Klage in Briefen Von Dominik Riedo

Bern West, den 27. April 2020

Herzensgute Caro, ich danke Dir auch in diesem Brief wie immer für Deine Besuche. Und ich bin keineswegs plötzlich derart tatterig, dass ich nicht mehr wüsste, dass Du seit Wochen nicht mehr kommen kannst … Corona sei schuld! («Covid-19» brüllt der besserwisserische Herr Meyer jeweils über alle Tische hinweg. Wenn man sagt, dass es für die coolsten Schulbubis nach der Schulzeit meist vorbei sei und sie nie mehr so hoch im ‹Ansehen› stehen werden, so stimmt das nicht für die Zeit im Altersheim: Hier werden sie wieder zu kleinen Tyrannen und finden immer genug Bewunderer und Bewunderinnen, die sich einem Führertypen beugen wollen. Weiss der Teufel, was sie sich davon versprechen …) Aber ich weiss, dass Du auch jetzt immer kommen würdest, wenn es erlaubt wäre. Und dass ich Telefongespräche nicht mag, ist ja mein Problem: Aber Du musst wissen, sie fühlen sich für mich stets so kalt und irgendwie unheimlich an. Wie wenn man einen Toten anrufen könnte und die Stimme kommt noch zu einem und berichtet einem über das Letzte vom Letzten. Ich habe mehrmals schon nachprüfen lassen, ob ein Telefongegenüber überhaupt noch lebe.

Die Pflegenden hier schieben es natürlich wieder auf meine Opioid-Abhängigkeit. Ich muss dir da ja gestehen (unsere Abmachung gilt), dass ich in diesem abgegrenzten Bezirk – eine regelrecht tote Welt mit nur noch wenigen Eindrücken von aussen – mich ja bereits fühle wie in einer Opiatblase. Ich will doch so stumpf werden! Was sind wir mehr als chemische Roboter! Ich sehe es immer wieder. Der alte Müller, lustigerweise der Jüngste hier, geht noch zur Elektrokonvulsionstherapie. Danach geht es ihm drei Wochen so gut, als hätte man einen Schalter umgekippt. Und genau das will ich doch mit meinem Targin und Oxynorm auch. Als ich letzthin mal 230 Milligramm Oxynorm genommen hatte, tanzte ich am Morgen nach einer wunderbaren Restnacht durch die Gänge. Ich war so glücklich. Überhaupt ist es ein wenig wie Schlafen. So nahe am Schlaf, wie man sein kann, ohne zu schlafen. Der schönste euphorische Zustand. Ich weiss schon, Du möchtest nicht, dass ich es nehme, aber ich kann mich doch nicht vierundzwanzig Stunden über Schmerzen beklagen. Das bereitet viel weniger Spass, als sich das jüngere Menschen vorstellen. Am liebsten würde ich niemandem zur Last fallen wollen, keine Schmerzen haben und alles alleine bewältigen können, was ich noch so tun muss und will.

Manchmal denke ich, es wäre am besten, man würde uns in eine Art Schlaf versetzen und uns mit Opioiden füttern, so dass wir in glücklichen Träumen irgendwann sterben könnten. Chemisch glücklich sein und dann nicht mehr aufwachen. Was ist da falsch daran? – Die Realität hält für uns schon lange nichts Erstrebenswertes mehr bereit. Wenn ich nicht high bin, schlafe ich am liebsten, da spüre ich die Schmerzen nicht so stark und bin manchmal wieder so fit, dass ich Sex haben kann.

Das muss ich mir letzthin gedacht haben, als ich neben meinem Targin auch noch Temesta bekommen habe und dann zusätzlich noch eine eingeschmuggelte Zolpidem zu mir nahm. Ich bin in der Nacht schlafwandelnd aufgelesen worden, als ich doch tatsächlich in den Medikamentenraum eingebrochen bin, dort noch mehr Benzos zu mir genommen habe und daraufhin in einem Pub gleich neben dem Altersheim junge Männer zu küssen versuchte. Und das alles im Schlafrock. Ich wusste gar nicht mehr, wie ich den angezogen hatte. Aber zum Glück hatte ich wenigstens den an. Ohne hätte ich mich im Nachhinein so schlecht gefühlt, dass ich auf den Arzt hören wollte. Aber so? Schau, ich hatte letzthin so etwas wie eine Epiphanie: Als ich von einem Ausflug des Altersheims auf den Pilatus zurück kam, konnte ich das Eintauchen der Kabine ins Wolkengetrübe das erste Mal wirklich ganz gelassen ertragen. Denn es ist mir in aller Einfalt ein Gleichnis aufgegangen: Alles, was mir das Leben meist so düster macht, effektiv, also die Wolken, der Smog, alles: all das ist eigentlich nur eine dreissig Meter dicke Schicht. Darüber aber liegt immer der Sonnenschein.

