31. Gewählt und gefeiert Aus «Politiker wider Willen»

Mittwoch, 11. Dezember. Frau Pilet-Golaz schreibt ihrem Mann:

Versehen mit der zu selten geöffneten Bibel von unserer Hochzeit, habe ich gestern allein in meiner Wohnung gelernt zu sagen: Dein Wille geschehe, nicht der unsrige; ich lege unser Schicksal in Seine Hände. Ich bin sehr nahe bei dir, mein chéri, mein Alles, mein Leben. In Gedanken bin ich in diesen über alles mühsamen Stunden des Wartens ständig bei dir. Am Donnerstag, was auch immer das Resultat sein wird, und vor allem, wenn du Kummer haben solltest, wirst du deine liebende, anschmiegsame petite Tillon von immer wiederfinden. Wie abgemacht nehme ich den 3-Uhr-Zug.

Ein düsterer, feuchter Dezembermorgen. Lange Zuschauerreihen vor den Treppen zu den öffentlichen Tribünen. Seit Tagen hat man sich um Karten bemüht, um an dem denkwürdigen Anlass dabei sein zu können. Sie sind aus allen Ecken und Enden der Waadt hergereist: die von den Abhängen des Lavaux, die aus der Broye, die aus Lausanne, die aus Bex, gar ein Combier, wie die Bewohner des Vallée de Joux heissen, der es aus den Schneewächten des Mollendruz bis nach Bern geschafft hat, und natürlich eine vom Präfekten lui-mème würdig angeführte Delegation aus Cossonay, der «Wiege unseres Kandidaten». Die Tore zur Diplomatentribüne öffnen sich. Schöne, in Silberfuchspelze gehüllte Damen rauschen herein. Herren mit der blasierten Miene, die ihrem hohen Berufsstand angemessen ist, nehmen Platz.

Die Wahlen sind eröffnet. Mit Rekordzahlen schneiden die drei ersten zur Wiederwahl anstehenden populären Bundesräte Motta (177 Stimmen), Schulthess (184) und Haab (183) ab. Die bürgerlichen Fraktionen zeigen Geschlossenheit. Gut, aber etwas weniger gut, sind die Resultate Scheurers, der das undankbare Militärdepartement leitet (151 Stimmen), des «Sparvogts» Musy (152) und des volkstümlichen Thurgauers Häberlin (160), dem viele Linke immer noch die Lex Häberlin, das vom Volk abgelehnte Staatssicherheitsgesetz, nachtragen.

Die von Wahlgang zu Wahlgang steigenden Stimmenzahlen für den von den drei Mitgliedern der «sozialpolitischen Gruppe» inoffiziell vorgeschlagenen parteilosen Genfer Nationalrat Professor Paul Logoz lösen Getuschel und Heiterkeit aus: 3, 7, 8, 20, 35, 38. Logoz hat als hervorragender juristischer Lehrer, Rechtsberater des Bundesrats und als perfekter Bilingue in der Deutschschweiz einen guten Ruf. Die wachsende Stimmenzahl für Logoz wird im Saal als eine schlau geplante Störaktion aufgefasst.

Die Sozialisten wollen einen Bandwagon-Effekt erzeugen. Sie hoffen, dass im 7. Wahlgang – der Ersatzwahl Chuard – auch viele Bürgerliche Logoz ihre Stimme geben werden. So möchten die Sozialisten die Kandidatur Pilet zu Fall bringen. Eigentlich ist die wilde Kandidatur Logoz politisch wenig sinnvoll. Hätte sie nämlich Erfolg, würde die Linke einen mit korporatistischen Ideen liebäugelnden Vertreter der Rechten in die Regierung hieven. Hauptsache für die Sozialdemokraten, die antisozialistischen Waadtländer Radikalen kriegen eins aufs Dach.

