«Die Flugbegleiterin» Von Silvia Gillardon

Als das Handy klingelte, war Lydia schlagartig hellwach. Es hatte also doch noch jemand an ihren Geburtstag gedacht! «Spreche ich mit Madam Ärzog?», fragte eine Person mit nasaler Stimme.

«Herzog!», korrigierte sie automatisch. Sie wusste, was nun kommen würde. «Und nein, ich brauche keine neue Krankenkasse. Lassen Sie mich einfach in Ruhe!» Verärgert legte sie auf und liess sich zurück aufs Bett fallen. Sie schaute auf die Armbanduhr. Schon zehn! Lydia seufzte.

Wäre Charly noch hier, sässe sie längst an einem reich gedeckten Geburtstagstisch. Aber Charly war weg. Einen gnadenlosen Strich hatte er gezogen. Und mit ihm waren auch all die anderen gegangen. Ihre vermeintlichen Freunde waren eben doch nur seine Freunde gewesen, auch wenn sie diese jahrelang bewirtet hatte. Umsonst, versteht sich.

Drei Jahre war das jetzt her, seit die Neue zum ersten Mal aufgetaucht war im «Stern». Natürlich hatte Lydia bemerkt, dass Charly von dieser Frau begeistert war. Aber das hatte sie nicht beunruhigt. Schliesslich – hatte es nicht immer mal wieder eine neue «Neue» gegeben, die ihn begeistert hatte? Diese Frauen kamen und gingen. Ihr Charly war schliesslich nicht unempfänglich für weibliche Reize. Aber letztlich konnte nichts und niemand sich zwischen sie und Charly drängen. Doch dann, mit knapp achtzig, wollte er plötzlich ein neues Leben anfangen. Und das mit einer Frau, die weder attraktiver noch klüger, sondern im Gegenteil, sogar älter als sie selbst war. Lächerlich!

Lydia lachte höhnisch. Vorsichtig stand sie auf und wankte in die Küche. Der Kühlschrank war zwar leer. Essen interessierte sie schon lange nicht mehr. Aber irgendwo musste noch diese angefangene Flasche Wein stecken. Beim Einschenken hielt sie plötzlich inne. Zitterten da tatsächlich ihre Hände? Nur wegen dieser anderthalb Flaschen von gestern Abend? Sie war doch hart im Nehmen, vertrug schliesslich eine ganze Menge, ja geradezu jeden Tag mehr. 

Ob sie eine Konflikttrinkerin sei, hatte Doktor Hess sie letzte Woche gefragt, als er sie wegen ihres starken Schwitzens und ihrer Magenschmerzen untersucht hatte. Und sie hatte gescherzt: «Was für eine grossartige Diagnose! Konflikttrinkerin. Kompliment! Was soll man denn anderes tun als trinken, wenn das ganze Leben zusammenbricht? Wie soll ich diese verfluchten Erinnerungen denn sonst ausradieren? Irgendwie muss man sich doch von diesen Ängsten und der Traurigkeit ablenken!»

Lydia schob die Flasche beiseite. Neue Kontakte sollte sie knüpfen. Sich ein Hobby zulegen. Vielleicht auch mal zum Friseur gehen, umziehen oder eine Reise unternehmen, hatte der Arzt empfohlen. «Wofür begeistern Sie sich denn?», hatte er gefragt.

«Ich kann nichts. Zehn Jahre lang war ich Flugbegleiterin. Begleiterin! Dieses Wort besagt schon alles. Danach bin ich abgestiegen.» Sie hatte tief eingeatmet. «Das heisst, ich habe mich ganz auf meinen geliebten Mann konzentriert. Im «Stern», seinem Restaurant, war ich Mädchen für alles: Buchhalterin, Serviererin, Köchin … alles, aber nichts Richtiges. Persönlich erfüllt hat mich eigentlich nur eines Lesen. Sie glauben gar nicht, wie viele Bücher ich verschlungen habe. Ach ja, und die langen Spaziergänge habe ich genossen, mit Max, unserem Hund. Aber den hat Charly … ach, es ist doch alles sinnlos!», hatte sie geschluchzt.

