Der rätselhafte Exzentriker Ludwig II., König von Bayern
Aus dem Buchband «Blaues Blut. Royale Geschichten aus der Schweiz» von Michael van Orsouw. Erschienen im Verlag Hier und Jetzt.
Vorwort von Beat Gugger und Bruno Meier
Soll man ihn einen Exzentriker nennen? Einen Spinner? Einen Traumtänzer? Einen psychisch Kranken? Alle diese Zuschreibungen wurden ihm zuteil. Und einige weitere, die nicht vorteilhafter waren.
Ludwig II. von Bayern war schon zu Lebzeiten eine höchst umstrittene Figur, und nach seinem Ableben wuchsen sich die vielen Anekdoten zu noch verrückteren Geschichten des verrückten Königs aus. Passenderweise schrieb er über sich selbst: «Ein ewig Rätsel will ich bleiben mir und den anderen.»
Auch in der Schweiz hinterliess der Bayernkönig seine rätselhaften Spuren. Er reiste mehrfach in die Innerschweiz – die Berichte widersprechen sich allerdings. Bezeugt sind zwei Reisen: 1865 und 1881, beides waren absonderliche Visiten, was mit dem absonderlichen Wesen Ludwigs zusammenhängen mag.
Es ist der 27. Juni 1881, als König Ludwig II. in die Schweiz reist, ständesgemäss im eigenen Hofzug, mit zwei Köchen, drei Kammerdienern und sechs mittleren Hofbeamten – nur gerade elf Gehilfen, was für den Bayernkönig unüblich wenig ist. Der Grund dafür liegt darin, dass er nicht zu grosses Aufsehen um seinen persönlichen Begleiter machen will, um Joseph Kainz. Dieser ist 23 Jahre alt, ein aufstrebender Schauspieler aus der ungarischen Provinz, ein Feuerkopf ohne höfische Manieren. Kainz freut sich mit einer Prise kindlicher Naivität auf die Schweizreise, auf die Berge und die Seen.
Doch Ludwig II. Otto Friedrich Wilhelm von Wittelsbach, König von Bayern, damals 41 Jahre alt, hat weitere Absichten. Ihm schwebt nach der berauschenden Freundschaft mit Komponist Richard Wagner, die zerbrochen ist, das romantisierende Ideal einer brüderlichen Liebesbeziehung vor.
Zwei Monate zuvor hat Ludwig den Schauspieler Kainz in der Rolle des Didiers in Victor Hugos «Marion Delorme» am Münchner Hoftheater gesehen. Ihn für sich entdeckt. Und sich gleich in ihn verliebt. In diesen zarten jungen Mann mit dem flächigen, fotogenen Gesicht. In diese tiefen Augen unter dem dunklen Lockenkopf. In diese feine, fast brüchige Himmelsstimme, die sich im Nu in ein akustisches Feuerwerk verwandeln konnte. In diese Zurückhaltung und Sanftheit, die Kainz’ Art ausstrahlte.
Ludwig hatte seinem Begleiter schon vor der Reise unstandesgemäss das vertraute «Du» angeboten. Doch nannte er ihn nicht Joseph, sondern Didier, in Anlehnung an die Rolle, die Kainz damals in München gespielt hatte. Im Theaterstück geht der bürgerliche Tausendsassa Didier aller Standesunterschiede zum Trotz eine enge Männerfreundschaft mit dem adeligen Marquis de Saverny ein. Eine literarische Vorlage, mit der sich der König von Bayern bestens identifizieren konnte. Bezeichnenderweise sind die amtlichen Papiere für die Reise in die Schweiz auf die Namen «Marquis de Saverny» für Ludwig und «Josef Didier» für Kainz ausgestellt.
Gut zu wissen
- Wer: Ludwig II., König von Bayern. Er heisst Ludwig Otto Friedrich Wilhelm von Wittelsbach.
- Wann: Geboren am 25. August 1845 auf Schloss Nymphenburg, gestorben am 13. Juni 1886 im Starnberger See.
- Was: Nach dem Tod seines Vaters bestieg er im Alter von 18 Jahren den Thron. Kurz vor seinem ungeklärten Tod wurde er entmündigt.