Nachdem jedoch am Vortag Logoz – nach einigem Zögern – erklärt hat, er stehe nicht zur Verfügung, ist das Manöver zum Scheitern verurteilt. Als im Saal das Ergebnis für die Wahl Musys bekannt gegeben wird, bei der 35 Stimmen auf Logoz entfielen, erhebt sich der Professor von seiner Bank, geht zu Pilet und drückt diesem die Hand. «Eine sehr schöne Geste», lobt die Revue. 

Die Sache ist gelaufen. Pilet erhält 151 Stimmen, Logoz 66, verschiedene 7. Bei der Verkündigung des Resultats brechen Bravo-Rufe aus. Pilet verlangt das Wort. Schweigen erfüllt den Saal. «Langsam und fest, mit beherrschtem Gefühl, das jedes Wort vibrieren lässt, hält er eine kurze Rede, wie er dies so gut zu tun versteht: vollständig, kein Wort zu viel, ohne falsche Theatralik und ohne Tamtam.» Neuer Applaus. Ein Weibel schmückt das Pult des Gewählten mit einem Blumenstrauss in den Schweizer Farben, der von einem grünweissen Band zusammengehalten wird – eine Hommage der Waadtländer Ratskollegen.

Zeit zum Feiern. Zuerst geht es zu einem Ehren-Déjeuner ins Bahnhofbuffet Bern. Glückwünsche des Waadtländer Regierungspräsidenten im Namen des in corpore angereisten Staatsrats. Eine Zürcher Delegation mit dem neu gewählten Bundespräsidenten Haab gesellt sich zu den Waadtländern. Liebenswürdige Worte werden gewechselt.

Am Freitag besteigt Marcel Pilet-Golaz gegen 17 Uhr den Sonderzug. Die Gazette:

Auf den ersten Blick hat man Mühe, ihn unter dem prächtigen grauen Hut zu erkennen, der seit gestern seine legendäre kleine schwarze Kopfbedeckung ersetzt, welche die männlichen und prononcierten Gesichtszüge des Nationalrats derart gut hervorhob und ihn auch für diejenigen, die ihn nur vom Sehen kennen, von Weitem identifizieren liess.

Zwischenhalt in Fribourg, Blumensträusse, Musikdarbietungen, Ansprachen. Marcel Pilet-Golaz trinkt «auf die Freundschaft unserer beiden patries de Fribourg et de Vaud». In Romont – zweiter Zwischenhalt – erinnert der im benachbarten Cossonay geborene neue Bundesrat, dass ein Jean de Cossonay «eure Kirche erbaut hat» und erhebt das Glas aufs Wohl der Stadt. In Oron spricht Pilet vom Schmerz, «den ihm die dauerhafte Trennung von der Heimat bereitet». Waadtländerinnen in heimischer Tracht servieren den Wein der Gegend.

Beim Lausanner Bahnhof hat sich eine enorme Menschenmenge auf den Bahnsteig gedrängt: Greise und Kinder, Frauen und Männer aus allen Milieus, eine wahre Synthese des Waadtländer und Lausanner Volkes. Aus der Ferne der Pfiff einer Lokomotive. Fehlalarm. Man wartet weiter: Plötzlich gegen 20 Uhr ertönt Jubel entlang des Perrons. Die Ovation übertönt den schwungvollen Marsch, den die Musik angestimmt hat. M. le conseiller fédéral Pilet-Golaz – er ist sehr bleich – grüsst die Menge. Madame Pilet-Golaz und M. le président Pilet – Papa Edouard – verstecken ihre Gefühle unter einem Lächeln. Grussworte einer Delegation der Bellettriens, die zweifellos nur M. Pilet-Golaz hört, denn sie werden von den Beifallsrufen der feiernden Menge übertönt.

