41. Die Schüsse von Genf Aus «Politiker wider Willen»
In Genf, das den Völkerbund und die internationale Abrüstungskonferenz beherbergt, herrscht seit ein paar Jahren ein äusserst angespanntes politisches Klima. Die vom Volkstribun Léon Nicole autoritär geführte Genfer Sozialistische Partei (P.S.G.) situiert sich am äusseren linken Flügel der Schweizer Sozialdemokratie und strebt die proletarische Revolution an. Im Grossrat sind die Sozialisten mit 37 von 100 Abgeordneten die stärkste Fraktion, aber die Regierung ist rein bürgerlich. 1931 erschüttert ein Skandal um die Banque de Genève die Stadt. Als die Bank ihre Schalter schliessen muss, verlieren viele Kleinsparer ihr Geld. Hohe bürgerliche Politiker werden wegen Betrugs unter Anklage gestellt. 1932 zählt die Stadt 8000 Arbeitslose, von denen bloss ein Fünftel versichert ist. Die Wirtschaftslage ist desolat, die Not der kleinen Leute gross.
Im rechten Lager arbeiten die traditionellen bürgerlichen Parteien – die Radikalen und die Demokraten (wie die Liberalen in Genf heissen) – mit der von Georges Oltramare nach faschistischem Muster organisierten Union Nationale zusammen. Wie Léon (Nicole) im linken Lager ist Géo (Spitzname nach seinen Initialen G.O.) eine charismatische Führerpersönlichkeit. Kein aufrüttelnder Redner wie Nicole, aber ein geistreicher Schriftsteller, dessen Komödie Don Juan ou la solitude den Schillerpreis erhielt und der sogar in Paris gespielt wird. In seiner satirischen Zeitschrift Le Pilori (der Pranger) nimmt er Marxisten, Spekulanten, die grossen Warenhäuser und vor allem die Juden aufs Korn. Oltramare hat bei einem Aufenthalt in München die Nazis beobachtet. Seine Stosstruppen marschieren zu Trommeln und Trompeten durch Genfs Gassen. Es kommt zu Schlägereien zwischen den Anhängern Géos und denjenigen Léons.
Am 23. Oktober 1932 erleiden die Sozialisten in der Volksabstimmung über die von ihnen lancierte Steuerinitiative eine überraschende Schlappe. Triumphierend erklärt Oltramare: «Et maintenant passons à l’offensive.» Nicole (ein gebürtiger Waadtländer!) und seine rechte Hand, der wohlhabende Anwalt Dicker (ein Ostjude!) sollen gedemütigt werden. An einer Versammlung im Gemeindesaal von Plainpalais will Oltramare die sozialistischen Führer «les sieurs («Herrschaften») Nicole et Dicker» unter «öffentliche Anklage» stellen.
Die Sozialistische Partei Genfs verlangt ein Verbot der «unerträglichen Provokation», doch der Staatsrat will geschlossene Versammlungen wie bisher erlauben. Die von Nicole geführte Parteizeitung Le Travail fordert zur Massenmobilisation auf: «Die faschistische Canaille versucht in Genf zu wüten … Diese Herren werden Gesprächspartner finden; wir fordern die Genfer Arbeiterklasse auf, sie ohne Schonung zu bekämpfen.» Ein anonymes Flugblatt erteilt die Antwort: «Der ekelhafte Nicoulaz, der Jude Dicker und ihre Clique bereiten den Bürgerkrieg vor. Sie sind die Lakaien der Sowjets. Bringen wir sie zur Strecke! Nieder mit der revolutionären Clique.»
Der Genfer Staatsrat, der gewaltsame Zusammenstösse befürchtet, glaubt die eigenen Ordnungskräfte überfordert und sucht am Morgen des 9. Novembers – dem Tag des geplanten «Tribunals» – um militärische Unterstützung nach. Nach einigem Zögern schickt das Eidgenössische Militärdepartement die einzig kurzfristig verfügbare Truppe nach Genf, die in Lausanne stationierte Rekrutenschule. Gegen Abend versammeln sich ein paar Tausend Demonstranten und Schaulustige in der Umgebung des Gemeindesaals von Plainpalais. Die Polizei hat um das Lokal herum fünf Strassensperren mit Eisenketten errichtet und lässt nur Personen mit Einladungsschreiben der Union Nationale in den Saal.