- Wie: Bekannt wurde er durch seine aussergewöhnlichen Leidenschaften, wie etwa seine Bausucht. Die Schlösser Neuschwanstein, Herrenchiemsee und Linderhof zeugen noch heute von Ludwigs Lust, zu repräsentieren und von seiner Verspieltheit. Er wurde auch Märchenkönig genannt.
- Bezug zur Schweiz: Ludwig II. bewunderte die Schweiz und vor allem die Innerschweiz rund um den Vierwaldstättersee. Er besuchte diese Region 1865 und 1881.
Der König kann Theaterfiktion und Wirklichkeit nicht auseinanderhalten. Er projiziert in den Schauspieler und dessen Rolle sein eigenes Begehren nach Männerfreundschaft, die er schliessen will, ebenfalls ungeachtet aller Hürden. Ludwig II. war vom Stück und natürlich auch vom Hauptdarsteller so begeistert, dass er Kainz hinter der Bühne gleich einen teuren Ring mit Brillanten und Saphiren schenkte. Das Hoftheater wies er an, zwei private Zusatzvorstellungen in den Spielplan einzuschieben und sogar eine geplante Aufführung der von ihm so verehrten «Meistersinger» abzusagen. Dass Ludwig private Vorstellungen buchte, an denen das ganze Theaterensemble nur für ihn spielte, war eine der vielen Merkwürdigkeiten und lag darin begründet, dass der Bayernkönig eine Abscheu gegen Menschenmassen hatte.
Ludwig war nicht nur deshalb ein Rätsel. Für Zeitgenossen ebenso wie für das Publikum und später die Fachwelt. Im Falle von Kainz schob sich Ludwigs Traumwelt wie eine Theaterkulisse vor die Wirklichkeit. Er überschüttete den jungen Mann geradezu mit Geschenken: Er gab ihm unter anderem einen goldbesetzten Becher (er nannte ihn «Traumbecher»), drei mit Diamanten verzierte Uhren und ein Zigarrenetui aus Elfenbein, in das kunstvoll eine Szene aus der Wagner-Oper «Parzifal» geschnitzt war.
Kurz: Ludwig war ein Träumer. Seine ganze Welt wurde mehr und mehr zu einer Art Privattheater, mit Protagonisten, Handlungen und Kulissen, die er, der Bayernkönig, selbst auswählte.
Vor diesem Hintergrund spielt sich 1881 Ludwigs Reise in die Schweiz ab. Er will an den Vierwaldstättersee, weil die Inszenierung von Schillers «Wilhelm Tell» im Münchner Hoftheater geplant ist. Ludwig will sich und vor allem Hauptdarsteller Kainz vor Ort vorbereiten und die originalen Schauplätze Tells am Urnersee aufsuchen, um sich ins Theaterstück einzufühlen.
Die Figur des Tell begeisterte Ludwig schon in jungen Jahren: Als 15-Jähriger kaufte er von seinem knapp bemessenen Taschengeld eine Statuette von Wilhelm Tell. Drei Jahre später erstand er das Buch «Die Sage von Tell». Jetzt wandelt er also wieder auf Tells Spuren.
Vorgetäuschte Angst vor der Dunkelheit
Auf der Reise von München nach Luzern muss die Eisenbahn einige Tunnels passieren. Weil Ludwig angeblich panische Angst vor der Dunkelheit hat, verlangt er, dass der Zug nur im Schritttempo fährt. Dabei tastet Ludwigs Hand jeweils im Dunkeln nach dem Arm des jungen Freundes. Kainz ist durch die königlichen Berührungen verwirrt und interpretiert sie dahingehend, dass Ludwig sich vor Anarchisten ängstige, die bekanntermassen ein Attentat auf den König planen.
Das Ganze ist im Nachhinein wohl als königlicher Trick zu interpretieren: Denn erstens hatte Ludwig gar keine Angst im Dunkeln; er machte im Gegenteil die Nacht zum Tag, wie wir noch sehen werden. Und zweitens hätte ein schnelles Durchfahren des Tunnels die Dauer der Angst verkürzt. Es dürfte dem Monarchen wohl darum gegangen sein, seinem «Didier» näherzukommen.