Aber, und das ist eben wichtig, meine Liebe: Nur der Kopf kann sich mit so etwas helfen. Der Körper jedoch, alles Somatische, lechzt nach dem Sonnenschein. Dem muss abgeholfen werden. Der Leib braucht zum Fliegen sehr künstliche Mittel, wie ich das eben auch dem Arzt sagte. Trotzdem hat es natürlich genau das Gegenteil bewirkt. Sie wollen mich für einige Wochen absondern und möglichst vom Targin und Oxynorm wegbringen. Ich kann noch so protestieren.

Jetzt kommen sie! Ich schreibe dir wieder, falls ich es noch tun kann. Dein Grosi


Bern West, den 6. August 2020
Liebe Caro

Jetzt liege ich also seit nunmehr drei Monaten in einem abgegrenzten Bereich des Altersheims, wo Besuch zurzeit nichtzugelassen ist. Sie können es gut mit dem Coronavirus begründen, aber es geht darum, dass ich nicht mehr ins Medikamentenzimmer eindringen soll. Ich habe mir mehrmals, stell Dir vor, Véra, mit Gewalt den Weg freigeboxt! Dabei dachte ich früher, ich würde sicher nie süchtig. Ich habe nie geraucht, fast keinen Alkohol getrunken, und auch Sex hatte ich fast nur mit Onkel Jean. Ich hätte immerhin stutzig werden können, als ich darauf eifersüchtig war, dass er im Himmel andere Frauen hat und mit ihnen Sex haben könnte.

Das war ja schon krank, oder auf jeden Fall hätte es mir zeigen können, dass ich das eben auch ganz gerne erlebt hätte, eben: mehrere Männer zu haben. Da bereue ich es, habe ich in der Generation gelebt, in der ich gelebt habe. Sonst seid ihr mit all dem Technik-Klimbim und den Umweltschäden ja nicht zu beneiden. Aber da hätte ich gerne mehr gemacht. Aber sei’s drum.

Auf jeden Fall hätte mir das meine Suchttendenzen aufzeigen können, auch wenn ich meinte, ich hätte keine. Aber weisst du, es ist total bitter, wenn man Opioide gehabt hat und dann runterkommen muss. Am, Morgen, gleich nach dem Aufwachen, fühle ich mich niedergeschlagen und beginne den Tag mit Weinen. Ich erwache effektiv bereits todtraurig. Man könnte am Vortag gerade den Nobelpreis erhalten haben, man würde trotzdem weinen. Bei mir kommt dazu, dass ich wegen der ganzen Schmerzen und meiner Reaktion oder besser: wegen meinen Reaktionen darauf die beste Beziehung meines Lebens verloren habe. Ich hatte, das erzählte ich dir ja, hier noch einen intensiven Kontakt zu einem Mitpatienten. Wir verstanden uns prächtig. Aber als ich dann begann, von Tag zu Tag ganz anders drauf zu sein und dann immer negativer; als ich begann, wegen der Entzugssymptome zu schimpfen, ihn anzuklagen, weil er keine Schmerzen hat oder fast keine … da wurde es ihm eines Tages halt doch zu viel. Es kann sein, dass wir uns wieder irgendwie finden, falls ich das hier überstehe, aber zurzeit leide ich einfach nur.

Caro, ich wäre Dir so dankbar, wenn Du mir Temesta-Tabletten oder Zolpidem oder sogar Opioide hierher bringen könntest. Wenigstens etwas Hustensaft. Ich weiss, man braucht neuerdings ein Rezept, aber manchmal geben sie es einem auch so noch. 

Die hier wissen einfach nicht, wie es ist. Ich habe eine Mitpatientin, die ist schon ein wenig durcheinander, vielleicht war sie es ihr ganzes Leben, die sagt immer «voilà» zu allem. Wenn sie ihr helfen, ins Bett zu gehen, sagt sie das – ohne Übertreibung – etwa fünfzigmal. Bei jedem Handgriff: «Voilà, voilà, voilà». Es macht mich wahnsinnig! Und ich bin nicht die Einzige, die sich aufregt. Voilà. Aber wohl die Einzige, die jetzt dann mal zuschlagen wird. Voilà. Es ist einfach nicht auszuhalten – ohne Stoff. Voilà!

