinzu kommt meine Schreiberfahrung: Ich kenne das Feld, auf dem ich mich bewege. Ich kenne meine Fähigkeiten.

Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Als junger Mann experimentierte ich mit den verschiedensten Möglichkeiten, Formen, Stilen. Oft sah ich erst rückwirkend, was ich falsch gemacht oder wo ich Kraft und Zeit verbraucht hatte. Ich kehrte immer wieder zurück auf mein eigentliches Arbeitsfeld, das ich eben kannte und immer besser kennen lernte: Es wurde mir vertraut, heute kann ich darauf säen und ernten.

Beitrag vom 01.03.2023

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