Wovor sich Ludwig wirklich fürchtet, das sind Massenaufläufe. In Luzern kann eine grosse Menschenmenge seine Ankunft kaum erwarten – vielleicht haben dieselben Royalfans schon 13 Jahre zuvor der englischen Queen zugejubelt. Der Bayernkönig ist zu dieser Zeit bereits eine Attraktion des europäischen Adels, der immer wieder für eine schräge Überraschung gut ist, was seinen Bekanntheitsgrad weiter steigert und nochmals mehr Leute mobilisiert.
Nur – Ludwig hasst Ansammlungen von Menschen. Deshalb lässt er den Sonderzug vor Luzern in Ebikon anhalten, steigt dort in eine Kutsche um und lässt sich auf der Landstrasse nach Kastanienbaum fahren. Die Schaulustigen beim Bahnhof Luzern haben das Nachsehen. Auch der Kapitän des Dampfschiffs muss sich gedulden: Er ist für sieben Uhr bestellt, doch ihre Majestät trifft erst um zehn ein, wie Luzerner Journalisten penibel festhalten.
Mit dem Dampfschiff «Italia» fährt die kleine Reisegesellschaft dann endlich über den Vierwaldstättersee nach Brunnen. Ludwig hat sich von dieser Schiffsfahrt Privatheit und intime Zweisamkeit erhofft. Doch das Gegenteil tritt ein. Die Anwesenheit des Monarchen hat sich herumgesprochen, der Kapitän hat die Besatzung verdoppelt, die nun an der Reling in Galauniform Spalier steht, sodass jeder schon von Ferne auf die besondere Reisegruppe aufmerksam wird. Wo Ludwig und seine Begleiter in den nächsten Tagen hinkommen, versammeln sich Menschenmassen, die den König mit «Er lebe hoch»-Rufen empfangen, was diesen mehr ängstigt als erfreut.
Schliesslich trifft die königliche Reisegesellschaft oberhalb von Brunnen im Hotel Axenstein in Morschach ein. Ludwig nahm an, dass sie in einem «Schloss Axenstein» absteigen würden. Stattdessen landen sie im «Grandhotel», wo die internationale Sommerprominenz, die damals im Nobelhotel weilt und sich ein bisschen langweilt, dem Bayerntross von nun an auf Schritt und Tritt folgt.
Ludwig tobt.
In der Folge gelingt es den mitgereisten Hofbeamten, einen privaten Aufenthaltsort zu finden. Ludwig und sein Gefolge lassen sich in der Villa Gutenberg in Brunnen nieder, in der herrschaftlichen Liegenschaft des Verlagsbuchhändlers Adelrich Benziger. Die erhöht gelegene Villa ist zwar weniger pompös als ein Hotel oder gar ein Schloss, aber sie ist etwas abgelegen und ruhig. Zudem besticht sie mit ihrer prachtvollen Aussicht auf den Urnersee mit dem Urirotstock sowie auf das Buochser Seebecken und den Pilatus.
Ein Schloss auf dem Rütli
Seit 1865, als Ludwig zum ersten Mal in Brunnen weilte, hat seine Begeisterung für die Schweiz nicht nachgelassen. Er verehrte die Eidgenossenschaft als das «Paradies der Länder, das Gott lieb hat wie den Apfel seines Auges», wie er aufschreibt. Kein Pathos war ihm zu peinlich, keine Schwülstigkeit zu viel, wenn es um die «Landschaft des Tell» ging, wie er die Innerschweiz nannte.
Das war schon damals ein merkwürdiger Widerspruch und ist es 1881 erst recht: Er, der Autokrat, der Alleinherrscher, der zeit seines Lebens mit der Demokratie und den Einmischungen des Volks in seine Regierungstätigkeit hadert, vergöttert die autonome Volksherrschaft am Vierwaldstättersee. In Bayern hasst er die Liberalen und deren Volksnähe; in der Eidgenossenschaft schwärmt er bewundernd für die Hirtendemokratie.
Besonders angetan hat Ludwig II. das angebliche Herz der direkten Demokratie, das Rütli, das für ihn eine Magie ausstrahlt. 1865 war er von der Geschichte mit dem Rütlischwur so begeistert gewesen, dass er das Rütli unbedingt kaufen wollte, um dort ein Schloss zu errichten.