Caro, ich bin so depressiv, wenn nicht bald etwas geschieht, werde ich wohl in Kürze tot sein. Das alles hier deprimiert mich so, der ganze Tagesablauf, und ich kann mich nie mehr auf das Oxynorm freuen, was mir wenigstens helfen würde, all das bis am Abend auszuhalten.

Gestern Nacht hatte ich einen Traum: Ich wachte auf und stand vor dem Bett, in dem ich lag: Ganz langsam näherte ich mich mir und kroch in mich hinein: in eine Enge, die mich wie erdrücken wollte … Dieses unheimliche Gefühl kam ganz jäh heute Morgen zurück, plötzlich: als durchdringe mein – ja, mein Denken, mein Leben nicht mehr ganz, als habe es sich einen winzigen Schritt aus meiner Leiblichkeit zurückgezogen oder einfach entfernt und stehe haarscharf neben mir, mich prüfend und ablehnend betrachtend … Caro: Ist dies der sich einschleichende Tod?

Caro, siehst Du, wie es mir geht? Die Sonne scheidet sich von mir wie hinter einem Gebirge. Ich brauche dringend Opiate. Und ich fühle mich, wie wenn in alle Täler der Abend steigen würde. Die Welt schläft ein, und ich möchte es auch. Drum brauche ich das Zeug. Sonst muss ich mal auf die Strasse und mir eine Überdosis Heroin kaufen. Damit ich mir alle Sehnsucht wieder erträumen und im Schlaf vergessenes Glück haben und von meiner Jugend träumen kann. Aber ich kann nicht schlafen! Und so ist das nicht mehr auszuhalten! So brauche ich wirklich Heroin. Und das möchtest Du doch nicht, oder? Bitte sei nicht zu hart mit Deinem Grosi.


Dominik Riedo (*1974 in Luzern) lebt und arbeitet als Schriftstellerund Mitherausgeber von «Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie» (seit2012) beziehungsweise als Beiratsmitglied von «Flandziu. Halbjahresblätter für Literatur der Moderne» (seit 2017) bei Bern. Bisher 26 Buchveröffentlichungen, dazu je ein Libretto zu einem Chorwerk («Hagzusa cum Gaukelei», uraufgeführt am ECLAT Festival in Stuttgart 2019), und zu einer Oper (uraufgeführt am Opernhaus Zürich 2019); zahlreiche Auszeichnungen, europaweit Auftritte (plus im Iran, in Tokyo und New York). Kulturminister der Schweiz von 2007–2009, Präsident des Deutschschweizer PEN-Zentrums von 2010–2012.


«Voll im Wind»

Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps

Grossvater riecht nach Schnaps und Grossmutter lacht nicht mehr. Was ist passiert? «Älterwerden ist kein Spaziergang», erzählen Betroffene – und die Jüngeren nehmen es irritiert zur Kenntnis. Ruth und Fritz haben es doch schön in der Alterswohnung, und Trudi wird im Pflegeheim rund um die Uhr verwöhnt. Was ist daran so schlimm?

Es sind dies die Übergänge und Brüche; vermehrt gilt es, Abschied zu nehmen: vom Haus, vom Partner, vom Velofahren. Das Gehen verändert sich weg von der Selbstverständlichkeit hin zur Übung und Pflicht; das Autofahren ist ohnehin ein Tabu, so will‘s die Tochter. Ist es da so abwegig, den Kopf hängen zu lassen? Sich Pillen verschreiben zu lassen oder ein Glas über den Genuss hinaus zu trinken? Ja, es ist abwegig, weil es auf Abwege führt und nicht auf einen grünen Zweig.

22 Schweizer Autorinnen und Autoren erzählen Geschichten über ältere Menschen, denen der Wind derzeit mit voller Wucht entgegenbläst. Ein Anhang mit einfachen Infos und Tipps sowie weiterführenden Adressen bietet den nötigen Windschutz.

  • «Voll im Wind – Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps», Hrsg. Blaues Kreuz Schweiz, © 2020 by Blaukreuz-Verlag Bern, ISDN 978-3-85580-549-5
  • Cover-Illustration: Tom Künzli, TOMZ Cartoon & Illustration, Bern. Lektorat: Cristina Jensen, Blaukreuz-Verlag. Satz und Gestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld. Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
  • Das Projekt wird vom Nationalen Alkoholpräventionsfonds finanziell unterstützt. Für Begleitpersonen stehen unter www.blaueskreuz.info/gesundheit-im-alter weitere Fachinformationen zu den Themen des Buches bereit.

Beitrag vom 24.04.2022

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