Auf Geheiss der sozialistischen Führung haben sich Partei- und Vereinsmitglieder gruppenweise in und vor den Cafés der Umgebung versammelt. Mit über 300 Trillerpfeifen, teils auch mit Schlagstöcken und Pfeffersäcklein ausgerüstet, machen sie sich auf den Weg zu den Strassensperren. Als Nicole zurückgehalten wird, hieven ihn kräftige Genossen auf ihre Schultern und der Volkstribun setzt zu einer Brandrede an. Laut dem nicht unbedingt glaubwürdigen Bericht im Journal de Genève soll er geschrien haben:
Was es jetzt braucht, um den Provokationen der Regierung zu begegnen, welche die Gendarmerie, die Polizei und die Armee gegen uns mobilisiert hat, ist die Revolution! Und dies soll nicht bloss eine Genfer Revolution, eine Schweizer Revolution, sondern eine Weltrevolution sein. Genossen! Nieder mit der unter dem Befehl eines Mamelucken stehenden Regierung! Alle auf zur Revolution!
Die Manifestanten marschieren zur Polizeisperre an der Rue de Carouge. Unter dem Druck von Hunderten von Drängenden gibt die Kette nach und die Menge dringt in die Bresche hinein. Mit flachem Säbel jagen die Polizisten die Demonstranten zurück und erstellen die Sperre neu. Sie scheinen Herr der Lage. Doch der vor dem Gemeindesaal postierte Polizeidirektor Frédéric Martin glaubt, es sei nur eine Frage der Zeit, bis die Ordnungskräfte von den Demonstranten überwältigt werden: «Frauen wurden zertrampelt und nach hinten getragen, Gendarmen wurden verletzt und kriegten Pfeffer ins Gesicht.»
Martin ruft das Militär zu Hilfe. Um 21.20 Uhr marschieren 108 Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten aus der Kaserne los und versuchen in Einerkolonne bis zur Sperre zu gelangen. Anfänglich versuchen Manifestanten die Rekruten von ihrer Aufgabe abzulenken oder sie gegen ihre Offiziere aufzubringen: «Komm ein Glas trinken, camarade» – «Gib mir dein Gewehr und deine Munition. Ich will den Major niederknallen.» – «Schiesst auf eure Chefs!»
Als die Soldaten weiter vordringen, werden sie von kleinen Grüppchen misshandelt. Man zerrt ihnen den Helm vom Kopf, schlägt auf sie ein, entreisst ihnen die Karabiner und zerbricht diese auf dem Trottoir. Zwei Demonstranten packen den kommandierenden Oberleutnant Burnat von vorn, zwei von hinten, sie halten ihn am Pistolenriemen, traktieren ihn mit Schlagstöcken und werfen ihn zu Boden. Er ruft um Hilfe und drei seiner Männer befreien ihn mit ihren Gewehrkolben. Die Menge schreit den Soldaten zu: «A la caserne!» Aber statt abzuziehen, stellt sich die Truppe an der Mauer des Palais des Expositions neu auf.
Ungefähr 150 Personen bilden einen Halbkreis um die Soldaten, beschimpfen und bedrohen sie. Ein Hagel von Steinen fällt auf die Truppe nieder. Es ist kalt, die Nacht längst hereingebrochen, der Platz schlecht beleuchtet. Die auf ihre Aufgabe schlecht vorbereiteten und von der Gewaltsamkeit der Menge überraschten Rekruten sind verunsichert, einige haben Todesangst. Sie fragen die Offiziere, ob sie nicht schiessen dürfen. Kompaniekommandant Oblt. Burnat bemerkt zu dem neben ihm stehenden Major Perret. «Ich werde gezwungen sein zu schiessen.» «Nein, warten Sie!» Als die Menge weiter auf die Truppe eindringt, sagt der Oberleutnant: «Diesmal warte ich nicht mehr, ich schiesse.» Major Perret überlegt. Weil von der zur Verstärkung angeforderten 3. Kompanie immer noch nichts zu sehen ist, erwidert er: «Allez-y.»
Der Oberleutnant gibt den Befehl zum Laden. Der Major lässt die Trompeter das Warnsignal blasen, das jedoch keiner kennt, nicht einmal der Oberleutnant. Burnat ruft: «Zurück oder wir schiessen!» Im allgemeinen Lärm hört man nichts. Die Schreie und Pfiffe werden nur noch lauter. Niemand weicht zurück. Der auf einem Taxidach stehende Gewerkschaftsführer Tronchet sieht, wie die Soldaten laden, und ruft: «Genossen, werft euch nieder, sie werden schiessen.» Oberleutnant Burnat befiehlt: «Einen Schuss, niedrig zielen, Feuer!»