Doch die Rütliwiese war seit 1858 Nationaleigentum der Schweizerischen Eidgenossenschaft und daher unverkäuflich. Wäre er zehn Jahre früher gekommen und der Kauf gelungen, stünde dort heute vielleicht eines seiner Märchenschlösser – Schloss Neuschwanstein am Urnersee, welche Sensation! Doch so befindet sich das Traumschloss am bayrischen Forggensee, wo es als Sehenswürdigkeit Nummer eins in Deutschland gilt und mehr als 1,5 Millionen Gäste pro Jahr anzieht.
Eine Vision hatte Ludwig auch für die Tellsplatte, deren märchenhafte Geschichte ihm ebenso gefiel wie die des Rütlis. Für die Tellsplatte schwebte ihm der Bau einer riesenhaften Statue Wilhelm Tells vor. Diese plante er derart überdimensioniert, dass zwischen den Beinen Dampfschiffe hätten hindurchfahren können.
Doch auch diese Idee zerschlug sich.
Immerhin wollte Ludwig sich an der Restaurierung der Gemälde in der Tellskapelle beteiligen. Zudem plante er, das Hotel Tell in Bürglen zu kaufen. Die Verhandlungen mit Wirt Franz Epp waren bereits weit gediehen, als das plötzlich trübe Herbstwetter den Monarchen aus der Schweiz vertrieb. Der Kauf platzte, aber wenigstens hatte Ludwig einige Landschaftsbilder des Urnerlandes im Gepäck, gemalt von Jost Anton Muheim.
Fast ein Urner Ehrenbürger
Bei seinen Kontakten mit Urnern und Schwyzern erwähnte der Monarch nebenbei, dass ihm die Verleihung des Ehrenbürgerrechts «von Seite der Cantone Schwyz und Uri» sehr angenehm wäre. Napoleon III. aus Frankreich sei ja schliesslich auch Ehrenbürger des Kantons Thurgau. Dass der französische Kaiser zur gleichen Zeit sein Schloss Arenenberg im Thurgau besuchte, als Ludwig II. die Innerschweiz bereiste, war wohl ein Zufall.
Im Fall des Bayernkönigs zauderte die Urner Regierung. Da reichten am 5. März 1866 zwölf Urner Privatpersonen eine Volksinitiative ein. Sie verlangten: Ludwig sei «in Anbetracht seiner wahrhaft edeln Gesinnung gegen die Urschweiz und seiner thatsächlich bewiesenen besondern Verehrung unsers Freiheitsbegründers Wilhelm Tell» das Ehrenbürgerrecht von Uri zu verleihen. Unterschrieben war das Gesuch unter anderem von den Bürgler Wirten Franz Epp vom «Tell» und Anton Lauener vom «Adler», vom Politiker Anton Müller und vom Landschaftsmaler Jost Anton Muheim, dessen Bilder der König gekauft hatte – die Initianten waren also allesamt Profiteure Ludwigs. Sie hofften darauf, dass der Bayernkönig, der bekanntermassen mit offener Geldschatulle herumreiste, als Ehrenbürger wiederkehrte und auch in Uri viel Geld liegen lasse.
Doch bevor die Landsgemeinde im Mai das Begehren behandeln konnte, schritt Bundesrat Jakob Dubs ein: Ausländer dürften nur ein Ehrenbürgerrecht erhalten, wenn sie auf ihr eigenes Bürgerrecht verzichteten – wir wissen es bereits vom Schwedenkönig Gustav IV. Adolf und von Napoleon III. Doch ein Bayernkönig, der auf das Bürgerrecht seines Landes verzichtete, war undenkbar, sodass die Urner das Volksbegehren nach der Intervention aus Bern zurückzogen.
«Rex legibus absolutus est – Der König ist frei vom Gesetz.»
Lateinische Redewendung
Ludwig II., der Bayernkönig, blieb der Innerschweiz dennoch verbunden. Mit dazu beigetragen hat eine weitere Episode aus der Innerschweiz, welche die Dienstbarkeit der Bevölkerung beweist. Nachts um drei Uhr klopfte ein berittener Bote an die Türen des «Weissen Rössli» in Brunnen. Die verschlafene Wirtin Nanette Fassbind öffnete und erfuhr, dass der Bayernkönig sofort köstlichen Apfelkuchen wünsche, von dem er bereits ein Stück gegessen hatte. Die verschlafene Wirtin buk mitten in der Nacht tapfer den gewünschten Apfelkuchen. Der König wusste es zu schätzen und sandte Nanette Fassbind später kostbares Porzellan aus der Nymphenburger Manufaktur, das in der Familie Fassbind bis heute in Ehren gehalten wird.