«Das sind doch gute Ansätze», hatte Doktor Hess sie zu ermuntern versucht. «Viele Leute sind froh, wenn jemand ihren Hund ausführt. Und über Literatur kann man wunderbare Kontakte knüpfen. Gehen Sie in eine Lesegruppe, besuchen Sie Vorlesungen, tauschen Sie sich mit Buchbloggern aus – Sie sind doch eine interessante Frau!»

Die Hunde, denen sie im Dorf begegnete, hatten alle ein Herrchen oder ein Frauchen, die ihre Vierbeiner misstrauisch von ihr fortzogen, wenn sie sich niederbeugte und sich schüchtern nach dem Namen des Tieres erkundigte. Aber schliesslich war heute Sonntag; da war kein Hund auf fremde Begleitung angewiesen. Sie würde es morgen mit einem Aushang im Lebensmittelladen versuchen.

Wieder zu Hause angelangt, glitt ihr Blick über die unzähligen Buchrücken, die nach Farbe sortiert im Gestell standen. Heute war ihr nach Rot. Wahllos griff sie nach einem Buch: «Die Frau, die zu laut lachte», las sie und schlug das Buch auf. Auf der ersten Seite sprang ihr eine handschriftliche Widmung ins Auge: «Für die sympathische Lydia; herzlich, Fabiola Maggi, Zürich, November 2015.» 

Lydia schloss die Augen und dachte nach. Fabiola Maggi? Richtig! Nach einer Autorenlesung war sie im benachbarten Restaurant mit der Autorin ins Gespräch gekommen und hatte deren Erstlingsroman gekauft. Sie erinnerte sich, dass sie das Buch ziemlich schonungslos kritisiert hatte. Der Einstieg war ihr zu langatmig erschienen und der Wechsel der Perspektiven zu abrupt. Und diese Protagonistin, wie hiess die doch gleich … sie blätterte hastig im Buch, richtig, diese Sonja, die hatte irgendwie zu wenig Feuer. «Eine literarische Heldin muss doch ein Ziel haben, eine Mission», hatte sie der jungen Autorin gepredigt. «Die kann sich doch nicht einfach von Zufällen treiben lassen, sondern muss aktiv und leidenschaftlich ins Geschehen eingreifen.»

Lydia lachte bitter auf. Aktiv! Hätte ihr dieses Rezept doch bloss früher jemand verraten! Dann würde sie jetzt nicht hier stehen, zitternd, ungepflegt und verbittert. Aber diese Fabiola war erstaunlicherweise kein bisschen beleidigt gewesen, im Gegenteil. Sie hatte interessiert zugehört und ihr sogar ihre Visitenkarte überreicht, um sich gelegentlich mal zu einem intensiveren Gespräch treffen zu können.

Gelegentlich! Fünf Jahre waren seither also bereits verstrichen. Lydia hatte keine Lust, keinen Mut gehabt, sich zu melden. Im Schutzumschlag musste noch diese Karte stecken. Sollte sie jetzt …?» Was hatte sie damals gepredigt: Ein Protagonist muss aktiv eingreifen? Ab heute war sie die Protagonistin. Und zwar jene ihres eigenen Lebens. Entschlossen griff sie zum Telefon.

Fabiola hatte sich tatsächlich noch erinnert und, obwohl sie mitten im Schreiben an ihrem dritten Roman war, erfreut einer Zusammenkunft zugestimmt. Die beiden unterschiedlichen Frauen fühlten sich auf Anhieb vertraut. Aus diesem Treffen wurden mehrere, bei denen sie nicht nur über Literatur sprachen, sondern auch über Rückschläge, Glücksgefühle und Zukunftspläne. Und Fabiola nahm ihre neue, mütterliche Freundin mit zu Autorentreffen, Vorträgen und sogar als Zuschauerin ins Fernsehstudio zu einer Literatursendung.

Inzwischen hatten sich auch einige Hundehalter auf Lydias Annonce hin gemeldet, und sie streifte nun regelmässig mit einem tollpatschigen Hirtenhund namens Leo, dem kleinen Struppi-Mischling Happy und einer eleganten Königspudeldame mit dem edlen Namen Grazia durch die Landschaft. Die drei Tiere waren zwar kein Ersatz für ihren alten Max, aber sie zwangen Lydia, an die frische Luft zu gehen, und brachten sie mit ihren Kapriolen oft zum Lachen. Dass sie auf diesen Spaziergängen auch endlich wieder Menschen antraf und mit diesen sogar oft mehr als nur drei Worte wechselte, das hatte Lydia in ihrer Trübsal anfangs gar nicht richtig wahrgenommen. Aber inzwischen freute sie sich regelrecht auf die Begegnungen.