Ungefähr 150 Schüsse gehen los, darunter eine Maschinengewehrsalve. Alles dauert 15 Sekunden. Am Boden bleiben 10 Tote liegen, etwa 60 Verletzte, von denen später drei sterben. Die Menge, die geglaubt hatte, es würde mit blinder Munition geschossen, kann es nicht fassen. Leichen, stöhnende Verwundete. Der Anblick im Lampenlicht ist grauenhaft. Es ist 21.34 Uhr. Nach einigem Zögern kehren einige Manifestanten, die zuerst geflüchtet sind, wieder an den Ort des Schreckens zurück: «Sag mal, Oberleutnant, können wir unsere Toten auflesen?»
Als gegen 22 Uhr Staatsrat Martin und seine Begleiter ihren Kommandoposten verlassen, werden aus einem gegenüberliegenden Wohnhaus mehrere Revolverschüsse auf sie abgefeuert. Polizisten durchsuchen das Haus, aber finden keinen Täter. Während Verwundete in nahegelegene Cafés getragen werden, telefoniert Nicole aus einer Kabine einem ihm bekannten sozialistischen Arzt. Sobald die medizinische Versorgung der Opfer organisiert ist, geht der Sozialistenführer heim in seine Wohnung an der Rue Mont-Blanc. Zwischen elf und ein Uhr bespricht ein Grüppchen sozialistischer Führer in Nicoles Wohnung das weitere Vorgehen. Soll ein Generalstreik ausgerufen werden, wie die Kommunisten verlangen? Nicole ist nicht dagegen, will aber zuerst die Zustimmung der Gewerkschaften einholen. Dann schreibt er seinen Bericht über die Geschehnisse des Abends, der am nächsten Nachmittag in Le Travail erscheinen wird.
Um 0.15 Uhr unterzeichnet Justiz- und Polizeidirektor Martin einen Haftbefehl gegen Nicole. Er wirft ihm Anstiftung zum Aufruhr, Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Beamtenbeleidigung vor. Der Staatsrat tritt um 1 Uhr zusammen und billigt einmütig den Haftbefehl gegen Nicole.
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Um 5 Uhr wird Nicole geweckt. Aus Bern ist eine Delegation des Vorstands der SPS eingetroffen: Grimm, Reinhard, Ilg. Seit einiger Zeit ist Nicole mit der pragmatischen nationalen Parteiführung heillos zerstritten. Grimm und Genossen missfällt, dass Nicole die Sowjetführung vorbehaltlos verteidigt, mit den Kommunisten in Genf gemeinsame Sache macht und politische Extratouren unternimmt. Aber angesichts der blutigen Niederschlagung der Demonstration solidarisieren sich die angereisten Sozialistenführer mit ihm. Allerdings raten sie von einem Generalstreik ab.
Motta – er ist Ehrenpräsident der Abrüstungskonferenz – hat die Nacht in Genf verbracht. Von der Schiesserei in Plainpalais hat er nichts mitbekommen. Als er am Morgen davon erfährt, geht er zum Rathaus und lässt sich vom Regierungsrat den Hergang der Ereignisse erzählen. Er reist nach Bern zurück und erstattet dem Bundesrat Bericht:
Zahlreiche Rekruten wurden in die Menge hineingerissen und geschlagen, vielen wurden die Waffen entrissen und unbrauchbar gemacht. Auch ein leichtes Maschinengewehr wurde vernichtet. Schliesslich blieb der in die Notwehr gedrängten Truppe nichts anderes übrig, als nach vorschriftsgemässer Verwarnung und Abgabe der Trompetensignale auf die Menge scharf zu schiessen, wobei es 10 Tote und circa 40 Schwerverletzte gab.
Die bürgerlichen Genfer Zeitungen sind auch der Ansicht, dass die Armee aus berechtigter Notwehr gehandelt hat. Für sie gibt es einen Schuldigen an der Tragödie: Léon Nicole. «Genug!», lautet der Titel von René Payots Leitartikel im Journal de Genève. Nicole, so Payot, hat den Aufruhr provoziert.
Nicole wollte sich zum Herrn der Strasse machen. Dieser düstere Agitator nahm eine Versammlung zum Vorwand, um eine Politik anzuwenden, die er seit Jahren in seiner Zeitung vertritt. Er dachte, der Moment sei gekommen, um zur Tat zu schreiten, um die Früchte seiner unablässigen Scharfmacherei zu pflücken … Wenn man die Revolution predigt, ist man gezwungen, sie auszulösen, wenn man die Stimmung seiner Truppen anheizt, entfesselt man sie schliesslich.