Kommen wir zurück zu Ludwigs Reise mit dem aufstrebenden Schauspieler Kainz im Jahr 1881. König Ludwig II. macht zu dieser Zeit die Nacht zum Tag. Das bedeutet, dass er abends um 18 Uhr aufsteht und zuerst warm badet. Danach frühstückt er und beginnt, seine Regierungsgeschäfte zu erledigen. Nachts zwischen ein und zwei Uhr pflegt er zu dinieren, wobei er als leidenschaftlicher Esser gerne acht bis neun Gänge vertilgt. Das Abendessen folgt zwischen sechs und sieben Uhr, bis er dann gegen acht Uhr in der Früh zu Bett geht. Sein Vorbild ist Ludwig XIV., der Sonnenkönig; er selbst ist nun gewissermassen der Mondkönig.
Dem bemerkenswerten Tagesablauf entsprechend soll Joseph Kainz rund um die Uhr zur Verfügung stehen, um ihm Verse theatral vorzutragen. Das Dampfschiff Waldstätter hat Ludwig eigens für sich gemietet, übrigens zum horrend hohen Preis von 600 Franken pro Tag, was einem heutigen Geldwert von rund 9000 Franken entspricht! Die «Waldstätter» muss jederzeit zum Abfahren bereit sein, also beheizen die Matrosen die Dampfkessel Tag und Nacht.
14 Alphörner auf beiden Seeseiten
Mit Vorliebe nachts, bei Mondschein, lässt sich der Monarch über den glitzernden Vierwaldstättersee fahren, die Landschaft auf sich einwirkend, während Joseph Kainz aus Schillers Epos «Tell» rezitiert. Dazu lässt Ludwig 14 Alphornbläser an beiden Uferseiten des Urnersees aufspielen, was die international angereisten Kurgäste aus dem Schlaf reisst und ärgert. Dem wunderlichen König ist das egal – in dieser Szenerie wird für ihn alles eins: Natur, Technik, Musik, Dichtung und Theater. Die Berglandschaft und der See verbinden sich mit dem technischen Fortschritt in Form der Dampfmaschine; Schillers Dichtung verschmilzt mit den Alphornklängen und der Schauspielkunst von Joseph Kainz. Solche Erlebnisse berühren Ludwig tief, er fühlt sich als Kunstkönig, als Fürst der Schönheit, als Monarch der Poesie.
In den letzten Jahren hat er sich nach zwei Kriegen und der Einverleibung seines Landes Bayern ins deutsche Reich mehr und mehr von der Politik verabschiedet und ins Private und in die Träumerei geflüchtet. Er war zum unnahbaren und menschenscheuen König geworden.
Aber inmitten dieser Alpenwelt öffnet er sich und spricht zum Beispiel ungezwungen mit dem Gärtner seines Gastgebers Adelrich Benziger, der ihm schmeichelt: Sollten die Schweizer jemals einen König erküren, dann müsste er so sein wie Ludwig! Auch mit Förster Michael Aschwanden, der Ludwig jeweils mit der Sturmlaterne schwenkend beim Landesteg des Rütlis empfängt, sitzt Ludwig stundenlang auf einer einfachen Sitzbank und unterhält sich angeregt.
Sein Intimus Kainz soll, so der Wunsch des Königs, demnächst in München in Schillers «Tell» die Rolle des Arnold von Melchtal übernehmen. Um sich darauf vorzubereiten, schlägt Ludwig vor, müsse Kainz zu Fuss den Surenenpass bezwingen und danach von Engelberg über den Jochpass ins Melchtal wandern – wie es Arnold von Melchtal im Theaterstück tut. Kainz macht sich gehorsam mit einem Bergführer und ausreichend Moselwein, Champagner und Proviant auf, aber er kommt nicht weit. Die steilen Hänge hinter Attinghausen sind für den ungeübten Flachlandbewohner zu viel. Kainz kann nicht mehr, bricht die Bergexpedition ab und reist per Schiff und Wagen zurück nach Stansstad. Ludwig hingegen wartet im Melchtal vergeblich auf die Ankunft Kainz’ und ist bodenlos von ihm enttäuscht. Als Ludwig den Schauspieler nach dessen Rückkehr fragt, wie es auf dem Pass gewesen sei, antwortet dieser knapp, aber unhöfisch ehrlich: «Scheusslich!»