«Ich komme einfach nicht richtig voran», stöhnte Fabiola, die Lydia wie schon oft bei einem der Hundespaziergänge begleitete. Abrupt blieb sie stehen und sah ihre mütterliche Freundin eindringlich an. «Sag mal: Könntest du dir vorstellen, als Co-Autorin bei meinem aktuellen Roman mitzuwirken? Du kennst doch alle Figuren, hast geniale Ideen und einen sicheren Instinkt für Dramaturgie.»

Lydia lächelte gerührt. «Das ist eine grosse Ehre für mich, und ich danke dir für dein Vertrauen. Ich kann dir gerne wie bisher mit der Theorie weiterhelfen. Aber beim Schreiben musst du dich leider alleine durchbeissen. Ich muss das schliesslich auch.»

Fabiola starrte sie erstaunt an: «Heisst das, du schreibst? Heimlich? Einen Roman?» Lydia schmunzelte. «Roman ist ein grosses Wort. Sagen wir, ich versuche, eine Biografie zu verfassen. Vielleicht wird es auch ein Ratgeber. Der Absturz einer Flugbegleiterin. Hilfe, mein Mann hat eine Ältere. Oder wie ich glücklich geworden und auf den Hund gekommen bin.» Lächelnd tätschelte sie den Hals der Königspudeldame. «Hilfst du mir bei der Titelsuche?»


Silvia Gillardon wurde in Wädenswil geboren und lebt heute abwechslungsweise in Stäfa am Zürichsee und in Imperia an der ligurischen Küste. Sie ist Malerin und Autorin und hat mehrere Romane geschrieben. Bekannt geworden ist sie aber auch durch zahlreiche Kolumnen und Erzählungen wie «Josefines Flugstunden» und «Josefines Schwimmstunden». Ihr jüngster Roman mit Schauplatz Riviera ist soeben erschienen: «Die Villa der Signora». www.silviagillardon.com


«Voll im Wind»

Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps

Grossvater riecht nach Schnaps und Grossmutter lacht nicht mehr. Was ist passiert? «Älterwerden ist kein Spaziergang», erzählen Betroffene – und die Jüngeren nehmen es irritiert zur Kenntnis. Ruth und Fritz haben es doch schön in der Alterswohnung, und Trudi wird im Pflegeheim rund um die Uhr verwöhnt. Was ist daran so schlimm?

Es sind dies die Übergänge und Brüche; vermehrt gilt es, Abschied zu nehmen: vom Haus, vom Partner, vom Velofahren. Das Gehen verändert sich weg von der Selbstverständlichkeit hin zur Übung und Pflicht; das Autofahren ist ohnehin ein Tabu, so will‘s die Tochter. Ist es da so abwegig, den Kopf hängen zu lassen? Sich Pillen verschreiben zu lassen oder ein Glas über den Genuss hinaus zu trinken? Ja, es ist abwegig, weil es auf Abwege führt und nicht auf einen grünen Zweig.

22 Schweizer Autorinnen und Autoren erzählen Geschichten über ältere Menschen, denen der Wind derzeit mit voller Wucht entgegenbläst. Ein Anhang mit einfachen Infos und Tipps sowie weiterführenden Adressen bietet den nötigen Windschutz.

  • «Voll im Wind – Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps», Hrsg. Blaues Kreuz Schweiz, © 2020 by Blaukreuz-Verlag Bern, ISDN 978-3-85580-549-5
  • Cover-Illustration: Tom Künzli, TOMZ Cartoon & Illustration, Bern. Lektorat: Cristina Jensen, Blaukreuz-Verlag. Satz und Gestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld. Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
  • Das Projekt wird vom Nationalen Alkoholpräventionsfonds finanziell unterstützt. Für Begleitpersonen stehen unter www.blaueskreuz.info/gesundheit-im-alter weitere Fachinformationen zu den Themen des Buches bereit.

Beitrag vom 27.03.2022

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