Payot verlangt, dass sofortige Sanktionen gegen die grossen Verantwortlichen für diesen tragischen Abend ergriffen werden. Nicole und seine kommunistischen Freunde hätten Leichen auf dem Gewissen. Nicole muss ausserstand gesetzt werden zu schaden.
Nicole ist im Bad, als um 10 Uhr Inspektor Flotron und seine Polizisten in seiner Wohnung erscheinen, um ihn zu verhaften. Vor dem Untersuchungsrichter bestreitet Nicole ausdrücklich, dass er versucht habe, einen Aufruhr zu provozieren. Im Gegenteil, er habe den Demonstranten abgeraten, Waffen mitzubringen:
Ich erkläre, dass es eine Beleidigung meiner ganzen bisherigen politischen Karriere wäre, mich dafür fähig zu halten, dass ich gestern versucht habe, die Regierung zu stürzen. Folglich ist die Anklage, die Sicherheit des Staates gefährdet zu haben, eine wahre Niedertracht.
Die Genfer Ereignisse sind die grösste Zerreissprobe für die Eidgenossenschaft seit dem Generalstreik von 1918. Die Emotionen gehen hoch. In der Dezembersession wird hitzig über die tragischen Vorfälle gestritten. Die bürgerliche Mehrheit und die Rechtspresse teilen die Einschätzung der Genfer Regierung: Es war ein von Nicole angestifteter Umsturzversuch, ein «Putsch», wie die NZZ schreibt. Fritz Joss, BGB Bern, fordert gesetzliche Massnahmen gegen die linken Rädelsführer:
Aus Hunderttausenden von Schweizerherzen ist die Frage an den Bundesrat gerichtet worden, ob denn eigentliche keine Möglichkeit bestehe, dem revolutionären Treiben inländischer und ausländischer Hetzer Einhalt zu gebieten, bevor es zur gewaltsamen Auseinandersetzung kommt, ob keine Möglichkeit besteht, die masslose Schreibart einer aufwieglerischen Presse und die unerhörten Reden gewisser revolutionärer Elemente auf ein vernünftiges Mass zurückzubinden.
Selbst der Waadtländer Pierre Rochat, ein eher zurückhaltender Politiker, verlangt gesetzliche Bestimmungen, um «revolutionäre Bewegungen rechtzeitig zu unterdrücken und überhaupt jede Propaganda zu verhindern, die auf den gewaltsamen Umsturz unserer demokratischen Einrichtungen hinzielt».
Für den gemässigten Genfer Sozialisten Charles Rosselet war es für seine Partei legitim, an dem gegen die «Angeklagten» Nicole und Dicker ausgerufenen sogenannten Tribunal ihr Recht auf Verteidigung wahrzunehmen. Deshalb hätten die Sozialisten beschlossen, an der Versammlung teilzunehmen, um dort ihre Meinung zu sagen. Den bürgerlichen Nationalräten ruft Rosselet zu: «Sie hätten dasselbe getan, wenn sie in eine ähnliche Lage versetzt worden wären.»
Die Schläger der Union Nationale, so Rosselet weiter, seien mit Gummiknüppeln bewaffnet gewesen und mit 144 Büchsen, die übel riechende chemische Substanzen enthielten, wie sie in Deutschland von den Hitlerianern verwendet würden. Auch einige Arbeiter hätten Knüppel und Pfeffer mitgebracht, aber man habe bei ihnen keine Waffen gefunden. Wären die Demonstranten bewaffnet gewesen, hätte es auch bei den Truppen Tote gegeben und nicht nur Leichtverletzte. Den Rekruten macht Rosselet keine Vorwürfe: «Diese jungen Leute hatten keine Vorbereitung für die Aufgabe, die man ihnen erteilt hatte.»
Wenn nur noch die offizielle Wahrheit gälte und niemand mehr das Recht hätte, an ihr zu rühren, was wäre dann? Rosselet:
Aber ihr seid ja ungewollte Bolschewisten! (Lachen und Bewegung im Saal.) Ihr seid ungewollte Russen und ihr praktiziert genau dasselbe wie am andern Ende Europas das sowjetische Russland oder über den Alpen das faschistische Italien.