Ludwig hat – einmal mehr – Schauspiel und Realität miteinander verwechselt.
Am selben Abend fährt die Gesellschaft wieder zum Rütli, doch der völlig übermüdete Kainz schläft auf dem Dampfschiff ein. Ludwig deckt den jungen Mann mit seinem eigenen Mantel zu und steht lange und in Gedanken versunken vor dem schlafenden Jüngling, dessen Gesicht vom Mond beschienen wird. Als Kainz erwacht, meint Ludwig, wohl um andere Fantasien zu verscheuchen: «Sie haben aber geschnarcht.»
Nur wenig später kommt es zum Bruch zwischen den beiden. Wieder sind der König und der Schauspieler nachts zum Rütli gefahren, wo Kainz aus Schillers «Tell» die Szene mit Arnold von Melchtal deklamieren soll. Doch Kainz ist der königlichen Anwandlungen allmählich überdrüssig, setzt sich ins Gras und steht angesichts der nächtlichen Stunde dazu, einfach zu müde zu sein. Der König ist sich solchen Ungehorsam eines Untertanen nicht gewohnt.
Er bittet nochmals, fordert und befiehlt. Doch Kainz bleibt sitzen. Daraufhin steht Ludwig langsam auf. Es wird berichtet, er habe feuchte Augen gehabt und sei, ohne sich auch nur ein Mal umzudrehen, zur Landestelle hinabgeschritten und mit dem Dampfer nach Brunnen gefahren. Kainz dagegen gelangt erst morgens um vier Uhr mit einem kleinen Boot nach Brunnen. Als er am Nachmittag erwacht, hat der König die Villa Gutenberg bereits verlassen und ist nach Luzern abgereist.
Die zwei vielsagenden Fotografien
Kainz reist hinterher, will sich mit seinem Monarchen aussprechen und sich bei ihm entschuldigen. Doch der lässt ihn mit einem knappen «Ist schon gut!» abblitzen.
Trotz dieses unschönen Vorfalls nimmt Ludwig den jungen Schauspieler mit zu einem Fotografen in Luzern. Dabei entstehen bemerkenswerte Aufnahmen. Ludwig trägt, obwohl es Juli und im Fotoatelier sehr warm ist, seinen langen Wintermantel. Damit will er, der sehr eitel und wirkungsbewusst ist, wahrscheinlich seinen etwas aus der Form geratenen Körper kaschieren. Die zwei überlieferten Fotografien widersprechen den höfischen Gepflogenheiten: Dass Ludwig auf dem ersten Bild steht und Kainz sitzt, ist ebenso unschicklich wie die umgekehrte Anordnung auf dem zweiten Bild. Dass Kainz seine Hand auf die Schulter des sitzenden Königs legt, ist sogar dermassen unangebracht, dass das Foto später retuschiert wird: Kainz’ Arm radiert man aus, eine Massnahme, die im Zeitalter vor den Bildbearbeitungsprogrammen allerdings sichtbar bleibt.
Nicht ausradiert werden können die Verletzungen, welche die 17-tägige Schweizreise bei beiden hinterlässt. Nach dieser gemeinsamen Reise empfängt der König seinen einst so verehrten Joseph Kainz nie wieder. Auch auf der Bühne will er ihn nicht mehr sehen. Im November 1881 lässt Ludwig sogar eine Vorstellung absagen, nachdem er auf dem Programmzettel den Namen Joseph Kainz gelesen hat.
«Wie ein Traum», schrieb Ludwig, sei die Schweizreise gewesen, «ein Traum, gewoben aus freudigen und gegenteiligen Eindrücken.» Kainz dagegen beeilte sich zu betonen, dass er sich in der Gegenwart des Königs «auch nicht einen Augenblick» wohlgefühlt habe. Er wurde nach der Schweizreise zuerst in München, dann in Berlin Publikumsliebling in den Theatern. Ludwig starb fünf Jahre nach der Reise.
Der Bayernkönig blieb «ein ewig Rätsel».
Blaues Blut. Royale Geschichten aus der Schweiz», Michael van Orsouw, Verlag Hier und Jetzt, 2019, CHF 39.–. www.hierundjetzt.ch