Dann im Saal der XX Kantone der eigentliche Festakt, in dem sich der Kanton Waadt selber zelebriert. Die Liste der Redner, die dem neuen Bundesrat ihre Reverenz erweisen, ist lang. Im Namen der Partei spricht Maillefer, für die Bellettriens Staatsrat Paschoud. Dazwischen spielt die Union Instrumentale – Pilet ist Mitglied – L’Hymne vaudois, Roulez tambours. Kräftig, «aus hundert Brüsten» wird mitgesungen.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

 

Für die persönlichen Freunde von M. Pilet-Golaz, die Kollegen im Grossrat, die Berufskameraden in der Anwaltskammer freut sich Henry Vallotton-Warnery, «dass ein lange gehegter Wunsch in Erfüllung gegangen ist und dass sich eine den Waadtländern liebe Tradition fortsetzt». Andererseits ist er traurig, dass man den geschätzten Kollegen mit seinem charakteristischen schwarzen Béret nicht mehr in Lausanne sehen wird. Mit einer «eloquenten Hommage» würdigt Vallotton Frau Pilet-Golaz, die Tillette seiner Jugend. Er zitiert das Wort von Liszt: «Die liebende Frau ist der Schutzengel ihres Mannes.»

Der Chor Echo du Léman stimmt energisch einen weiteren patriotischen Gesang an, bevor Oberstdivisionär Grosselin an die Rolle erinnert, die Hauptmann Pilet als sein Adjutant bei den Manövern der 1. Division spielte:

Jedes Mal, wenn ich fragte: «Wo ist diese Einheit, diese Unterabteilung?», hat mein Stabschef geantwortet: «Le capitaine Pilet kümmert sich darum.» Und ich war beruhigt.

Marcel Pilet-Golaz beginnt seine Rede – Höhe- und Schlusspunkt der feierlichen Veranstaltung –, indem er seinen Gefühlen Ausdruck gibt – eine Mischung von Glück, Bedauern, Unruhe und Hoffnung. Seine Freude rühre nicht von seiner schmeichelhaften Wahl her. Für den Glanz der Ämter und die Eitelkeit der Titel sei er nicht empfänglich:

In meinen Augen zählt allein die Tat. Wichtig ist allein das Resultat und ich werde mich erst darüber freuen, Bundesrat zu sein, wenn ich es verdient habe.

Die Freude, die er empfinde, beruhe auf der Zuneigung seiner Freunde, ihrer Treue, der Sympathie der Mitbürger und des Vertrauens des Waadtländer Landes. Bedauern?

Dass ich meine Heimaterde verlassen muss, das Land meiner Kindheit, das Land, wo ich eine Familie gegründet habe, wo ich das Glück gekannt habe, eine dieser Waadtländer Frauen zu heiraten, welche die Stützen unserer Häuser, die Flammen unserer Herde, die friedliche Armee der Nation sind.

Vor dem neuen Bundesrat liegt die Fahrt ins Unbekannte. Wie kann er die auf ihn wartende delikate Mission ausführen.

Comment? Wenn ich diese Frage beantworten könnte, wäre ich ein Wohltäter, ein Wunderkind, ein Halbgott. Aber ich bin nur ein armes Menschlein, das wie seinesgleichen hin und her geschüttelt wird.

Pilet warnt vor überstürztem Handeln. Précipitation ist für ihn ein schlimmes Übel, das er zeit seines Lebens anprangern wird:

Voreiliger Fortschritt ist kein Fortschritt. Das ist «Bluff», Sand in die Augen, Schwindel und ich kenne keine verabscheuungswürdigere Politik. Wer ohne Kontrolle und Vorsicht auf Reformen zueilt, geht dem Abgrund entgegen. Aber hier schliesse ich. Ich habe schon zu viel geschwatzt. Ans Werk also alle – Grosse und Kleine, Starke und Schwache –, vereint in gleichem Elan für den materiellen Wohlstand und die moralische Vervollkommnung unseres geliebten Vaterlands.


«Politiker wider Willen»

Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen  Wissens, seiner militärischen Kenntnisse  und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten  Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.


Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany

Beitrag vom 20.04.2025

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