Die bürgerliche Mehrheit hat kein Gehör für Rosselets Argumente. Scharfe Notmassnahmen müssen her, und zwar sofort! Bundesrat Häberlin, der als Justizminister, das stürmisch geforderte Bundesgesetz zum Schutz der öffentlichen Ordnung ausarbeiten soll, ist in keiner beneidenswerten Lage. Für das schweizerische Strafrecht, an dem seit dem vorigen Jahrhundert gearbeitet wird und dessen Zustandekommen er als sein Lebenswerk betrachtet, braucht Häberlin die Unterstützung der Arbeiterschaft und der Sozialdemokratie. Jetzt will er diese Unterstützung nicht durch einen dringlichen Bundesbeschluss gefährden. Folglich muss er die «Stürmi» im eigenen Lager zurückhalten und auf Zeit spielen. Am 20. Dezember notiert er in sein Tagebuch:
Die Genferei plätschert weiter, Vallotton wird etwas ausfällig mit seinem oui ou non, ich antworte deshalb auch etwas bissiger, als ich es sonst getan hätte. Mit Stähli, Schüpbach und Walther [den drei bürgerlichen Fraktionsführern] einige ich mich auf einen von mir suggerierten Zwitter von Motion und Postulat, worin wir zu einem Bericht auf die nächste Session eingeladen werden. Den starken Mann zu spielen, lehne ich ab.
Da man Häberlin mangelnde Entschlossenheit im Kampf gegen die Linke vorwirft, erklärt er im Nationalrat:
Man hat die Worte Schwäche und Mangel an Mut gebraucht. Mit diesen Worten wird recht viel Unfug getrieben. Braucht es mehr Mut sich von der Leidenschaft tragen zu lassen, von der Aufwallung der öffentlichen Meinung und ihr sofort nachzugeben oder braucht es nicht viel mehr Mut, in einem solchen Moment der Leidenschaft, die man an sich sehr wohl versteht, Raum und Zeit für besonnene Überlegung zu verlangen? Der starke Mann ist der, welcher seine Besonnenheit nie verliert.
Was denkt der mit Häberlin befreundete Pilet? Kann er die Genfer Vorfälle anders beurteilen als seine Waadtländer Parteikollegen? Denkt er anders als sein Freund Vallotton der schon im November vor dem Waadtländer Grossen Rat ausgerufen hat:
Heute, wo wir Frieden brauchen, sät man Unruhe und Revolution! Suchen wir jetzt die Urheber der Revolution! Es sind die Kommunisten unter dem Befehl von Moskau. Allen voran Léon Nicole, der die welsche Schweiz vergiftet. Wir erröten, wenn wir daran denken, dass er Waadtländer ist.
Das Protokoll der Bundesratssitzung vom 5. Dezember gibt Aufschluss über Pilets Einschätzung der Genfer Ereignisse. Im Interesse der vor einer katastrophalen Auftragslage stehenden Schweizer Maschinenindustrie schlägt Schulthess die Aufnahme von Handelsgesprächen mit der Sowjetunion vor. Häberlin, Minger, Meyer und Motta sind dafür, die beiden Welschen, Musy und Pilet, dagegen. Für Pilet ist es eine Frage der Moral: «Zweifellos werden wir Russland nicht ewig ignorieren können. Aber man darf Russland nicht mit den Sowjets verwechseln.» Nur um unmittelbarer materieller Vorteile willen, dürfe man das Land nicht «der revolutionären Tätigkeit aussetzen, die die sowjetische Regierung unter dem Deckmantel der III. Internationale methodisch auf der Welt» verfolge:
Im Übrigen ist der Moment, um sich Moskau anzunähern, denkbar schlecht gewählt. Als Folge der [Genfer] Ereignisse des letzten Monats, deren Ursprung klar auf die Sowjets zurückgeht, werden wir in der Tat gezwungen sein, vom Volk energische Massnahmen zu verlangen, um Unruhen zu verhindern. Unser Volk sieht ein, dass dies eine Notwendigkeit ist, es ist gewillt, uns zu vertrauen.
Pilets Glaube, dass der Ursprung der Genfer Unruhen «klar auf die Sowjets zurückgeht», wird durch keine Fakten erhärtet. Er wiederholt bloss, was die bürgerlichen welschen Zeitungen, andere welsche Politiker und Freund Vallotton behauptet haben.
Nach Wiederaufnahme der Sitzung sagt der Direktor der Handelsabteilung Walter Stucki, dass es bei den Gesprächen in Berlin um rein technische Fragen gehen werde. Keine Anerkennung der sowjetischen Regierung sei vorgesehen. Darauf ändert Pilet seine Meinung und pflichtet dem Vorschlag zur Aufnahme direkter Besprechungen mit der russischen Handelsvertretung bei.
- Jeweils sonntags wird der Roman «Politiker wider Willen. Schöngeist und Pflichtmensch» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
- Fotos und Dokumente zum Buch
- Diese Kapitel sind bereits erschienen
«Politiker wider Willen»
Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen Wissens, seiner militärischen Kenntnisse und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.
«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.
Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch
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Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany